RB droht alles zu verspielen In Leipzig geht die Angst um
04.11.2021, 03:07 Uhr
Die Bilanz unter Trainer Jesse Marsch ist für einen selbsternannter Bayern-Jäger Nummer eins zu wenig.
(Foto: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild)
Welch Déjà-vu. Gegen PSG lässt RB Leipzig wieder beste Chancen liegen und scheidet aus der Champions League aus. Die Sachsen suchen immer noch ihre neue Identität - aber drohen nun auseinanderzubrechen.
Oh là là, Leipzig, quel déjà-vu. Und zwar auf mehrfache Art und Weise. Wie schon im Hinspiel muss RB Leipzig gegen Paris Saint-Germain gewinnen. Allein schon, um noch die Mini-Chance zu wahren, in der Champions League überwintern zu können. Doch genau wie an der Seine stellen die Sachsen sich beim 2:2 (1:2) zu Hause selbst ein Bein. Das Königsklassen-Aus ist besiegelt. Erneut lässt RB beste Chancen aus. Die Ladehemmungen ziehen sich wie ein nervtötender roter Faden durch die erste Saison des neuen Trainers Jesse Marsch.
Der Traum ist aus. Dabei war eigentlich alles wie gemacht für einen feierlichen Europapokal-Abend in Leipzig. Den ersten seit Beginn der Corona-Pandemie. Die Arena war dank der 2G-Regel fast komplett gefüllt, 39.794 Zuschauer wollten das Star-Ensemble aus der französischen Hauptstadt gegen die Roten Bullen sehen - obwohl viele den Ausfall Lionel Messis bedauerten. Lautstark aufgepeitscht wurde RB von der eigenen Kurve. Der stimmgewaltige Verein Rasenballisten hatte nach eineinhalb Jahren Pause seine organisierte Rückkehr ins Stadion gefeiert.
Doch es kam, wie es eigentlich kommen musste für Leipzig in dieser ersten Saison nach dem Abgang des Star-Trainers Julian Nagelsmann: Mal wieder scheiterte eine talentierte RB-Mannschaft an sich selbst. "Wir hätten dieses Spiel gewinnen sollen", klagte Trainer Marsch nach dem Spiel. "Es ist ein bisschen schade, dass wir unsere Vorteile und die Chancen nicht genutzt haben." Man habe sich "in vielen Situationen das Leben schwer" gemacht, so der US-Amerikaner. "Mit einer 2:0-Führung wäre es sehr schwierig geworden für Paris." Sehr viel Konjunktiv. Sehr viel Ärgernis. Wie so oft in dieser Spielzeit.
"Das tut weh"
Im Stadion mochte es niemand recht glauben. Statt 2:0 nach elf Minuten stand es zum Ende der ersten Hälfte 1:2 aus Sicht der Sachsen. Dabei hatte alles so furios begonnen, mit einer Doppelchance in den ersten Sekunden der Partie. Aber damit begann eben auch wieder die typische Leipziger Ladehemmung. Zwar erzielte Christopher Nkunku in der achten Minute die frühe Führung per Kopf, aber im Anschluss verpasste Leipzig es mehrfach, einen Treffer nachzulegen "Das tut weh, dass du dich dann nicht ein bisschen mehr belohnst", sagte Konrad Laimer im Anschluss. Die beste Chance vergab André Silva vom Elfmeterpunkt (12.).
Zu diesem Zeitpunkt wirkte PSG nervös. Das Marsch-Team spielte geradezu entfesselt und dominierte die Partie - nur um wenig später auseinanderzubrechen und die Pariser mit mangelhafter Defensivarbeit und zu wenig Druck zum Toreschießen einzuladen. Erst erhielt Neymar in der Nähe des Sechzehners einmal viel zu viel Raum, um einen feinen Pass auf Kylian Mbappé zu spielen, dessen Hereingabe Gini Wijnaldum zum 1:1 verwertete (21.). Dann durfte der Niederländer 18 Minuten später völlig unbedrängt zum Doppelpack einköpfen, weil die RB-Abseitsfalle nicht funktionierte und Marquinhos nach einer Ecke nicht am Kopfball gehindert wurde.
Auch dieser wilde Wandel von Powerplay über schludrige Fehler zu anschließender Unsicherheit zieht sich durch die Saison. Und wie im Hinspiel schlugen die Pariser effizient zu, während Leipzig trotz eines erneut couragierten Auftritts mit (fast) leeren Händen dasteht. "Manchmal weiß man gefühlt nicht so genau, woran es liegt", grübelte Laimer. "Der letzte Punch fehlt in der einen oder anderen Situation, der letzte Funke, reifer zu sein und überlegt zu Ende zu spielen." Die durchaus mannigfaltige Brisanz des Ausscheidens aus der Königsklasse können sie nun nicht verleugnen.
