Es reicht wieder nicht ... Ein großes Spiel bringt den bitteren Realitätscheck
16.01.2024, 23:15 Uhr
Andreas Wolff war "natürlich enttäuscht".
(Foto: picture alliance/dpa)
Die deutsche Handball-Nationalmannschaft besteht nach Tagen des Taumels den Realitätscheck knapp nicht: Gegen Rekord-Weltmeister Frankreich kassiert das DHB-Team die erste Niederlage bei der Heim-EM.
Was ist da in der Mercedes-Benz-Arena passiert?
Die Schweiz und Mazedonien, das waren in den ersten Tagen der Heim-Europameisterschaft nicht mehr als der Brennstoff, mit dem sie die Euphorie befeuerten. Die, das beschworen vor dem Turnierstart alle, werde dringend gebraucht, um endlich mal wieder etwas gewinnen zu können. Auch mal wieder die ganz Großen wirklich zu ärgern und nicht nur an der Tür zur Weltklasse anzuklopfen. Mit Frankreich, der Rekord-Weltmeister, der Olympiasieger, das Team der Weltklassekönner, war nun der erste Gegner zu Gast, der die Party echt vermiesen konnte. Und tat das nachhaltig, 33:30 gewannen die Franzosen, diese "Weltauswahl", wie Deutschlands Torwart Andreas Wolff angesichts von Stars wie Dika Mem und Legenden wie Nikola Karabatic, der später als Mann des Spiels geehrt werden sollte, anerkannte.
Die Deutschen begannen furios, Johannes Golla kämpfte zweimal den Ball unnachahmlich rein, Julian Köster traf und Andreas Wolff hielt - nach wenigen Minuten stand es 3:0 für die deutsche Mannschaft, die Halle kochte. Doch dann setzte irgendwo der Kater ein: Die Franzosen, diese Ansammlung von hochdekorierten Weltklasseleuten mit unendlicher Erfahrung, spielte mäßig beeindruckt das eigene Programm runter. Und führte zur Halbzeit mit zwei Toren. Obwohl der deutsche Regisseur Juri Knorr, mit acht Treffern bester Torschütze, immer wieder zeigte, dass er auf dem Weg zum Weltklassespielmacher schon einen Schritt weiter ist, als er es noch bei der WM 2023 war. Die deutsche Mannschaft brach nicht in sich zusammen, sie blieb im Spiel - und kämpfte sich immer wieder zurück, ging zwölf Minuten vor Schluss sogar wieder in Führung.
Es war ein großes Spiel, das DHB-Team machte nun wieder vieles richtig. Und weil Andreas Wolff nach und nach wieder zu großer EM-Form auflief, war auf einmal erneut alles möglich. Auch der große Sieg. Doch es kam, wie es immer kommt: Die abgezockten Franzosen machten am Ende keine Fehler mehr und formierte eine bis zum Schluss präsentere Deckung- und die deutsche Mannschaft machte es ihnen zum Schluss vorne und hinten wieder etwas zu leicht. "Natürlich bin ich enttäuscht, dass wir das Spiel verloren haben. Wir haben insgesamt gut gekämpft. Es sind Kleinigkeiten, die bei uns gefehlt haben", sagte der in der zweiten Hälfte starke Andreas Wolff. "Wir haben insgesamt gut dagegen gehalten, wir haben über lange Zeit mit den Franzosen mitgehalten." Der Realitätscheck fällt trotzdem fürs Erste ernüchternd aus, auch wenn Bundestrainer Alfred Gislason "sehr stolz" ist auf seine Mannschaft. Punkte gibt es dafür nicht.
Was ist die Vorgeschichte?
Seit 2016 und Olympiabronze der Männer in Rio wartet der deutsche Handball auf eine Medaille. Knapp acht Jahre - oder umgerechnet 14 Turniere bei Männern und Frauen. Für den größten Handball-Verband der Welt eine ewige Leidenszeit. 2019 erreichte das DHB-Team das Halbfinale der Heim-WM, dann war der Stecker gezogen. 2023 kehrte man mit einem fünften Platz nach desaströsen Jahren immerhin in die erweiterte Weltspitze zurück. Aber: "Immer nur fast da zu sein, reicht nicht", ärgerte sich Rune Dahmke nach dem Viertelfinalaus gegen Frankreich bei der WM 2023.
