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Alternativloser Spielmacher Gefährliches Spiel treibt DHB-Team an den Abgrund

Juri Knorr musste gegen Island leiden.

Juri Knorr musste gegen Island leiden.

(Foto: picture alliance/dpa)

Die deutsche Handball-Nationalmannschaft erkämpft bei der Heim-EM einen überlebenswichtigen Sieg, bester Torschütze gegen Island ist Juri Knorr. Der Spielmacher ist unersetzbar im Kader des DHB-Teams. Das birgt ein großes Risiko.

Juri Knorr ist ein außergewöhnlicher Spieler: Dem Regisseur der deutschen Handball-Nationalmannschaft wird eine Weltkarriere vorausgesagt, der 23-Jährige soll die Träume des deutschen Handballs von einem Spielmacher von Weltformat erfüllen. Auf den wartet man hierzulande seit Markus Baur das DHB-Team 2007 zum Weltmeistertitel geführt hat. Bei der laufenden Heim-EM ist Knorr bisher in jedem Spiel der beste Torschütze der Gastgeber, mit 30 Toren nach vier Spielen führt er die Torjägerliste des Turniers an. Seine Möglichkeiten scheinen unbegrenzt, genauso wie seine Bedeutung für das deutsche Team. Und das kann ein Problem werden.

Für die deutsche Mannschaft geht es in jedem Spiel ums sportliche Überleben, jede Niederlage lässt die Träume von der ersten Medaille seit Olympiabronze 2016 platzen. Gegen Island traf Knorr zum Hauptrundenauftakt zwar sechsmal, erwischte aber einen schwächeren Tag. Auch deshalb mussten 19.750 Zuschauende in der ausverkauften Arena von Köln bis in die letzten Sekunden zittern und leiden, ehe der Sieg feststand: 26:24, eine Nervenschlacht, enorm körperlich geführt. Ein Punktverlust hätte für diese Europameisterschaft der Superlative - Weltrekordspiel zum Auftakt! Starke TV-Quoten! Eine nahezu hundertprozentige Auslastung der Hallen! - einen gewaltigen Dämpfer bedeutet. Für die Ambitionen der deutschen Mannschaft sowieso.

Die Nordmänner machten es Knorr schwer, sie waren gut auf das Spiel des torgefährlichen Regisseurs eingestellt. "Es ist ein sehr unangenehmes Spiel, weil die Isländer eine sehr aggressive, offensive Abwehr spielen, die uns am Spielfluss hindert", hatte DHB-Sportvorstand Axel Kromer schon zur Halbzeit analysiert. Es war ein ätzendes Spiel für Knorr, der sich immer wieder durch die Abwehr zu tanken versuchte, wie es seinem Gegenüber Aron Palmarsson so oft gelang.

Schwerstarbeit im Hexenkessel

In der Schlussphase eines Handball-Krimis scheiterte Knorr, der zuvor im Turnierverlauf elf von zwölf Siebenmetern versenkt hatte, zweimal vom Strich an Björgvin Páll Gústavsson. Fehlwürfe, die nur deshalb nicht teuer wurden, weil auf der Gegenseite der in den entscheidenden Phasen dieses Abnutzungskampfes zweier nervöser Teams überragende Andreas Wolff selbst zwei isländische Siebenmeter hielt. Am Ende feierte die gewaltige Arena in Köln den Torwart, der ein nervöses DHB-Team im Turnier hielt.

Nein, der Hauptrundenauftakt war nicht das Spiel des Juri Knorr. Entsprechend bedient war der Hochbegabte, nach den Feierlichkeiten nach dem Nervenkrimi verschwand er an den wartenden Journalisten vorbei in der Kabine. Normalerweise ist der gefragte Spielmacher einer der Letzten, der die Kabine erreicht. Er stellt sich nicht nur im Triumph, geht hart mit sich selbst ins Gericht, lässt keine Nachfragen unbeantwortet, keine Fragen offen. Nur diesmal nicht.

Im Hexenkessel Lanxess-Arena stand Knorr exakt 50 Minuten auf der Platte, er rackerte in Abwehr und Angriff. Zum Vergleich: Bei den für ihre gewaltige Kaderbreite gerühmten Franzosen musste zuvor Spielmacher Nedim Remili beim wilden Kampf gegen Kroatien (34:32) nur etwas mehr als eine halbe Stunde ran, Vertreter Kentin Mahé reichten elf Minuten für zwei Treffer. In der deutschen Mannschaft ruht die Last auf den Schultern des 1,92-Meter-Kraftwerks Juri Knorr.

