Phillys peinlicher Gruselstart Von wegen Titelfavorit: Dieses Superteam ist Vorletzter
23.11.2024, 19:45 Uhr
Der Saisonstart von Joel Embiid und den 76ers ging gründlich in die Buchse.
(Foto: USA TODAY Sports via Reuters Con)
Als großer Gewinner der Offseason gehandelt, stehen die Meisterschaftsanwärter aus Philadelphia nach mehr als vier Wochen auf dem vorletzten Tabellenplatz. Vor allem Superstar Joel Embiid kommt aus den Negativ-Schlagzeilen nicht heraus. Dem Klub droht die Zeit davonzulaufen.
Es ist die größte Blamage in der noch jungen NBA-Saison: Meisterschaftsanwärter und Traditionsklub Philadelphia 76ers rangiert nach mehr als vier Wochen auf dem vorletzten Tabellenplatz. Nicht im Osten, sondern in der gesamten NBA. Selbst Teams im dreisten "Tanking Modus", also im Wiederaufbau, liegen aktuell vor den Sixers. Die haben 12 ihrer ersten 15 Duelle verloren, stellen die schlechteste Offensive der Liga und kommen aus den Negativ-Schlagzeilen derzeit nicht mehr heraus.
Nach der Niederlage gegen Miami am Montag - der vierten in Folge, alle deutlich im zweistelligen Punktebereich - setzte Veteranen-Guard Kyle Lowry ein Team-Meeting an. Es wurde hitzig in der Umkleide, Spieler konfrontierten und forderten sich gegenseitig zu mehr Nachdruck und Professionalität auf. Vor allem Tyrese Maxeys offene und harsche Worte an seinen guten Kumpel Joel Embiid, der Berichten zufolge "immer zu allem zu spät komme", sorgten für Aufsehen.
"Ich wollte Klartext reden", erklärte Point Guard Maxey am Tag danach. "Ich wollte mitteilen, dass wir so viel besser sind als das, was wir bisher gezeigt haben. Es wurde viel geredet, aber wir haben ausgesprochen, was wir aussprechen mussten. Wir müssen jetzt Lösungen finden für den Rest der Saison. Jeder ist ein bisschen down im Moment, aber jeder hier versteht, was auf dem Spiel steht ..." Und auf dem Spiel steht alles für eine Franchise, die seit 2000/01 nie mehr als eine Playoff-Serie gewinnen konnte und diesmal "all-in" ging.
NBA Champions ... der Offseason
Als große Gewinner des Transaktions-Sommers wurden die 76ers gehandelt. Eigentlich schien das Team aus der "Stadt der brüderlichen Liebe" alles richtig gemacht zu haben. Präsident Daryl Morey verpflichtete oder verlängerte nicht nur wichtige Rollenspieler wie Andre Drummond, Guershon Yabusele, Kelly Oubre, Kyle Lowry, Reggie Jackson, Eric Gordon und Caleb Martin, sondern landete mit All-NBA Flügelspieler Paul George auch den größten und begehrtesten Free Agent auf dem Transfermarkt. George, der in seiner Karriere bereits neunmal im All-Star Team stand und als einer der besten Two-Way-Spieler der Welt gilt, erhielt einen neuen Vierjahresvertrag über 212 Millionen US-Dollar, um künftig an der Seite der anderen beiden Sixers-Stars die hohen Ziele Realität werden zu lassen.
Tyrese Maxey, der große Aufsteiger der Vorsaison und amtierender Most Improved Player, verlängerte um fünf Jahre und 204 Millionen Dollar. Center Joel Embiid, der Superstar dieses Teams und Most Valuable Player 2023, der mit der US-Nationalmannschaft olympisches Gold in Paris abräumte, erhielt ebenfalls einen üppigen neuen Deal: 193 Millionen Dollar über weitere drei Jahre, für insgesamt 300 Millionen Dollar in dieser und den nächsten vier Saisons. Mehr als 180 Millionen Dollar zahlt die umstrittene Besitzer-Gruppe um die Private Equity Investoren Josh Harris und David Blitzer alleine in diesem Jahr an Spielergehältern, einer der höchsten Werte ligaweit.
Die talentierteste und am besten zusammenpassende Gruppe von Stars in der Embiid-Ära wurde als perfekte Symbiose aus Qualität und Persönlichkeiten angesehen, um diesen Klub auf ein neues Level zu hieven. Nachdem es mit Jimmy Butler über Ben Simmons zu James Harden an Embiids Seite jahrelang nicht geklappt hatte, die Conference Finals zu erreichen, schienen die Weichen in dieser Saison auf den ultimativen Durchbruch gestellt zu sein. Alle Projektionen und Prognosen platzierten die 76ers in der absoluten Beletage der NBA, unter den besten drei, vier Teams der Liga.
Megastar Embiid in der Kritik
Stattdessen wurde der Start zum absoluten Alptraum. Embiid kam, trotz Olympia, übergewichtig und außer Form ins Camp. Weil der Superstar und Franchise-Spieler chronisch verletzt ist und immer wieder in der wichtigsten Saisonphase ausfällt oder angeschlagen aufläuft - vergangene Saison fehlte er mit einem Meniskusleiden und schleppte sich mit einer halbseitigen Gesichtslähmung durch die Playoffs -, entschieden sie im "Keystone State", ihren 135-Kilo-Koloss zu schonen und nicht in Back-to-back-Partien einzusetzen. Diese geheimnistuerische Entscheidung und die anschließende Kommunikation verärgerte nicht nur Dauerkartenbesitzer, sondern rief auch die NBA auf den Plan, die Philadelphia mit einer symbolischen Geldstrafe für "Verschleierung" belegte.
Während der zweifache Scoring-Champion die ersten sechs Saisonspiele verpasste, um sein "Knie zu managen", wie es offiziell hieß (und sein Team mit 1:5 ins anvisierte Championship-Jahr startete), geriet der Star mit einem örtlichen Journalisten aneinander, der eine reißerische und vulgäre Kolumne über Embiid und dessen Familie aufgesetzt hatte. Die NBA sperrte den siebenfachen All-Star für drei Partien. Als er vergangenes Wochenende gegen die New York Knicks in den Kader zurückkehrte, hatte Philly bereits sieben von neun verloren. Seither setzte es fünf weitere Pleiten in Folge.
Auf dem Parkett wirkt der 30-Jährige bisher wie ein Schatten seines dominanten Selbst. Er spielt passiv, fast ängstlich. Gegen Miami blieb er zuletzt ohne einen einzigen Freiwurfversuch - zum ersten Mal seit 2018. In den vergangenen Jahren stand Embiid zusammen mit Giannis Antetokounmpo am häufigsten im Schnitt an der Linie - mehr als zehnmal pro Abend. Dort holt sich der 2,13-Meter-Riese oft den nötigen Wurfrhythmus, der ihn dann dank seiner verheerenden Mischung aus Power und Finesse zur unaufhaltsamen Inside/Outside-Naturgewalt macht. Bisher traf Embiid in jeder Partie 2024/25 weniger als die Hälfte seiner Versuche aus dem Feld.
Besteht Hoffnung auf Besserung?
Will dieses Team seine hochgesteckten Ziele erreichen, muss der Kameruner seine MVP-Form wiederfinden. Embiid soll die Kritik der Teamkollegen zwar akzeptiert und verinnerlicht haben, zeigte sich aber irritiert und verwirrt, sowohl von der Tatsache, dass Interna nach außen drangen, als auch vom Plan der Sixers auf dem Parkett. Dass er danach Besserung gelobte und durchsickern ließ, er müsste seine eigene Herangehensweise überdenken, lässt alle im Sixers-Umfeld zumindest hoffen, dass ein Licht angegangen ist.
"Ich versuche, mich wiederzufinden. Dass ich krank war, hat nicht geholfen. Aber wir haben ein neues Team, viele neue Spieler. Ich versuche auszuloten, wie ich am besten helfen kann. Ich kann natürlich rausgehen und 20, 25 Würfe nehmen wie immer, aber ich versuche, die richtige Mischung zu finden, während wir uns alle kennenlernen. Vielleicht muss ich das angesichts unserer Bilanz ändern. Vielleicht muss ich aggressiver sein. Ich kann mir gut vorstellen, dass ich in den nächsten Partien aggressiver zu Werke gehe und mehr selbst erledige."
Es gibt auch Lichtblicke in Philly. Der Franzose Guershon Yabusele etwa, der seine sensationelle Olympia-Form konservierte und sich mit 9,3 Punkten und 4,8 Rebounds im Schnitt bei 42 Prozent Dreierquote mehr als eindrucksvoll in der NBA zurückgemeldet hat. Dort versuchte er einst (2017 bis 2019 im Trikot der Boston Celtics) vergeblich Fuß zu fassen. Nach Abstechern in die chinesische CBA, zu ASVEL in die französische Liga sowie in die ACB zu Real Madrid, mit denen er zweimal die spanische Liga, dreimal den Pokal und einmal die Euroleague gewann, brillierte der ehemalige Erstrundenpick (Nummer 16 in 2016) in diesem Sommer im Trikot der französischen Nationalmannschaft und spielte sich endgültig zurück auf den NBA-Radar.