Einen der Großen - Spanien, Dänemark, Schweden, Frankreich - hat man schon ewig nicht mehr in einem großen Spiel geschlagen. Immer wieder setzte es bittere Pleiten, als es darauf ankam. Es war eine der großen Hoffnungen, die mit dieser EM verbunden waren: Mit dem Heimvorteil im Rücken mal wieder einen großen Sieg holen. So wie 2019, als man angetrieben von einer entfesselten Masse in der Kölner Lanxess-Arena im entscheidenden Hauptrundenspiel die starken Kroaten 22:21 niederrang. Es reichte wieder nicht.
Die Szene des Spiels:
Als sich beide Mannschaften zuletzt gegenüberstanden, lieferte das DHB-Team auch ein großes Spiel - allerdings nur 40 Minuten lang. 20:20 stand es da, nachdem die deutsche Mannschaft zuvor die Chance vergeben hatte, nach dem 20:18 auf drei Tore wegzuziehen. Dann brach alles zusammen, die entkräftete Achse um Wolff, Knorr und Golla kollabierte, 14 Fehlwürfe produzierte die deutsche Mannschaft in der zweiten Hälfte. "Wir müssen es hinkriegen, in der Crunchtime den einen Fehler weniger zu machen", sagte Dahmke, damals wie heute und auch schon beim sensationellen EM-Triumph 2016 im Kader.
Nun machten sie wieder Fehler, es reichte wieder nicht: In der Crunchtime, als sie sich herangekämpft hatten, als sie das viel beschworene Momentum gegen große Widerstände wieder auf die eigene Seite gebracht hatten, scheiterten sie gleich dreimal binnen zweier Angriffe aus dem Rückraum an der gewaltigen französischen Abwehr. "Wir haben es nicht geschafft, über 60 Minuten unser volles Leistungsvermögen abzurufen", sagte der erfahrene Kai Häfner, der nach der Geburt seines zweiten Kindes zur Mannschaft zurückgekehrt war. "Gegen Frankreich wird es dann sehr, sehr schwer." Sie waren dran, ja. "Uns fehlt ein bisschen die Wurfkraft aus dem Rückraum, das ist ja nicht zu übersehen", sagte der Bundestrainer hinterher. "Aber die Jungs entwickeln sich. Ich bin stolz auf die Mannschaft." Der letzte Schritt zerschellte am französischen Block.
Wie war es in der Halle?
Die Zeit der "Freundschaftsspiel-Stimmung", wie sie Bundestrainer Gislason beim lockeren 34:25 gegen Nordmazedonien gespürt hatte, ist bei diesem Turnier vorbei. Denn ab sofort geht es in jedem Spiel um größere Ziele als den Hauptrundeneinzug. Es sind Spiele, in denen jedes Tor, jede Parade den Unterschied machen kann. Den Unterschied zwischen Edelmetall und Schrott. Nach dem Schaulaufen der vergangenen Tage, als die Stimmungslage früh vom Spiel entkoppelt war und das "Ohwieistdasschön"-O-Meter pflichtschuldigst bemüht wurde, gab das so wichtige Vorrundenfinale einen ersten echten Eindruck vom Faktor "Heimvorteil".
Lauter, wütender, die Party ist vorbei, jetzt ist es ein Gemeinschaftsding. So ist die Kulisse ein Faktor. Auch, wenn es gegen diese Franzosen schon wieder nicht gereicht hat. In der Hauptrunde warten nun vier Endspiele aufs DHB-Team, dafür ist die Lanxess-Arena in Köln ein gutes Pflaster: 2007 krönte man in der gewaltigen Halle das "Sommermärchen" mit dem WM-Titel, 2019 schlug man dort hintereinander Kroatien und Spanien - jeweils mit einem Tor Unterschied.
Und wird Deutschland jetzt nicht Europameister?
Null Punkte nimmt das DHB-Team nach der Niederlage mit aus der Vorrunde. Der Weg ins Halbfinale liegt immer noch vor dem Gastgeber, jeder Stolperer bedeutet aber jetzt unter normalen Umständen das Aus aller Träume. Gegen Island, Kroatien, Österreich und Ungarn müssen vier Siege her, dann werden im Halbfinale die Karten wieder neu gemischt. Kurioser Mutmacher: Bei den letzten beiden Titelgewinnen verlor man jeweils in der Vorrunde gegen den späteren Finalgegner: 2007 gegen Polen, 2016 gegen Spanien. "Noch ist überhaupt nichts verloren. Gegen Frankreich zu verlieren, ist kein Weltuntergang", verabschiedete sich Wolff, der Finalheld von 2016. Die Leistung der deutschen Mannschaft gab jedenfalls Anlass zur Hoffnung, dass die Reise nicht in der Hauptrunde endet.
Quelle: ntv.de