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EM-Hype und große Ziele Ein junges Genie schultert Deutschlands Hoffnung

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Die Heim-EM soll für die deutschen Handballer endlich wieder Edelmetall bringen. Die Vorzeichen sind ermutigend, der Druck groß. Das Auftaktspiel ist ein Spektakel und ein Risiko. Die Euphorie wird in letzter Minute getrübt. Es wird Zeit, dass es losgeht.

Mit vielen Hoffnungen im Gepäck, aber mit wenig mehr als Außenseiterchancen auf den ganz großen Wurf: Die deutsche Handball-Nationalmannschaft startet am Mittwoch in die erste Europameisterschaft in Deutschland überhaupt. Das Halbfinale +X ist das aus dem Mannschaftskreis verkündete Ziel, zum Favoritenkreis zählt das DHB-Team nicht. Auch, wenn die letzten Vorleistungen Mut machen. "Wir haben vielleicht nicht die Superstars, die andere Mannschaften haben, und uns fehlt vielleicht auch die Erfahrung. Aber wir haben Qualität", bilanzierte Spielmacher Juri Knorr im ZDF.

Der Bundestrainer war "insgesamt sehr zufrieden" mit dem letzten Test vor dem Start der Heim-Europameisterschaft. "Die Abwehr stand sehr gut, auch in der 3-2-1-Variante. Andi Wolff hatte anfangs Probleme, wurde dann aber besser und hat uns am Ende sehr geholfen", sagte Alfred Gislason nach dem 35:31 gegen EM-Teilnehmer Portugal. "Der Angriff war in der ersten Hälfte super, Juri Knorr sogar überragend, aber auch Julian Köster hat ganz stark gespielt."

Schon den ersten Vergleich mit den Portugiesen hatte die deutsche Mannschaft zwei Tage zuvor gewonnen (34:33), da aber vor allem in der Abwehr noch deutlich größere Probleme offenbart. Nun aber durfte Gislason ein zufriedenes Fazit ziehen: "Wir haben eine sehr, sehr gute Mannschaft, die weit kommen kann - auch wenn die Erfahrung nicht ganz so da ist wie bei anderen Nationen."

Die Hoffnungsträger

Andreas Wolff

Mit Mittelmann Juri Knorr, Torwart Andreas Wolff und Kreisläufer Johannes Golla stehen im deutschen Kader nur drei Spieler, die internationales Topniveau verkörpern. Wolff, einer von noch vier Europameistern von 2016 im Kader, ist an guten Tagen einer der besten Torhüter der Welt, bei der WM 2023 lieferte der 32-Jährige Klasseleistungen in Serie ab. Ohne einen Wolff in Bestform wird das DHB-Team keine Ziele erreichen können. Entsprechend groß war die Erleichterung, dass sich der Torwart des polnischen Spitzenklubs Industria Kielce Ende vergangenen Jahres nach einem Bandscheibenvorfall rechtzeitig zurückmeldete. "Das Ziel ist ganz klar, Europameister zu werden. Wer antritt und nicht Europameister werden möchte, hat seinen Beruf verfehlt", verkündete Wolff im Vorfeld des Turniers gewohnt unmissverständlich.

Johannes Golla

Auf Kapitän Golla wird auch bei der Heim-EM Schwerstarbeit zukommen: Der 26-Jährige ist sowohl am eigenen Kreis als auch am gegnerischen eigentlich unverzichtbar. Golla bildet mit Julian Köster einen Mittelblock auf internationalem Niveau, im Angriff ist er mit seiner Wucht und Durchschlagskraft kaum zu ersetzen. Das sportliche Schicksal des deutschen Teams wird auch davon abhängen, wie oft Golla in den frühen Phasen des Turniers nicht auf der Platte stehen muss.

"Sehr gut gefallen haben mir die Kreisläufer, Johannes Golla hatte noch nie so viele Pausen, seitdem ich Bundestrainer bin", sagte Gislason entsprechend zufrieden nach dem finalen Test gegen Portugal, wo 2016-Europameister Jannik Kohlbacher und U21-Weltmeister Justus Fischer große Spielanteile in Abwehr und Angriff bekamen. Je mehr Pausen Gislason seinem Kapitän verschaffen kann, desto besser. Bei der WM 2023 war das DHB-Team im Viertelfinale an Rekord-Weltmeister Frankreich gescheitert, auch, weil dem dauerbelasteten ersten Anzug irgendwann die Puste ausgegangen war. "Das Ergebnis zeigt nicht, wie stark die deutsche Mannschaft wirklich war", hatte Frankreichs Superstar Nikola Karabatic nach dem 35:28 gesagt, als sein Team phasenweise drei Tore zurückgelegen hatte.

