Der DHB-Krimi im Schnellcheck Aus dem Königreich der Angst wird doch noch ein Tollhaus
18.01.2024, 23:20 Uhr
Julian Köster entschied einen Handball-Krimi mit dem letzten Wurf.
(Foto: picture alliance/dpa)
Was für ein Krampf, was für ein Finale: Die deutsche Handball-Nationalmannschaft ringt Island nieder und bleibt im Rennen ums Halbfinale bei der Heim-EM. Es ist ein Krimi, der sich vor 19.750 Zuschauern abspielt. Es geht gut aus.
Was ist da in der Arena von Köln passiert?
Die deutsche Handball-Nationalmannschaft hält die Träume von einem edelmetallen schimmernden Wintermärchen am Leben. Aber was war das für ein Drama in diesem Handball-Tempel: Sekunden vor der Schlusssirene erlöste Julian Köster mit seinem 26:24 ein ganzes Handballvolk, das lange und bange Minuten zu überstehen hatte. Die Lanxess-Arena, diese stimmungsvolle Schüssel, die in den besten Momenten einen gemeinsamen, kraftvollen Ton produziert, war für Minuten ein Königreich der Angst gewesen. Umso größer war am Ende der Urknall, mit dem sich die ganze Spannung im letzten Wurf des schwer vom Kampf gezeichneten Köster entlud.
Als "große Gefahr" hatte Bundestrainer Alfred Gíslason Gegner Island identifiziert, einen "harten Kampf" angekündigt. Und den bekam der Gastgeber: Es war ein Krampf in der ersten Hälfte, die nervöse deutsche Mannschaft durfte sich bei ihrem Torwart Andreas Wolff bedanken, der zu großer Form auflief. Ohne einen Wolff in Titelform wäre es womöglich schiefgegangen, jedenfalls wären die zahlreichen Fehlwürfe und technischen Fehler der ersten Hälfte deutlich teurer geworden. Ein "sehr unangenehmes Spiel" hatte DHB-Sportvorstand Axel Kromer bis zur Halbzeit gesehen, die aggressive Deckung der Isländer stellte Spielmacher Juri Knorr und seine Nebenleute immer wieder vor unlösbare Probleme.
Gislason, der es mag, seine Stammformation lange auf dem Feld zu lassen, hatte schon nach zwanzig Minuten drei Rechtshänder im linken Rückraum ausprobiert, wenig später brachte er auch den dritten Linkshänder auf der anderen Seite. Ein Symbol, wie kompliziert der erste Durchgang für die deutsche Mannschaft war. Es sind eben alles vorweggenommene Endspiele, die diese deutsche Mannschaft bestreiten muss. Es gibt keinen Raum mehr für Patzer, will man die Euphorie rund um das Turnier nicht schon nach vier Spielen beerdigen.
Die zweite Hälfte war die Steigerung der ersten, immer wenn das deutsche Team die Chance hatte, wenigstens auf drei Tore davonzuziehen, kam etwas dazwischen. Hanebüchene Unkonzentriertheiten, zwei verworfene Siebenmeter, es sollte nicht sein. Aber sie kämpften, sie zwangen die Tore irgendwie rein und weil Wolff eine gewaltige Leistung zeigte, reichte es irgendwie. Der Torwart-Titan, den das Spiel "emotional sehr mitgenommen" hatte, schob es hinterher auf den Heimvorteil, das Handballvolk und seine Kollegen schoben es auf Wolff - und am Ende war es ein Gemeinschaftswerk. Irgendwie. Und dann endlich wich die Angst und die Sorge dem Taumel. "Morgen früh werde ich aufstehen und komplett weiß sein", antwortete der Bundestrainer auf die Frage, ob ihm das Spiel graue Haare beschert habe.
Die Szene des Spiels:
Natürlich, jede einzelne Parade von Wolff war eine eigene kleine Initialzündung. Aber sie verpufften zu oft, weil es so anstrengend war. Es ging in diesem Spiel ja nicht nur um einen Sieg und zwei Punkte, es ging um die Fortsetzung der gemeinsamen Party. Dem, was man zusammen schaffen will. Team, Trainer und Verband hatten die Menschen im Land im Vorfeld des Turniers in die Pflicht genommen: Es geht nur über die Euphorie, den Heimvorteil. Alleine ist diese Mannschaft nicht in der Lage, große Dinge zu erreichen. Das zeigte diese Partie. Wenn sich der Staub gelegt hat, gibt es viel zu analysieren. Die Zeit dafür wird kommen und sie kommt schnell: Bereits am Samstag (20.30 Uhr/ ARD und im Liveticker auf ntv.de) wartet Sensationsteam Österreich auf die deutsche Mannschaft.
52 Minuten waren heute gespielt, als sich der eingewechselte Lukas Mertens auf einen isländischen Fehlpass warf, Deutschland führte mit einem Tor. Es war ein Moment, an dem sich die Dramatik des Spiels erklären lässt: Es hatte nichts Schönes, Mertens war nur etwas schneller. Und der Magdeburger sicherte das Spielgerät mit dem ganzen Körper. Nicht filigran, sondern mit Überzeugung und allem, was er zur Verfügung hatte. Es war nicht die Entscheidung, die kam erst fünf Sekunden vor Schluss. Aber es war ein Baustein fürs Fundament, auf dem dieser Sieg im Schweiße ihrer Angesichter erbaut wurde.
