Sport

Letzte Chance für Culcay Deutschlands unvollendeter Boxstar greift nach der Krone

Jack Culcay kämpft am Samstag um den WM-Titel.

Jack Culcay kämpft am Samstag um den WM-Titel.

(Foto: IMAGO/Torsten Helmke)

Es war kein leichter Weg: Auf der Zielgeraden seiner Karriere bekommt Boxprofi Jack Culcay nach Jahren des Wartens noch einmal eine WM-Chance. Am Samstag kämpft der Altmeister in Falkensee bei Berlin gegen den Russen Bakhram Murtazaliev um den IBF-Titel im Halbmittelgewicht.

Es gibt diese Tage, die ein ganzes Leben verändern. Jack Culcay ist zwölf Jahre alt, als dieser Tag im Jahr 1997 kommt - und eigentlich begeisterter Fußballer. Bis er mit seinem Vater den vier Jahren älteren Bruder vom Boxtraining bei der TG 1875 Darmstadt abholt. "Ich bin in die Halle rein und habe gesehen, wie die da trainiert haben: Liegestütze, Seilspringen. Da war ich hin und weg", erzählt der heute 38-Jährige im Interview mit dem Fachmagazin "BOXSPORT".

Culcay riecht den Duft des Gyms und trifft noch am selben Abend eine Entscheidung. "Ich bin nach Hause gekommen und habe die ganzen Fußballsachen in meinem Zimmer, die Poster und all das, von der Wand genommen. Ab da war nur noch Boxen, am nächsten Tag bin ich direkt zum Training." Seither lebt Jack Culcay ein Boxerleben. Ein erfolgreiches. Schon als Amateur liefert Culcay außergewöhnliche Leistungen ab. Im Jahr 2007 wird er bei der WM in Chicago Fünfter, qualifiziert sich für die Olympischen Spiele 2008 in Peking, wo er in der Vorrunde nur knapp am späteren Bronzemedaillengewinner Kim Jung-joo aus Südkorea scheitert.

Der Rückschlag bringt Culcay nicht aus der Spur. Noch im gleichen Jahr gewinnt er bei der EM in Liverpool Silber. 2009 dann die Krönung: In Mailand wird Culcay Amateur-Weltmeister - "Golden Jack" ist geboren. Es folgt der logische Schritt zu den Preisboxern, zunächst bei Universum, später bei Sauerland, damals der Platzhirsch unter den deutschen Promotern. Culcay boxt sich im Halbmittelgewicht Schritt für Schritt nach oben, erobert 2014 die EM-Krone im Limit bis 69,5 Kilogramm.

Culcay fühlte sich bei WM-Verlust verschaukelt

Ein Jahr später erreicht der Goldjunge das erste Etappenziel: Ein deutlicher Punktsieg über Maurice Weber macht Culcay bei der WBA zum "Interims"-Weltmeister. Ein WM-Titel, der dem Deutschen aber nicht die Welt bedeutet. "Ich konnte im Ring meine Emotionen nicht so zeigen, weil ich nicht zufrieden war. Das war zu wenig: Ich bin Interims-Weltmeister geworden, aber nicht richtiger Weltmeister. Das war nicht dieser Moment, wo ich mich feiern konnte", blickt Culcay zurück.

Erst zwei Jahre später stuft ihn der Weltverband zum "regulären" Champion hoch, weil die Funktionäre gleichzeitig den Kubaner Erislandy Lara zum WBA-"Super-Champion" ernennen. Culcays WBA-Regentschaft ist aber schon im März 2017 wieder vorbei. In Ludwigshafen verliert er gegen den hochgehandelten Amerikaner Demetrius Andrade nach zwölf Runden mit 1:2-Richterstimmen, ist bitter enttäuscht - und wittert eine Ungerechtigkeit. "Der war platt. Ich dachte, weil ich Weltmeister bin und Heimvorteil habe, gewinne ich das Ding. Ich habe viele Kämpfe bei Sauerland gesehen, wo andere gewonnen hätten. Da dachte ich: Was ist das denn?! Das geht gar nicht. Da stimmt was nicht."

Starke Auftritte in den USA

Culcay lässt sich dennoch nicht entmutigen, wagt nur sieben Monate nach der umstrittenen Niederlage den Schritt in die USA. Doch auch im Prudential Center von Newark/New Jersey sind die Punktrichter nicht auf seiner Seite. Obwohl er einen guten Teil des WBC-Ausscheidungskampfs gegen Maciej Sulecki bestimmt, den ungeschlagenen Polen in Runde sieben gar mächtig anklingelt, zieht er nach zehn Runden erneut den Kürzeren. Danach ist Schluss bei Sauerland.