Juri Knorr

Und dann ist da Juri Knorr, Spielmacher und Posterboy dieses Teams. Über keinen Spieler wurde im Vorfeld des Turniers mehr berichtet als über den wohl wichtigsten Mann in Gislasons Gebilde. Der Profi der Rhein-Neckar Löwen ist der nach vielen Jahren endlich wahr gewordene Traum des deutschen Handballs von einem Spielmacher auf Weltniveau. Bei der WM 2023 machte der 23-Jährige endgültig den Schritt zum Anführer im deutschen Spiel, er strahlt permanent Torgefahr aus und hat ein technisches Repertoire zur Verfügung, mit dem letztmals Markus Baur ausgestattet war - und der führte die deutsche Mannschaft 2007 überraschend zum WM-Titel im eigenen Land.

"Als Spieler ist er überragend und er ist immens wichtig für den Erfolg des deutschen Teams", sagte Dominik Klein, Weltmeister von 2007. "Das No-Look-Anspiel am Kreis, das Rückhand-Anspiel nach außen, sein Drang zum Tor mit genialen Wurfvarianten und einem starken Eins-gegen-Eins - er hat alles drauf." Der Spielmacher weiß natürlich, was von ihm abhängt. Bei der WM 2023 war Knorr der zweitbeste Torschütze des Turniers, die "unglaublich teuren Fehler", die ihm Gislason damals noch in der Vorbereitung attestiert hatte, minimiert er kontinuierlich. "Ich darf nicht überdrehen", sagte er jüngst dem "Stern". DHB-Co-Trainer Erik Wudtke sagte, man müsse "Juri manchmal vor sich selbst schützen. Man muss ihm hin und wieder sagen: Juri, du kannst die Welt nicht retten. Du bist nicht für alles verantwortlich." Und doch: Zumindest für das Abschneiden der deutschen Mannschaft bei diesem Turnier ist Juri Knorr maßgeblich mitverantwortlich.

Das wunderbare Problemspiel:

Mit der Eröffnung der EM ist dem DHB ein Coup gelungen: 53.000 Menschen werden in der ausverkauften Düsseldorfer Fußball-Arena dabei sein, wenn zuerst Rekord-Weltmeister Frankreich auf Nordmazedonien trifft und dann Deutschland gegen die Schweiz ins Turnier einsteigt (20.45 Uhr/ZDF und im ntv.de-Liveticker). Das Event lässt die EM und den Gastgeber strahlen, die Weltrekordkulisse für ein Hallenhandballspiel sorgt für Schlagzeilen, imposante Bilder, sie steht für die Euphorie um das Turnier und sie soll das DHB-Team beflügeln.

Das Szenario

"Ich habe richtig Bock. Heute standen 10.000 Fans hinter uns und wenn jetzt das fünffache an Menschen da ist, wird es noch lauter und noch geiler", strahlte Julian Köster nach dem finalen Testspiel in Kiel. Beim DHB setzt man auch maßgeblich auf den Faktor Heimvorteil, um ein erfolgreiches Turnier zu erleben - und vielleicht die erste Medaille seit Olympia-Bronze 2016 zu holen.

Doch das Auftaktspiel birgt eben auch Risiken: Die Dimensionen sind auch für das Heimteam neu, der Ernstfall ließ sich nicht simulieren, nur zwei Trainingseinheiten bleiben, um ein Gefühl für die Arena zu entwickeln. "Ein Spiel in so einer Form hat kein Spieler unserer Mannschaft je erlebt, und ich schon gar nicht. Ich kenne eine solche Atmosphäre nur als Zuschauer im Fußballstadion", sagte Spielmacher Knorr der "Süddeutschen Zeitung", Kapitän Johannes Golla berichtete in "Handball Inside", dass der DHB seinen Nationalspielern Sportpsychologen zur Seite stellte, um den durch die Heimkulisse steigenden Druck zu kanalisieren. "Wir müssen diese Atmosphäre in Euphorie und in ein gutes Handballspiel ummünzen", sagte Golla. "Und nicht als Druck empfinden, der uns hemmt."

Der Gegner

Anders als bei Weltmeisterschaften, wo schwächere Teams aus Asien oder der arabischen Welt für die europäischen Medaillenkandidaten als Aufbaugegner fungieren, gibt es bei Europameisterschaften kaum sportliches Füllklientel. Auch der deutsche Auftaktgegner Schweiz ist eine undankbare Auftaktaufgabe: Torwart Nikola Portner gewann mit dem SC Magdeburg Ende der vergangenen Saison die Champions League, Rückraumspieler Manuel Zehnder führt die Torschützenliste der Handball-Bundesliga an.