Neuling McCain nutzt die Gunst der Stunde
Auch NBA-Neuling Jared McCain nutzte die Gunst der Stunde und vertrat den verletzten Maxey in derart überragender Manier, dass er sich nicht nur als früher Favorit auf den Rookie of the Year Award aufdrängt, sondern Fans auch träumen lässt. Davon, dass McCain dank seiner Scorer-Qualitäten (15,6 Punkte in durchschnittlich 22,6 Minuten Einsatzzeit, bärenstarke 25,8 PPG als Starter in vier Partien) schon in diesem Jahr zur idealen Bank-Mikrowelle in einer eventuellen Playoff-Rotation avancieren kann. Dass McCain bisweilen der beste Angreifer dieses Teams sein musste, spricht natürlich nicht für die Stars.
"Jared spielt unglaublich. Er weiß, dass er hierher gehört, und das zeigt er auch. Seine Zukunft ist strahlend", sagt Teamkollege George. "Um ehrlich zu sein, war er bisher unser konstantester Spieler. Das kann eigentlich nicht sein, wir alle müssen uns an die Nase fassen und unseren Sch*** zusammenkriegen." Damit nimmt auch George, analog zu Embiid, die Verantwortung auf seine Kappe. In der Tat müssen sowohl er (14,9 Punkte pro Partie bei 38 Prozent Trefferquote), Maxey (39 Prozent aus dem Feld) als auch Embiid (19,8 Punkte bei 38 Prozent Trefferquote) besser sein. Fakt ist aber auch: Das kolportierte Superteam hatte bisher so gut wie keine Gelegenheit, seine Star-Power auszuschöpfen. Will dieser Klub die Kehrtwende schaffen, müssen die Big Three endlich in einen Rhythmus kommen. Das wird, beim Blick auf die medizinische Akte der Protagonisten und den Langzeitplan, im Frühling abzuliefern, immer schwieriger.
Endlich mal gemeinsam auf dem Feld
Im Spiel gegen die Memphis Grizzlies stand das Trio zum ersten Mal überhaupt gemeinsam auf dem Parkett - inklusive Preseason. In insgesamt knapp sechs Minuten lag die Mannschaft knapp im Minus, erzielte acht Punkte und kassierte neun, ehe Maxey, der nach sechs verpassten Partien in den Kader zurückkehrte, für den Rest der Halbzeit geschont wurde. Nach der Pause war dann schon nach 40 Sekunden wieder Schluss, George verletzte sich zum zweiten Mal innerhalb von 37 Tagen am linken Knie und musste ausgewechselt werden. Der All-Star scheint Glück im Unglück gehabt zu haben, zog sich nur eine Prellung im Kniegelenk zu, strukturell soll laut Untersuchungen alles in Ordnung sein. Dennoch fällt er für mindestens zwei Partien aus, bevor er kommende Woche neu eingestuft wird und vielleicht zurückkehren kann.
Bis dahin hat Nick Nurses Team gegen Brooklyn (113:98) und die L.A. Clippers Gelegenheit, ein Mini-Comeback zu starten. Sollte Philadelphia die Kurve kriegen und am Ende die Eastern Conference Finals oder sogar die NBA Finals erreichen, wird dieses dunkle Kapitel zu Beginn dieser Saison schnell vergessen sein. Eine 82-Spiele-Saison ist ein Marathon, kein Sprint. Ein lahmer Start ist kein definitives Todesurteil - zumal nicht im neuen Postseason-Format und in dieser heuer so schwachen Eastern Conference. Trotz katastrophalem erstem Monat bleiben die Sixers nur vier Siege von Rang zehn und einem Play-In Platz entfernt ... das sind ein, zwei gute Wochen in der NBA.
Allerdings ist die Geschichte nicht auf Phillys Seite: Von bisher 108 Teams, die mit einer 2:11 Bilanz oder schlechter in eine Saison gestartet sind, haben nur acht die Playoffs erreicht und nur drei am Ende mehr als die Hälfte ihrer Partien gewonnen. Dieses Team müsste 40 seiner verbleibenden 68 Duelle gewinnen - eine knapp 60-prozentige Erfolgsquote - um über die 50-Prozent-Marke zu klettern. Qualität, Talent und überwältigende Star-Power ist bei diesen Philadelphia 76ers mehr als in Fülle vorhanden. Allein, es rinnt ihnen langsam, aber sicher die Zeit davon.
Quelle: ntv.de