Der Profi der Rhein-Neckar Löwen will seiner Mannschaft helfen, auch wenn es bei ihm selbst nicht läuft. Die Anzahl der wilden Würfe und teuren Fehler, die den Bundestrainer noch im letzten Januar rasend gemacht hatten, hat er minimiert. "Ich darf nicht überdrehen", sagte er jüngst dem "Stern". DHB-Co-Trainer Erik Wudtke sagte, man müsse "Juri manchmal vor sich selbst schützen. Man muss ihm hin und wieder sagen: Juri, du kannst die Welt nicht retten. Du bist nicht für alles verantwortlich."

Und doch: Dem deutschen Rückraum, das ist eine bekannte Herausforderung, fehlt vor allem in der Breite das Format, das international Schrecken verbreitet, gegnerische Abwehrreihen können sich zu oft an Knorr abarbeiten, diesem aufregenden Spieler auf dem Weg in die Weltklasse. Die Ausnahmestellung des Spielmachers lässt die Lücke hinter ihm groß werden. Schwächelt er, krankt das deutsche Spiel. Steht er gar nicht auf dem Feld, geht Qualität verloren. Das ist unvermeidbar und schlicht nicht zu kompensieren.

"Ideale Ergänzung" fehlt

Das Island-Spiel, das erste von vier Endspielen auf dem Weg ins heiß ersehnte Halbfinale, zeigte deutlich, wie alternativlos sein wichtigster Spieler für den Bundestrainer und das deutsche Spiel ist: Wenn Knorr pausierte, dann in der Abwehr. Im Angriff spielte er nahezu durch, auf einen Einsatz des erfahrenen Vertreters Philipp Weber verzichtete Alfred Gíslason selbst angesichts des mit sich und den Isländern kämpfenden Knorr völlig. Gegen Frankreich hatte Gíslason Weber für ein paar Minuten gebracht. Und war damit, was er sah, offenbar nicht nachhaltig einverstanden. Das Vertrauen in den unerfahrenen Lichtlein, der erst nach der Verletzung von Hannovers Marian Michalczik in den Kader gerutscht war, fehlt dem Bundestrainer auf dem höchsten Niveau offenbar noch. Der U21-Weltmeister schaffte es nicht mal auf den Spielberichtsbogen. Der Bundestrainer hatte auf die Erkenntnisse aus dem Frankreich-Spiel, als der deutschen Mannschaft am Ende sichtbar die Kraft ausgegangen war, reagiert: Sieben (!) verschiedene Rückraumspieler schickte er im ersten Durchgang aufs Feld, nur sein Spielmacher blieb von der Rotation verschont.

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Mit Luca Witzke sollte eine "sehr ideale Ergänzung zu Juri Knorr" (Gíslason) im Kader stehen, der Spielmacher aus Leipzig hätte "ein sehr wichtiger Spieler für uns werden können". Doch Witzke, der bei der vergangenen WM das Spielmacher-Gespann mit Knorr gebildet und selbst große Akzente gesetzt hatte, schaffte es nach einer Verletzungspause nicht, noch rechtzeitig in EM-Form zu kommen. Juri Knorr muss sich also durchkämpfen, weil er unersetzbar ist. Und immer für einen großen Moment gut ist. Aber es ist ein gefährliches Spiel.

Die letzte Sequenz dieses Krimis gegen Island, der im Freudentaumel und mit purer Erleichterung endete, stand dann sinnbildlich für das Spiel: Island hatte 40 Sekunden vor Schluss auf ein Tor verkürzt, gegen die offene Manndeckung musste die deutsche Mannschaft den Ball behaupten - und dann rutschte Juri Knorr im Mittelkreis weg, mit dem Ball in der Hand. In diesem Schreckmoment habe er "das ganze Turnier an meinem inneren Auge vorbeilaufen sehen", sagte der erfahrene Linksaußen Rune Dahmke. Aber Knorr brachte den Ball im Liegen noch kontrolliert zu Julian Köster, der den Ball zum 26:24-Endstand ins Tor kämpfte. Das Vertrauen in den Spielmacher ist unbegrenzt und am Ende wurde es wieder belohnt. "Ich glaube, dieses Spiel hat der Mannschaft unglaublich viel gebracht", sagte der erleichterte Bundestrainer nach dem nervenaufreibenden Spiel. Es ist noch einmal gut gegangen.

Quelle: ntv.de

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