Und dann ist da natürlich noch Andy Schmid, Weltklasseregisseur und künftiger Nationaltrainer der Eidgenossen. Fünfmal wurde der inzwischen 40-Jährige zum besten Spieler der Handball-Bundesliga gekürt, seit zwei Jahren spielt er wieder in seiner Heimat - und hat sich extra für dieses Turnier noch einmal in große Form gebracht: "Ich lasse nichts unversucht, um noch einmal auf körperliches Top-Niveau zu kommen. Gut reicht nicht. Ich möchte zeigen, dass ich sehr gut bin", sagte der Handball-Oldie in einem Interview des Schweizer Verbandes.

Wäre die EM nicht gewesen, hätte Schmid seine Karriere schon beendet. "Es ist vielleicht eine Saison zu viel. Aber ich könnte auf keinen Fall nur am Fernseher zugucken, wie Schweiz gegen Deutschland spielt", sagte der Routinier und kündigte an: "Ich habe immer noch einen Ehrgeiz in mir drin, der ungebrochen ist."

In Deutschland kennen sie Schmid, der die Rhein-Neckar Löwen zweimal zur Meisterschaft führte und einer der besten Spieler seiner Generation war, bestens: "Die Genialität eines Andy Schmid ist unumstritten. Er kann einfach alles mit dem Handball. Von gewaltigen Schlagwürfen über herausragende Anspiele zum Kreis bis zu seiner Gabe, in Bruchteilen von Sekunden die richtige Entscheidung treffen zu können - das ist einfach Weltklasse", sagte Ex-Weltmeister Dominik Klein der Deutschen Presse-Agentur. Und Bundestrainer Gislason weiß: "Die 40 Jahre merkt man Andy Schmid nicht an."

Torjäger Zehnder, der für Aufsteiger ThSV Eisennach in 19 Spielen 148 Tore erzielte und wegen seiner deutschen Mutter auch für Deutschland hätte spielen können, will beim Weltrekordspiel nicht nur Statist sein: "Deutschland hat enormen Druck. Die müssen dieses Spiel gewinnen und ich glaube, dass wir da schon was reißen können." Nur die ersten beiden Teams der Vierergruppe A erreichen die Hauptrunde, Rekord-Weltmeister Frankreich gilt als Favorit in der deutschen Gruppe. "Wir müssen gut in das Turnier hineinkommen und uns dann von Spiel zu Spiel steigern", forderte Gislason. "Bei der EM darfst du vielleicht ein Spiel verlieren. Bei einer zweiten Niederlage wird es kaum noch möglich sein, ins Halbfinale zu kommen."

Die schlechten Nachrichten

Es ist wie vor jedem Turnier: Den Bundestrainer erreichten zahlreiche Absagen wichtiger Spieler. Die Berliner Paul Drux und Fabian Wiede - beide fest eingeplant - mussten wegen Verletzungen absagen, der Kieler Europameister Hendrik Pekeler verkündete nach einer Pause den endgültigen Abschied aus der Nationalmannschaft. Besonders Wiedes Ausfall wiegt schwer, der Linkshänder ist ein Unterschiedsspieler, bei der Heim-WM 2019 wurde er ins All-Star-Team des Turniers gewählt und hinterlässt im deutschen Rückraum eine Lücke. Dort wird die Hauptlast des deutschen Angriffsspiels nun wieder auf Kai Häfner lasten.

Schmerzhaft für den Bundestrainer ist auch der Ausfall von Marian Michalczik. Der Spielmacher der TSV Hannover-Burgdorf hatte sich nach einer längeren Pause gerade erst wieder im DHB-Kader festgespielt, als er sich nach Weihnachten im Kreise der Nationalmannschaft verletzte - und für die EM ausfällt. Michalczik hätte in der Abwehr Golla und im Angriff Knorr enorm wichtige Verschnaufpausen verschaffen sollen.