Da ist zum einen der 23 Millionen Euro teure André Silva, der diesmal von Beginn an randurfte, aber wieder kaum Bälle im Sechzehner erhielt. Das Marsch-System ist nicht gemacht für den Portugiesen. Er ist ein Stoßstürmer, lebt von Flanken und Kombinationen von außen, aber kann sich bisher bei Leipzig zu selten im Strafraum in Szene setzen. Der Coach lässt sein Team vertikaler und mehr gegen den Ball agieren, als das noch unter Nagelsmann der Fall war, will energisches Pressing, schnelles Umschaltspiel und ein durchs Zentrum aufgezogenes Kurzpassspiel sehen. Das funktionierte gegen PSG teilweise auch hervorragend. Aber der Königstransfer Silva wirkt damit verloren. Sinnbildlich für seine Suche nach der passenden Rolle war, dass er es war, der die Flanke von außen zum 1:0 schlug.
Was passiert mit Marsch
Das nächste Thema mit Sprengkraft: Trainer Marsch selbst. Was passiert mit dem US-Amerikaner, sollte RB nicht europäisch überwintern? Für den Klub mit hohen Ambitionen, im vergangenen Jahr immerhin selbsternannter Bayern-Jäger Nummer eins, wäre solch ein miserables Abschneiden zu wenig. Vor allem, weil man in der Bundesligatabelle mit lediglich 15 Punkten nur auf Platz acht rangiert - mit zehn Zählern Rückstand auf die Bayern und neun auf Dortmund.
Die Verantwortlich dürften registrieren, dass selbst nach mehreren Monaten die Mannschaft mit der Marsch-Philosophie hadert. Auch gegen PSG wirkte es so, als wüsste das Team nicht ganz, was nach dem aggressiven Pressing, das nicht über 90 Minuten durchzuhalten ist, kommen solle. Angeblich sollen intern einige Spieler schon Elemente des Nagelsmann'schen Ballbesitzfußballs zurückfordern. Es werde "unheimlich schwer" für Marsch, "wenn er mit dieser Philosophie weitermacht", kommentierte am Wochenende Sky-Experte Dietmar Hamann. Dann werde der Coach mit seinem Team "ein riesengroßes Problem bekommen".
Würde Marsch Mitte der Saison gefeuert, könnte Leipzig aber ein noch größeres Problem bekommen und ein enormes Stück nach hinten geworfen werden. Eine verschenkte Saison droht, man müsste unter einem neuen Trainer vieles neu aufbauen. Weitere Erneuerung (ob mit Marsch oder ohne) scheint durchaus geplant. Ein neuer Sportdirektor soll her, allerdings wird es wohl nicht Michael Edwards vom FC Liverpool, wie RB-Geschäftsführer Oliver Mintzlaff vor der Partie sagte.
Die brisanten Wochen kommen erst noch
Für Zündstoff dürfte schließlich in den kommenden Monaten auch Folgendes sorgen: Erkennen die Jungstars der Leipziger, dass es bergab geht mit der Mannschaft und dass die Qualifikation zur Königsklasse in Gefahr ist, werden sie sich nach größeren Klubs umsehen. Dani Olmo wird ohnehin schon heftig vom klammen FC Barcelona umworben. Aber auch Nkunku und Angeliño stehen im Fokus von europäischen Topklubs.
Langfristig könnte dadurch sogar die Philosophie der Ausbildung junger Top-Talente einbrechen, wenn sie Leipzig nicht mehr als Sprungbrett betrachten. Ein Juwel wie Stürmer Karim Adeyemi von RB Salzburg wird so wohl eher zu den Interessenten aus München, Dortmund oder Liverpool wechseln wollen. Allerdings: Leipzig hat ein Brauseimperium im Rücken und die Möglichkeit, Talente bei weltweiten Kooperations- und Farmteams abzuwerben und auszubilden - und droht somit vergleichsweise weich zu fallen.
Das einzig Positive des Abends für die Leipziger im Duell Red Bull gegen die Katar-Milliarden: Das Team kämpfte sich gegen den Scheichklub PSG zurück, erzielte den späten Ausgleich durch Dominik Szoboszlais Elfmeter (90.) und kann damit im Duell mit Brügge noch um die Europa League kämpfen. Abpfiff. Applaus, die Fans huldigten dem Kampfgeist der Mannschaft, der meist stimmte. Wie auch im Hinspiel. Ein weiteres Déjà-vu. Nur kaufen können die Leipziger sich davon nichts. Die brisanten Wochen, sie kommen jetzt erst noch.
Quelle: ntv.de