Rams unorthodox zum Super Bowl? Der riskanteste Plan der NFL-Geschichte
30.01.2022, 08:14 Uhr
Die Rams sind auf einer Mission.
(Foto: picture alliance / Newscom)
Geht heute Nacht der absurde Plan tatsächlich auf: Die Los Angeles Rams bauen sich ein Superteam entgegen jeder gewohnten Strategie in der NFL auf. Das birgt unglaublich große Risiken - denn es heißt: Titel oder Blamage.
Es war wohl das verrückteste und beste Wochenende der National Football League in den USA. Spektakel. Drama. Jubel und Tränen nah beieinander. Mittendrin: die Los Angeles Rams mit ihrem überraschenden Sieg über die Tampa Bay Buccaneers und Tom Brady, den erfolgreichsten (und wohl besten) Quarterback aller Zeiten.
Fast das ganze Spiel über am vergangenen Wochenende sah es so aus, als würden die Rams dem Titelverteidiger eine deutliche Heimklatsche zufügen. LA führte nach der Hälfte des dritten Viertels mit 27:3, und Brady hatte ordentlich Mühe, in der Offensive auch nur einen Hauch von Gefahr zu entfalten. Es schien, als hätten die Rams also alles richtig gemacht vor und während der aktuellen Spielzeit mit ihrem absurden Plan.
Denn Woche für Woche - so schien es - verschenkte LA seit ein paar Jahren ihre Zukunft. Sich nach dem üblichen, alten Schema langsam und methodisch durch junge Draft-Picks und geschickte Trades über Jahre zu einem Meisterschaftsaspiranten aufbauen? Nicht mit den Rams! Sie suchten gute und fähige Spieler in ihrem besten Alter. Und sie wollten sie jetzt und sofort und holten sie immer wieder im Tausch gegen zukünftige Draft-Picks an Bord. Der Plan hinter dieser für die NFL radikalen und unorthodoxen Methodik: Den Super Bowl in diesem Jahr gewinnen. In Los Angeles. Der Heimatstadt der Rams. Zum ersten Mal in der Geschichte der Franchise. Win-now nennen die Amerikaner diese Mentalität.
Rams gehen "all in"
"Ich liebe Furchtlosigkeit und Aggressivität, und dieser Ansatz und diese Philosophie haben sich ständig weiterentwickelt", sagt dazu Sean McVay, der 2017 mit 31 Jahren als jüngster Headcoach der NFL-Geschichte bei den Rams installiert wurde. Sein Team scherte sich nicht um den Standard Modus Operandi und tauschte lieber wertvolle Picks für etablierte Spieler in ihrer Blütezeit ein, als sich auf ein paar College-Kids einzulassen, die sich als Reinfälle entpuppen könnten. Es setzte alles auf eine Karte, oder wie die US-Welt des Sports sagt, ging "all in". Super-Bowl-Titel oder Blamage. Championship or bust.
Eine Pleite wurde es fast schon gegen die Buccaneers, denn Tom Brady ist Tom Brady. Und so stand es nach mehreren Rams-Fehlern 42 Sekunden vor Schluss auf einmal 27:27. Das Raymond James Stadium in Tampa bebte, das Momentum in der Verlängerung wäre klar auf der Seite der Bucs gewesen. Die gesamte Saison der Rams, ihr absurder und riskanter Plan drohten zu scheitern.
Aber, und genau das war eben die Intention des Plans, das Team wurde gebaut für eben solche Momente. Für das Hier und Jetzt. Mit erfahrenen Spieler und verlässlichen Veteranen. Für die Siege in großen Spielen. Quarterback Matthew Stafford fand seinen besten Passempfänger, Cooper Kupp, mit aufeinanderfolgenden Pässen für 20 und 44 Yards, Kicker Matt Gay sorgte mit einem 30-Yard-Field-Goal für den 30:27-Sieg in der allerletzten Sekunde.
Stafford zeigt, dass er es draufhat
Die letzte Minute der Partie gegen Brady und die Buccaneers war fast schon absurd. Und deshalb passte sie so gut zu den LA Rams. Ihr Win-Now-Plan ist genauso wahn- wie irrwitzig. Eigentlich. Denn er könnte tatsächlich aufgehen. Staffords Team surft auf einer Siegeswelle und verfügt über den Schwung, der Tampa Bay im letzten Jahr zum Super Bowl getragen hat, damals - genau - in Bradys Heimstadion.
Damit der Plan wirklich funktioniert - so ist das Spiel des American Footballs konzipiert - muss vor allem der Quarterback funktionieren. Jahrelang war Stafford nach Niederlagen mit den Detroit Lions kritisiert worden, nun hat er die Los Angeles Rams geschultert und sich die Teilnahme am Conference Title Game verdient. Niemand kann mehr behaupten, er sei kein Quarterback für große Spiele. Während er zu Beginn seiner Amtszeit in LA noch ohne einen einzigen Playoff-Sieg dastand, hat er jetzt zwei auf dem Konto. Und die Rams gewinnen ihre Playoff-Spiele nicht einfach, sondern Stafford spielt außerordentlich gut: 75 Prozent seiner Pässe fanden für 568 Yards ihre Ziele, vier Touchdowns warf er und zwei Touchdowns erlief er selbst.