Im letzten Testspiel verletzte sich schließlich noch Patrick Groetzki, auch der Routinier - mit 173 Länderspielen der erfahrenste Spieler in Gislasons EM-Überlegungen - wird fehlen. Als "extrem wichtigen Spieler" hatte Torwart David Späth seinen Teamkollegen noch vor der Diagnose bezeichnet und Groetzkis Erfahrung hervorgehoben. "Es trübt natürlich die ganze Stimmung, die ganze Euphorie", sagte Kapitän Golla. Der Rechtsaußen werde dem deutschen Team "nicht nur auf, sondern auch neben dem Platz extrem fehlen". Sein Ausfall sei eine einzige "Katastrophe". Personell wurde auf den Ausfall von Michalczik und Groetzki bislang noch nicht reagiert, beim DHB werde man sich jetzt "intern jetzt abstimmen, wie wir nach diesem Ausfall reagieren werden. Wir haben bis zum 9. Januar Zeit, den offiziellen Kader bei der EHF zu melden", sagte Sportvorstand Axel Kromer.

Der X-Faktor

Der Bundestrainer hat einen spannenden Kader fürs Heimturnier zusammengestellt: Zu den etablierten Nationalspielern um die Europameister Häfner, Rune Dahmke, Kohlbacher und Wolff gesellen sich gleich vier Profis, die sich im vergangenen Sommer mit der deutschen U21 begeisternd zu Weltmeistern gemacht hatten: Die Rückraumspieler Renars Uscins und Nils Lichtlein, Kreisläufer Justus Fischer und Torwart David Späth, der mit Routinier Wolff ein vielversprechendes Gespann bilden wird.

Gislason übertraf mit dieser Entscheidung sogar noch die Forderungen von Bob Hanning: Der einstige DHB-Vize und umtriebige Visionär hatte gefordert, dass "natürlich zwei bis drei Junioren-Weltmeister in den EM-Kader aufrücken müssen". Im Sommer 2023 schien selbst das trotz der begeisternden Leistungen und der großen Euphorie wie eine Utopie. "Die Jungs müssen sich mit der Konkurrenz messen und sich gegen die Erfahrenen durchsetzen. Das ist eine große Aufgabe", bremste DHB-Vorstand Axel Kromer damals noch die Erwartungen, nun blieben Hannings Forderungen sogar hinter der Realität zurück. "Was mich wirklich an der Mannschaft begeistert", sagte Topstar Wolff in der ARD, "ist, dass wir viele junge Spieler in der Mannschaft haben, die sehr heiß sind. Die zeigen, dass sie geil drauf sind, für Deutschland zu spielen. Die geil drauf sind, unsere Farben im Januar vertreten zu können."

Alle vier Spieler werden bei der EM eine Rolle spielen: Lichtlein, der wertvollste Spieler der Junioren-WM, bildet als schneller Linkshänder auf der Mittelposition ein taktisches Gegengewicht zu Juri Knorr, Fischer ist bereits in Abwehr und Angriff eine wichtige Alternative zu Kapitän Golla, Uscins wird Kai Häfner vor allem im Angriff entlasten und Torwart David Späth schwang sich längst schon zur größten deutschen Torwarthoffnung auf.

"Ich möchte eine Ikone werden. Ich möchte kein One-Hit-Wonder sein, das es einmal kurz in die Zeitung schafft", sagte der 21-Jährige jüngst der dpa. "Ich bin mir sicher, dass ich es schaffen werden." Ins Turnier geht der Torwart der Rhein-Neckar Löwen als klare Nummer zwei hinter Wolff - und der Europameister hat große Worte für seinen jungen Kollegen: "Er ist ein Riesentalent. Irgendwann wird er einer der Besten der Welt sein. Er ist jetzt schon auf dem besten Weg und muss sich vor den Top-Stars nicht verstecken."

Die größte Überraschung im EM-Kader ist aber Martin Hanne. Der 22-Jährige aus Hannover hatte vor seiner Berufung noch überhaupt kein A-Länderspiel absolviert - und zeigte dann beim ersten Aufeinandertreffen mit Portugal, was sich der Bundestrainer von ihm verspricht: Fünfmal traf der Rechtshänder beim 34:33. "Er hat was, was uns wirklich helfen kann. Er hat eine super Leistung gebracht", sagte Gislason. Der Neuling hatte auf Linksaußen begonnen, für seinen Premierentreffer wurde er in den Rückraum geholt - und versenkte den Ball mit einem gewaltigen Wurf.

"Natürlich haben wir das trainiert, ihn rumzubringen", lieferte Gislason Einblicke und schob hinterher: "Diese Idee haben wir uns von den Dänen geklaut, die machen das mit Kirkelökke (Niclas, Rückraum-Rechter bei Dänemark, Anm.d.Red.). Und Martin hat das gut gemacht." Die deutsche Mannschaft, der seit Jahren die gewaltigen Shooter im Rückraum fehlen, muss sich Tore oft hart erarbeiten. Gute Ideen helfen dabei.

Quelle: ntv.de

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