Kieferbruch und Faustgewitter Usyk gelingt Sensations-Comeback im Jahrhundertkampf
19.05.2024, 07:19 Uhr
Plötzlich war er zurück: Oleksandr Usyk vermöbelt Tyson Fury.
(Foto: AP)
Es gibt wieder einen unumstrittenen Schwergewichts-Champion: Der Ukrainer Oleksandr Usyk besiegt im Duell um die wichtigsten WM-Titel den Briten Tyson Fury und schreibt Geschichte. In der spektakulären neunten Runde verändert sich der Kampf komplett.
Für einen Moment sah es so aus, als sei Tyson Fury ein guter Verlierer. Er hatte diese Qualität ja bislang nicht nachweisen müssen. Tyson Fury, dieser ständig provozierende Schwergewichtshüne aus England, hatte in seiner Karriere zuvor alles kurz und klein geboxt. Als der Gong nach der zwölften Runde des gigantischen Kampfs gegen Oleksandr Usyk ertönte, nahm Fury seinen ukrainischen Kontrahenten in den Arm und drückte ihm ein paar Küsschen auf den Kopf. Ob er in diesem Moment ahnte, dass er tatsächlich zum ersten Mal verloren hatte? Man weiß es nicht. Aber er musste eigentlich. Zu deutlich war der Kampf ab der neunten Runde aus seinen Händen geglitten. Zu beeindruckend hatte sich Usyk erhoben und war nah dran, den Hünen auf die Bretter zu nageln.
Aber keiner der Giganten fiel. Bis zur Mitte des Fights, der als "Kampf des Jahrhunderts" ausgerufen worden war, war es Usyk gewesen, der wie der sichere Verlierer aussah. Mit brachialen Aufwärtshaken setzte Fury seinem Kontrahenten zu. Der musste heftig einstecken, nahm die Schläge aber hin. Und brach sich dabei offenbar den Kiefer. Der Ukrainer musste mit Verdacht auf diese Verletzung später ins Krankenhaus. Usyk tat es damit dem legendären Muhammad Ali gleich, der einst ebenfalls mit gebrochenem Kiefer gegen Ken Norton fightete. Kleine, interessante Parallele: Usyk ist am gleichen Tag geboren wie Ali (17. Januar), exakt gleich groß (1,91 Meter) und hat die exakt gleiche Reichweite. Nur beim Gewicht hatte der Amerikaner ein bisschen mehr zu bieten als Usyk.
Fury wittert kleine Verschwörung
Die immer mal wieder aufgeworfene These, dass ein Typ wie Ali in der heutigen Zeit gegen die Hünen des Schwergewichtsboxens - gegen Fury, einen Anthony Joshua oder auch vor ein paar Jahren noch gegen die Klitschkos - nicht gewinnen könne, kann mit diesem denkwürdigen Samstagabend in die Tonne gekloppt werden. Durch den 22. Sieg im 22. Profikampf nahm der bisherige WBA-, WBO- und IBF-Weltmeister Usyk seinem Gegner den Titel des Verbandes WBC ab. Er steht nun auf einer Ebene mit Ali, Mike Tyson oder Max Schmeling, die sich ebenfalls "Undisputed"-Schwergewichts-Champions nennen durften. Usyk ist auch der erste Kämpfer seit Evander Holyfield, der unumstrittener Champion im Cruiser- und Schwergewicht ist. Er ist damit die größte Box-Ikone seines Landes, noch vor den legendären Klitschko-Brüdern.
Dieser Abend, besser diese Nacht, endete derweil wieder einmal mit einem Fury, der pöbelte und nicht anerkennen wollte, was die Punktrichter entschieden hatten (115:112 für Usyk, 114:113 für Fury, 114:113 für Usyk). "Ich glaube, ich habe gewonnen. Er hat ein paar Runden gewonnen, aber ich die meisten", bellte der Engländer, er war mit dieser Einschätzung weitgehend allein. Dann schob er verschwörerisch hinterher: "Sein Land ist im Krieg. Die Leute sind auf der Seite des Landes, das sich im Krieg befindet." Fury kündigte an, die im Vertrag verankerte Rückkampf-Klausel ziehen zu wollen. Usyk nahm die Revanche noch im Ring an. Das Re-Match soll voraussichtlich im Oktober stattfinden.