"Die haben den Vertrag nach der zweiten Niederlage gekündigt, mir aber direkt wieder einen neuen angeboten", erzählt Culcay. "Aber ich wollte nicht mehr bei Sauerland sein, weil ich mich da nicht mehr wohlgefühlt habe." Im Agon-Stall des boxverrückten Unternehmers Ingo Volckmann findet "Golden Jack" eine neue Heimat. Culcay versucht sein Glück im Mittelgewicht, nach einer knappen Punktniederlage 2019 gegen den starken Ukrainer Sergiy Derevyanchenko in Minneapolis steigt der 1,74-Meter-Athlet aber wieder in die für ihn "natürlichere" Halbmittel-Klasse ab. Ein WM-Kampf rückt 2020 in Reichweite, als er in Charlottenburg seinen deutschen Rivalen Abass Baraou in einem hochklassigen WM-Eliminator der IBF über zwölf Runden knapp nach Punkten besiegt.

Aus dem erhofften Titelkampf wird allerdings nicht. Zum einen bremst die Corona-Pandemie Culcay aus. Zum anderen geben die Weltverbände dem amerikanischen Boxstar Jermell Charlo Grünes Licht, um die anerkannten WM-Gürtel im Halbmittelgewicht zu vereinen. Culcay guckt - wie auch andere Herausforderer - in die Röhre, hält sich mit mehreren "Stay-Busy-Fights" fit. Ans Aufhören denkt er in dieser trockenen Zeit nie. "Wäre ich bei Sauerland geblieben, hätte ich wahrscheinlich schon längst aufgehört. Aber Ingo Volckmann ist sehr unabhängig, hat Kämpfe bei sich in der Halle organisiert, ein Corona-Konzept erarbeitet. Ich konnte kämpfen, trainieren, habe als Trainer geholfen. Es hat mir Spaß gemacht, den jüngeren Boxern Tipps zu geben. Ein Teil von Agon zu sein, macht mich stolz", sagt der "Spielertrainer" über seinen Doppeljob.

Ende 2023 wird Culcays Geduld belohnt. Charlo legt nach einer Pleite gegen Supermittelgewichts-König Canelo Alvarez seinen IBF-Gürtel im Halbmittelgewicht nieder, der Verband ordnet daraufhin einen WM-Kampf zwischen Culcay und Bakhram Murtazaliev an. Der Russe wartet ebenfalls seit ein paar Jahren auf seine Chance. Im Bieterverfahren "Purse Bid" sticht Agon Anfang 2024 Murtazalievs Promoter "Main Events" aus, holt das Duell nach Deutschland.

"Dieser WM-Kampf fehlt immer noch in meinem Kopf"

Am Samstag (ab 22.40 Uhr beim rbb, Vorkämpfe ab 19.40 Uhr auf box-sport.de) hat Culcay in Falkensee bei Berlin die Chance, seine Profikarriere zu krönen, abzurunden - endlich das Gefühl zu haben, einen vollwertigen WM-Titel im Ring gewonnen zu haben. "Dieser WM-Kampf fehlt immer noch in meinem Kopf", räumt der Routinier ein. Wäre damals gegen Andrade "alles gut gelaufen", seine Karriere würde "ganz anders" aussehen, gibt Culcay zu bedenken. "Ich hätte den Titel verteidigt und gegen wen weiß ich noch gekämpft. Aber da ich das Ding verloren habe, obwohl ich es eigentlich gewonnen habe - das ist noch immer mein Gefühl -, ist das Ganze noch nicht zu Ende."

Mehr zum Thema

Auf der Zielgeraden seiner Karriere will Culcay also nachholen, was er fühlt, verpasst zu haben. "Ich will den Kampf gewinnen und den Titel dann noch so oft wie möglich verteidigen", sagt er. Die dicken US-Fische im Halbmittelgewicht hat der Agon-Mann schon im Sinn. Zunächst aber muss Culcay den ungeschlagenen Bakhram Murtazaliev bezwingen. Keine leichte Aufgabe: Der in Kalifornien lebende Russe hat 15 seiner 21 Kämpfe durch K.o. gewonnen, ist zehn Zentimeter größer als der Deutsche. Entsprechend gewissenhaft habe er sich in Berlin auf den Kampf vorbereitet, betont Culcay. "Er wird am Kampfabend bestimmt zehn Kilo mehr wiegen als ich. Ich gehe davon aus, dass er hart schlägt, mich jagen wird, dass ich mich viel bewegen muss. Ich darf mich nicht auf eine Prügelei einlassen, sondern muss mein Boxen durchziehen", kündigt er an.

Im Training versteht der Boxer übrigens nur Spanisch. Mit Agon-Chefcoach Franquis Aldama unterhalte er sich in seiner zweiten Muttersprache, erzählt der in Ecuador geborene Culcay. "Ein paar Wörter habe ich noch nicht gehört, die lerne ich erst. Jetzt kann ich es perfekt." Jack Culcay kam 1990 im Alter von fünf Jahren mit seiner Familie nach Deutschland. Sieben Jahre später betrat er ein Box-Gym. Der Rest ist Geschichte. Bis jetzt. Der 6. April 2024 könnte wieder so ein Tag sein, der ein Boxer-Leben verändert.

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen