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Tyson vs Paul: Geld, Zirkus, Wut Ist das noch Sport? "Respektloser" Netflix-Megakampf erzürnt Boxwelt

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Ist das noch Sport oder kann das weg? Netflix inszeniert einen Box-Showdown zwischen Mike Tyson und Influencer Jake Paul in 300 Millionen Wohnzimmern und verschiebt damit Grenzen. Puristen schimpfen den Kampf eine Farce, aber am Ende kann beim Zirkus niemand wegschauen.

Alles beginnt mit dem legendären Zitat von Mike Tyson: "Jeder hat einen Plan, bis ihm ins Gesicht geschlagen wird." Dann kommt das Promo-Video daher wie ein Trailer für einen Hollywood-Film. Vorgefertigte Box-Szenen erinnern an Streifen wie "Rocky" oder "Creed" und sollen die Sensationsgier anheizen. Dazu sind ein dramatischer Paukenschlag, das Klatschen eines Boxhandschuhs auf ein Pad und Spannung erzeugende Musik zu hören.

Netflix produziert ein neues Multimillionen-Dollar-Projekt und diesmal ist es ein Boxkampf, der live übertragen wird. "So eine große Nacht hat es noch nie gegeben", heißt es in einem der Trailer. Schließlich steigt der legendäre "Iron"-Mike noch einmal in den Ring und gibt sich mit dem Influencer Jake Paul auf die Rübe. Die Sprüche und Zitate in den Vorankündigungen zum so heiß erwarteten wie viel kritisierten Showdown wirken aufgesetzt. Übertrieben. Wie aus einem B-Movie oder Comic. "Er ist ein künstlich hergestellter Killer", sagt Tyson karikaturhaft. "Ich bin ein geborener Killer."

Kurz die Fakten: Mike Tyson ist 58 Jahre alt und hat seit seinem Rücktritt gegen Kevin McBride vor fast 20 Jahren nicht mehr professionell geboxt. Nun kämpft er gegen den 27-jährigen Paul. Der ist eigentlich ein Schauspieler und YouTuber (er machte sich einen Namen in einer Disney-Serie und, kein Scherz, mit Videos wie: "Ich habe das Auto meines Freundes versenkt und ihn mit einem neuen überrascht") und immer noch ein relativer Neuling im Boxsport. Immerhin: Zehn seiner elf Kämpfe bisher konnte er für sich entscheiden. In der Nacht auf Samstag werden mehr als 60.000 Fans ins AT&T Stadium (Heimat des NFL-Teams Dallas Cowboys) in Arlington, Texas strömen - und Millionen Menschen zu Hause den Kampf streamen.

300 Millionen Haushalte schauen zu

Acht Runden à zwei Minuten gibt es, beide Boxer sollen jeweils 25 Millionen US-Dollar (23,5 Millionen Euro) erhalten. Die Übertragung kommt anders daher als bei allen bisherigen Boxkämpfen. Zum ersten Mal überhaupt wird ein Box-Event live auf Netflix gestreamt, zuvor hatte die Streaming-Plattform bereits Live-Golf- und Tennisveranstaltungen gezeigt. Alle Netflix-Abonnenten können den Kampf ohne zusätzliche Kosten ansehen. Viele glauben, es könnte einer der meistgesehenen Boxkämpfe aller Zeiten werden.

Paul, der sich mit Eigenwerbung bestens auskennt, ist natürlich einer davon. "Dies ist buchstäblich der größte Kampf des 21. Jahrhunderts", sagte er, "weil Mike Tyson gegen mich antritt, aber auch, weil er in 700 Millionen Haushalten auf Netflix kostenlos für alle Abonnenten zu sehen ist." Es sind zwar "nur" knapp 300 und nicht 700 Millionen Haushalte weltweit, aber mit dem Hype hat Paul recht. Die Streaming-Plattform DAZN verlangt bei den großen Kämpfen in Saudi-Arabien etwa einen zusätzlichen Pay-Per-View-Preis zum regulären Abonnement. Beim Schwergewichts-Showdown zwischen Tyson Fury und Oleksandr Usyk im Mai waren das in Deutschland 25 Euro.

Seit Monaten diskutieren Experten und ehemalige Boxer über das Mega-Event. Im Vorfeld des Kampfes hat Netflix neben den bombastischen Trailern - logisch - auch eine dreiteilige Dokumentarserie veröffentlicht, die einen Blick hinter die Kulissen der Trainingslager von Tyson und Paul wirft. Aber bei der exorbitanten Marketing-Maschinerie stellen sich zwingend einige Fragen: Ist das noch Sport? Oder ein Scheinkampf zweier Marionetten?