"Das war ein Kampf für die Geschichtsbücher, mit dem Comeback des Jahres", urteilt unser ntv.de-Boxexperte Andreas von Thien. "Was für eine Achterbahnfahrt, was für ein Auf und Ab." Tatsächlich hatte bis zur achten Runde nichts darauf hingedeutet, dass Usyk diesen Kampf gewinnen könnte. Fury kontrollierte den Kampf und ließ seinen Kontrahenten nie in die gefährliche Nähe kommen. Usyk konnte nur in der ersten Runde mithalten und musste danach mit seinen beeindruckenden Nehmerqualitäten harte Schläge verdauen. Aber was dann in der neunten Runde passierte, das war episch. "Dem Kampf war ja vorher der Name 'Ring of fire' verliehen worden und in der neunten Runde hat der Ring wirklich gebrannt", so von Thien. Plötzlich war Usyk da. Und wie. "So eine Auferstehung, die schaffen nur absolute Weltklassesportler. Er hat sein Herz in die Hand genommen und die Fäuste fliegen lassen. Mit seiner linken Schlaghand hat er Fury ordentlich durchgeschüttelt."
Ringrichter verhindert k. o. von Fury
Schon Ende der achten Runde hatte sich angedeutet, dass sich die Gewichte im Ring verschieben. Fury war nicht mehr so beweglich wie zuvor, kam mit seinen brutal harten Händen nicht mehr durch. Bis dahin war Usyk nicht viel gelungen. "Er war nicht variabel genug", analysiert von Thien, "er hatte keine Durchschlagskraft und ließ sich von Furys Provokationen ablenken." Doch dann, wie aus dem Nichts, traf Usyk in der achten Runde. Bei Fury floss erstmals Blut. "Das hat ihn irritiert", so von Thien. Was dann kam, war einfach nur für die Geschichtsbücher. Wie ein wilder Stier hämmerte der Ukrainer auf Fury ein. Der wusste gar nicht mehr, wie ihm geschah. Der pendelte und fiel beinahe. Der Ringrichter ging dazwischen, zählte ihn an. Das verhinderte wohl den Knockout. Durch das lange Anzählen und lange Fragen des Ringrichters nach Furys Befinden fehlten Usyk wichtige Sekunden am Ende der Runde, um womöglich noch den finalen Schlag zu landen.
Danach spielte der Ukrainer seine grandiose Kondition aus. Er hatte deutlich mehr Sprit im Tank als der taumelnde Riese aus England. Usyk bestimmte das Tempo, landete die Treffer. Mit diesem großartigen Sieg hat der Ukrainer endgültig das Ticket für das Box-Pantheon gelöst und sitzt dort nun neben Lennox Lewis, neben Evander Holyfield, neben Ali, den Klitschkos und wie alle diese Champions der Ahnengalerie sonst noch so heißen. "Usyk hat diesen Joker, die neunte Runde, gebraucht. Sonst wäre er der sichere Verlierer gewesen. Er hat jetzt als Erster den Fury-Code entschlüsselt und ist der verdiente Sieger", findet der ntv.de-Experte. "Ich bin froh über das Urteil der Ringrichter und dass Usyk am Ende, Pardon, nicht beschissen worden ist. Der Boxsport hat einen großen, verdienten Champion und darf sich selbst als großer Gewinner dieses Abends in Riad fühlen." Saudi-Arabien dient sich im Zuge seines groß angelegten Sportwashings als neue Heimat des Top-Boxens an.
Nach dem Sieg wurde es emotional. Usyk, der Volksheld, richtete sich an seine Familie, an sein Land. "Es war so eine große Möglichkeit für mich, für meine Familie und mein Land. Ruhm der Ukraine." Er widmete den Sieg den Soldaten, die jeden Tag ihr Land gegen die russische Armee verteidigen und die seinen Kampf, so sagte Uskys Promoter, in den Schützengräben an der Front geschaut haben. Ein großer Moment, auch für die Motivation der Soldaten, so sagte er weiter, sei dieser Abend. "Ich glaube, mein Vater schaut auf mich herab und ist sehr glücklich", sagte Usyk noch, dessen Vater 2012 verstorben war: "Papa, ich liebe dich. Ich kann es - und du hast es mir gesagt." Undisputed"-Champion, Usyk hat Geschichte geschrieben, an einem epischen Abend.
Quelle: ntv.de