Und dann waren da diese letzten Augenblicke: Island hatte 40 Sekunden vor Schluss auf ein Tor verkürzt, gegen die offene Manndeckung musste die deutsche Mannschaft den Ball behaupten - und dann rutschte Juri Knorr im Mittelkreis weg, mit dem Ball in der Hand. In diesem Schreckmoment habe er "das ganze Turnier an meinem inneren Auge vorbeilaufen sehen", sagte der erfahrene Linksaußen Rune Dahmke. Aber Knorr brachte den Ball noch irgendwie zu Julian Köster. Am Ende lag er im Tor der Isländer.
Wie war es in der Halle?
Es war wie immer, wenn die deutsche Handball-Nationalmannschaft ein wichtiges Spiel in der Lanxess-Arena spielt: Die Halle ist voll, die Ränge, die hier steiler sind als anderswo sind prall gefüllt mit Menschen, die lauter sind als anderswo. Und die deutsche Mannschaft spielt erfolgreicher als anderswo. Schon sechsmal war das DHB-Team zuvor bei einer Weltmeisterschaft in Köln zu Gast, zuletzt 2019 - als man in der größten Halle des Landes nacheinander Island, Kroatien und Spanien schlug. 2007 peitschte die Kulisse die deutsche Mannschaft, die in Berlin holprig in die Heim-WM gestartet war, durch einen komplizierten Turnierpfad zum Wintermärchen: Spanien! Frankreich! Polen! Am Ende stand der WM-Titel für die Mannschaft von Trainer Heiner Brand.
2019 begeisterte das DHB-Team in Köln, dann musste es fürs Halbfinale umziehen. "Wir haben den Fehler von der Heim-WM 2019 vermieden, als wir von der gigantischen Halle in Köln zum Halbfinale in die kleinere Halle in Hamburg umgezogen sind", erinnert sich der damalige DHB-Vizepräsident Bob Hanning im Gespräch mit ntv.de. "Gefühlt die Hälfte der Zuschauer waren Funktionäre und nur eine Hälfte Fans. Das war der Killer, da war der Stecker gezogen." Nun will man die Mission Medaille hier durchziehen, im deutschen Handball-Mekka.
Doch diesmal ließ sich die Kulisse von der Stimmung auf dem Feld anstecken, in der zweiten Halbzeit legte sich irgendwann ein Schleier über die Tribünen. Es war die kollektive Angst vor dem Ende der Träume, dem Ende der Party. Doch dann, irgendwann, zog man sich gemeinsam aus der Lethargie. Die Halle wurde laut, sie wurde zum Faktor, als alles nur noch Willen und Müssen war. "Wir können noch was drauflegen und Köln kann auch noch was drauflegen", sagte Kreisläufer Jannik Kohlbacher hinterher. Der Anfang ist gemacht.
Aber was war da los vor dem Anpfiff?
Die Marseillaise kennt man, die schwungvolle Hymne Italiens auch, spätestens seit Michael Schumacher einst Sieg um Sieg für Ferrari einfuhr. "God Save The King" und das "Star-spangled Banner" sind Allgemeinwissen unter den Hymnen der Welt. Aber den "Lofsöngur", die Hymne Islands? Die hat man doch nicht so parat. Entsprechend wunderten sich auch die wenigsten der deutschen Fans und Journalisten über das, was vor Anpfiff aus den Boxen der Lanexess-Arena schwappte und die isländische Auswahl statt tief bewegte viel mehr irritierte.
Es waren die Pfiffe der sonst so fröhlichen isländischen Fans, die dann den Rest der Halle aufrüttelten. Die Hallenregie hatte das falsche Musikstück eingespielt, ein holpriger Start in den Abend. Die bedrückende Situation retteten die Zuschauer, die laut und nationenübergreifend "Island, Island" skandierten. Es war ein schöner gemeinsamer Moment. "Das fand ich genial. Das macht den Handball aus", sagte Timo Kastening, der Rechtsaußen der DHB-Auswahl. "Am liebsten hätte ich mitgerufen." Der "Lofsöngur" kam dann doch noch zur Aufführung..
"Das war eine falsche Nationalhymne. Kein Isländer hat erkannt, welche das war. Das war nicht die isländische", sagte Bundestrainer Alfred Gislason, selbst ein Isländer, auf der Pressekonferenz am späten Abend. Die Organisatoren verwiesen auf eine technische Panne.
Und, wird Deutschland jetzt doch Europameister?
Der Gastgeber bleibt in der Spur, der Weg bleibt weit. Vom Titel redet niemand, es wäre vermessen. Aber die deutsche Mannschaft hat sich ein weiteres vorzeitiges Endspiel auf dem Weg ins Halbfinale erkämpft. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Quelle: ntv.de