Netflix: Aufmerksamkeit durch Entertainment

Zunächst kann "Tyson vs. Paul" wohl als Vorbote dessen gesehen werden, was die Sportwelt und ihre Fans in Zukunft erwartet. Nach kommerziellen TV-Übertragungen und Fernsehwerbung und nach Pay-Per-View-Events rollt nun die dritte Welle auf die Zuschauer zu, angetrieben von Netflix, Amazon, Apple und Google mit YouTube. Netflix hatte sich zuvor mit erfolgreichen Dokumentationen wie "The Last Dance", "Beckham", oder "Formula 1: Drive to Survive" bereits vermehrt im Sportgeschäft herumgetrieben. Dahinter steckt ein Plan.

Es geht heutzutage um etwas, das man "attention economy" nennt. Eine Wirtschaftsform, in der Unternehmen und Plattformen um die Aufmerksamkeit der Nutzer konkurrieren. Diese Aufmerksamkeit wird in Form von Klicks, Likes, Shares und Bildschirmzeit gemessen. Sport ist - als größtes Entertainment der Welt - ein vitaler Teil davon. Tyson und Paul werden zum Mittel zum Zweck: Es geht um die Monetarisierung des Publikums, um Netflix mehr Abonnenten zu bescheren. Der Box-Showdown ist der erste große Live-Sport-Startschuss für Netflix, bevor an Weihnachten Live-Spiele der NFL und im kommenden Jahr World Wrestling Entertainment-Veranstaltungen gezeigt werden. Zunächst alles ohne ein Pay-per-View-Modell oder zusätzliche Kosten.

Weltweit sinken die Einschaltquoten im Fernsehen, doch der Sport widersetzt sich stur. Übertragungen der NFL, der Olympischen Spiele oder der Fußball-Europameisterschaft sorgen für Rekordeinschaltquoten in den USA und in Europa. Kein Wunder also, dass Medien- und Technologiegiganten sich zunehmend auf Live-Sport konzentrieren. Netflix hofft mit dem Showdown nun, zwei große Märkte auf einmal zu erschließen: die Babyboomer und die Generation X, die mit Tyson aufgewachsen sind, sowie die jüngeren Generationen, die Paul verehren.

Angst um Tysons Gesundheit

Der Boxkampf bekommt jedoch viele negative Schlagzeilen ab. Boxfans lassen online ihrer Wut freien Lauf, weil Inszenierung noch nie so großgeschrieben wurde bei einem Sport-Event. Obwohl Entertainment heutzutage freilich zur Sportnormalität gehört: Dass der Kampf ausgerechnet auf Netflix läuft, der größten Plattform für Serien und Filme, also Aufmerksamkeitsfutter mit fest vorgeschriebenen Drehbüchern, ist eine neue Dimension. Bei "Tyson vs. Paul", so lautet die Kritik, verkommt der Sport zu einem vorgefertigten, inszenierten Streaming-Paket. Der Kampf verschiebt Grenzen im Hinblick auf Fusion von Sport und Unterhaltung und stellt - unbeabsichtigt - infrage, was noch Sport ist und was nicht.

Der Showdown versucht, den Mythos aufzuwärmen und zu verkaufen, dass der 58-jährige Tyson ein echter Krieger war und ist, der sich im Kampf mit dem frechen neuen "Gesicht des Boxsports" (Netflix-Trailer) ein letztes Mal beweisen muss. Es ist die uralte Geschichte: Kann der alte König den jungen Herausforderer besiegen? Experten und Boxsportfans glauben diese Sage nicht und grübeln, warum Tyson, der 1986 mit 20 Jahren der jüngste Schwergewichtsweltmeister in der Geschichte wurde, sich das antut. Geld, lautet die einfache Antwort. Das ist diesmal deutlicher als bei jedem anderen Kampf zuvor, im oft dubiosen, schmutzigen Box-Business, in dem gehypte Duelle etwa mit MMA-Stars in den vergangenen Jahren Standard geworden sind.

Viele fürchten jedoch, dass Tyson seine Reputation aufs Spiel setzt. Und seine Gesundheit, schließlich musste der 58-Jährige den Kampf im Sommer aufgrund eines Magengeschwürs absagen und auf den November verschieben. Tyson selbst sagte am Donnerstag im Interview mit dem Nachrichtenportal t-online zum Start seiner Vorbereitung auf das Duell: "Oh Gott. Alles tat weh, ich weinte vor Schmerzen. Nicht mal meine Frau durfte mich anfassen, so schlimm war es." Wobei infrage gestellt werden darf, ob der Kampf überhaupt in eine gesundheitsgefährdende Richtung gehen würde, oder ob nicht vorher das Handtuch geworfen wird oder der Ringrichter abbricht. Außerdem werden die Boxer dicker gepolsterte 14-Unzen-Handschuhen anstelle von normalen tragen.