Dass Stafford überhaupt bei den Rams spielt, ist auch ein wichtiges Mosaiksteinchen ihrer aggressiven Mentalität. Eigentlich hatte LA in Jared Goff diesen jungen, spielstarken Quarterback - er wurde schließlich 2018 der jüngste NFC-Champion-Quarterback in der Ligageschichte -, mit dem viele Teams versuchen, eine Ära zu prägen, indem sie ihm klug ausgewählte Draft-Picks an die Seite stellen. Doch irgendwann fiel Goffs Spiel extrem ab und die Rams tauschten den Youngster und zwei Draft-Picks gegen Stafford aus Detroit - einen NFL-Veteranen mit zwölf Jahren Erfahrung, aber ohne Playoff-Sieg auf dem Buckel.
Funktioniert Odell Beckham Jr.?
Im vergangenen November gaben die Rams dann noch einen Zweit- und Drittrunden-Pick ab, um den renommierten Pass-Rusher Von Miller von den Broncos zu holen. Für jede andere Franchise wäre dies ein völlig wahnwitziger Schritt gewesen: zwei wertvolle Draft-Picks und als Gegenleistung ein Veteran, der nur einen Vertrag bis zum Ende dieser Saison besitzt. Also für maximal zehn Spiele kommt. Doch anstatt mit jungen Spielern auf Jahre eine Zukunft aufzubauen, will LA in LA gewinnen.
Die zwei Hauptgründe, die NFL-Profis dazu bewegen, zu einem Team zu wechseln, lauten: das Geld und die Chance, den Super Bowl zu gewinnen. Weil letzteres durchaus Formen annahm, schloss sich kurz nach Miller auch Odell Beckham Jr. den Rams an. Dem erfahrenen und extravaganten Wide Receiver ohne Super-Bowl-Ring lastet das Narrativ des Teamzerstörers seit seiner Zeit bei den New York Giants an. Sein kompliziertes Intermezzo bei den Cleveland Browns verstärkte solche Vorurteile zusätzlich. Aber McVay und sein Team wussten, dass OBJ immer noch ein Unterschiedsspieler sein kann und er zeigt sich seitdem als eine wichtige Ergänzung zu Cooper Kupp.
Tatsächlich ist Kupp so etwas wie die Antithese zur Strategie der Rams. Er wurde 2017 weit hinten im Draft, erst in der dritten Runde, gezogen, schon in der Highschool wollte ihn kaum ein College haben. Doch der Wide Receiver übertraf alle Erwartungen und dieses Jahr führte er die NFL in der regulären Saison bei den gefangenen Pässen (145), Yards (1.947) und Touchdowns (16) an. Dabei stellte er fast einen Allzeit-Rekord auf und wurde mancherorts sogar als MVP-Kandidat betrachtet.
Ausgerechnet die 49ers
Während Kupp den Rams noch länger erhalten bleiben dürfte, gilt das nicht für den Rest des Teams, das eben genau für dieses Jahr gebaut wurde. In der NFL gibt es eine feste Gehaltsobergrenze und Los Angeles wird laut "OvertheCap.com" das nächste NFL-Jahr mit 5.150.928 Dollar über eben jenem Limit beginnen. Das bedeutet, dass sie nach dieser Saison Gehälter in dieser Höhe abwerfen müssen, um überhaupt kostendeckend funktionieren zu können und um in der Lage zu sein, neue Verträge mit Free Agents oder Draft Picks im kommenden Draft auszuhandeln.
Das bedeutet, dass Spieler entlassen werden. Und weil in den nächsten Jahren kaum Draft-Picks für Verbesserungen vorhanden sind, ist klar: Das Zeitfenster, um den Super Bowl zu gewinnen, ist jetzt offen. Nach dieser Saison so schnell nicht wieder. "Wir leben nur einmal, also lebe nicht ängstlich", sagte Rams-Geschäftsführer Les Snead schon 2019. "Aber du spielst nicht für ein Unentschieden. Du versuchst zu gewinnen."
Mit einem ebenso aggressiven wie unorthodoxen Ansatz hat Los Angeles eine Fülle etablierter Stars geholt, die die Rams zu einem der erfolgreichsten Teams der NFL geformt haben. Im Spiel um die Conference Championship warten nun die San Francisco 49ers (0.30 Uhr in der Nacht auf Montag/Pro7 und DAZN), die sich mitten in einem Aschenputtel-ähnlichen Lauf befinden. Es geht um alles für die Rams und ihren irren Plan - championship or bust - samt Hollywood-Ende. Ausgerechnet gegen das Team, gegen das sie die vergangenen sechs Spiele verloren haben.
Quelle: ntv.de