"Respektlos gegenüber dem Boxen"

Der Promoter Eddie Hearn, der enge Verbindungen zu Saudi-Arabien und damit auch zu DAZN pflegt, bezeichnet den Kampf als "gefährlich, unverantwortlich und respektlos gegenüber dem Boxen". Der ehemalige WBA-Weltmeister im Federgewicht Barry McGuigan, der vor 40 Jahren in seinen besten Jahren war, fasst das Unbehagen des Boxens wie folgt zusammen: "Ich bin 63 und Tyson ist nur fünf Jahre jünger", sagte der Ire jüngst dem britischen "Observer". "Die Vorstellung, dass er gegen irgendeinen Typen boxt, selbst wenn dieser nur durchschnittlich ist, ist in diesem Alter einfach so falsch. Man ist sein Ruf. Daran erinnern sich die Leute. Und ich erinnere mich an Mike Tyson als eine Abrissmaschine."

Heute ist diese Maschine, die an einigen der brillantesten, erschütterndsten und schändlichsten Kämpfe des Sports beteiligt war, aber ein 58-jähriger Mann. Und so einer "sollte nicht kämpfen", fügte McGuigan mit Blick auf die Gefährdung von Tysons Gesundheit hinzu. "In diesem Alter verschwindet die Schlagresistenz unweigerlich." Tyson sei "wirklich einer der gefährlichsten Schwergewichte" aller Zeiten gewesen, so McGuigan, aber er habe nun Angst, dass es nur "choreografierter Unsinn" wird und die Leute in 20 Jahren sagen: "Oh, das ist der Typ, der diesen Scheinkampf mit diesem YouTuber hatte."

Auch wenn Jake Paul erst gegen einen echten aktiven Boxer gekämpft - Tyson Furys Halbbruder Tommy - und dabei verloren hat, ist er tatsächlich zu einem der neuen Gesichter des Boxens geworden. Weil sich bei der Sportart eben die Grenzen verschieben, wofür der Netflix-Showdown sinnbildlich steht. Wobei infrage gestellt werden darf, ob Paul ein Sieg gegen einen pensionierten Senior wirklich helfen würde, wie gewünscht sein Standing im Boxen zu verfestigen. Aber auch wenn Boxsport-Puristen das stört: Seine Duelle gegen ausgediente MMA-Fighter, Promi-Boxer oder Bare-Knuckle-Champions zogen die Massen an und sorgten für eine Welle des Interesses am Boxen, besonders bei neuen, jüngeren Fans. Schließlich hat der Influencer eine riesige Fangemeinde in den sozialen Medien und versteht es, diese brillant zu bedienen und auszunutzen. Nur wenige Boxer haben in den letzten Jahren so viel Geld mit dem Sport verdient wie er.

Dumme Idee, jeder schaut zu

Pauls Duell mit Altmeister Mike Tyson zählt als ein offiziell genehmigter Profikampf. Zwar wird er in die Bilanzen beider Boxer eingehen, aber den Netflix-Mantel des puren Entertainments kann er nicht abschütteln. Abseits seiner Fangemeinde erntet der Influencer hauptsächlich Spott, es ist von Farce oder Zirkus die Rede: "Ich kann Jakes nächsten Kampf gegen Muhammad Ali kaum erwarten", kommentiert ein YouTuber-User unter einem Netflix-Trailer. Als Paul im Juli seinen zehnten Profikampf mit einem technischen K.o. in der sechsten Runde gegen Bare-Knuckle-Kämpfer Mike Perry gewann, sagte Ex-UFC-Fighter und heutiger Kommentator für den TV-Sender CBS, Josh Thomson: "Wie lange wollen wir noch so tun, als würde Jake Paul Leute seiner Größe oder seines Alters besiegen? Gegen den einzigen Gegner seiner Größe und seines Alters hat er auch verloren."

Und so verliert sich dieses Spektakel im Nichts. In einer Farce. Gewinnt Jake Paul, hat das keine Bedeutung, denn Mike Tyson ist bereits Jahrzehnte nicht mehr "Iron"-Mike. Siegt der Box-Opa, interessiert das auch nicht, schließlich kämpft der Ex-Youtuber erst seit 2020 professionell und hätte gegen Weltmeister aus dem Cruisergewicht keine Chance.

Ist das noch Sport oder kann das weg? Sicher ist: Beide Männer sind nach dem Zirkus am Samstagmorgen deutscher Zeit um mehrere Geldkoffer reicher. Und Netflix wird den unaufhaltsamen Weg in den Live-Sport erfolgreich gestartet - und die Grenzen der Sportwelt noch ein Stück mehr verzerrt haben. Ein weiterer Kommentar unter einem Promo-Video fasst die Inszenierung zusammen: "Ist das dumm? Ja. Werde ich mir das ansehen? Ja."

Quelle: ntv.de

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