Kerber ist auch ohne Krone die Beste Von der Zweiflerin zur Zermürberin
30.10.2016, 15:53 Uhr
Jawohl, das war ganz stark dieses Jahr.
(Foto: dpa)
Singapur ist für Angelique Kerber Fluch und Segen. Zwar verpasst sie hier die Krönung einer fast perfekten Saison. Dennoch ist Singapur der Ort, an dem Kerber in nur einem Jahr die Wende von der Zaudererin zur Allerbesten geschafft hat.
Ihr Smartphone hat Angelique Kerber irgendwo versteckt. In diesem Moment braucht sie es nicht. Denn es ist ja eigentlich kein schlechter. Auch wenn die am Ende einer unglaublich anstrengenden aber extrem erfolgreichen Saison völlig ausgepumpte Deutsche das WTA-Finale in Singapur gerade eben erst gegen die slowakische Powerspielerin Dominika Cibulkova verdient verloren hat. Andererseits wäre dieser Moment die perfekte Gelegenheit für eine erneute SMS. Der Inhalt: "Es hat geklappt mit mir." Der Adressat: Angelique Kerber selbst. Die Botschaft: Selbstheilung in zwölf Monaten. Erfolgreicher Abschluss der Therapie von der Zweiflerin zur Zermürberin, wie sie die "Zeit" im September würdevoll adelte, unmittelbar nachdem sie bei den US Open zur Weltranglisten-Ersten aufgestiegen war. Angelique Kerber ist und bleibt die Tennis-Königin, wenn auch die Krönung als Weltmeisterin ausgeblieben ist. Sie beendet das Jahr als Nummer eins der Welt. Es endet wieder in Singapur, wo vor zwölf Monaten alles zusammenzubrechen drohte, wo eine SMS an ihren Coach alles änderte.
- Geboren wurde Angelique Kerber am 18. Januar 1988 in Bremen.
- Ihre erste Profisaison spielte Kerber im Jahr 2003.
- Ihre Karrierebilanz im Einzel lautet: 511 Siege, 265 Niederlagen.
- Auf der WTA-Tour hat sie bislang zehn Titel gewonnen, davon zwei Grand-Slam-Siege (Australian- und US-Open) im Jahr 2016.
- In ihrer bisherigen Karriere kommt sie auf ein gespieltes Preisgeld von über 18 Millionen US-Dollar, mehr als elf davon hat sie dieses Jahr eingespielt.
Angelique Kerber ist eine Kämpferin. Jede Gegnerin weiß das. Wer sich mit der Deutschen auf dem Court anlegt, der muss mit härtester Wehrhaftigkeit rechnen. Unermüdlich, bissig, aggressiv – einfache Punkte gegen die 28-Jährige gibt es nicht. Die gebürtige Bremerin ist keine, die die Zuschauer mit der Ästhetik und Anmut einer Mary Pierce in Ekstase versetzt. Sie ist keine, die die kleine Filzkugel so wüst, wild und kraftvoll-schön windelweich prügelt wie Disziplinen-Dominatorin Serena Williams. Kerber fightet. Besser und leidenschaftlicher als derzeit jede andere auf Tour. Sie hat etwas, was die anderen nicht haben. Oder nicht so sehr. Ihren fast wahnsinnigen Willen. Ihre Faust, ihre Augen, ihre körperliche Präsenz: Kerber zermürbt ihre Gegnerinnen mit ihrem unverkennbaren Selbstvertrauen. Wer versucht, die Deutsche ins Zweifeln zu bringen, der verzweifelt zumeist selbst. Mittlerweile.
Pure Verzweiflung als Erweckungsmoment
Noch vor genau einem Jahr scheiterte Kerber in Singapur, beim Turnier der besten acht Spielerinnen der Welt,bereits in der Gruppenphase. Sie haderte. Mit sich. Mit der Auslosung. Mit den Ansetzungen. Kerber ließ sich runterziehen, war frustriert, zeigte negative Emotionen. Die pure Verzweiflung war der größte Erweckungsmoment. Kerber fing an, sich locker zu machen. Im September, nach ihrem zweiten Grand-Slam-Triumph in diesem Jahr, sagte sie unter anderem gegenüber der "Süddeutschen Zeitung": "Singapur war der Knackpunkt, das war das letzte Mal, dass ich Druck zugelassen habe. Wer immer wieder den gleichen Fehler macht, der muss irgendwann daraus lernen." Der gewollte Effekt trat ein, schnell und beeindruckend. So beeindruckend, wie es ihr kaum (noch) jemand zugetraut hätte.
Als Angelique Kerber auf dem Höhepunkt ihrer Karriere ankommt, ist sie bereits 28. Ein Wunderkind war sie nie. Eine neue Steffi Graf - mit der sie jetzt verglichen wird - erst recht nicht. Ihren ersten größeren Titel feiert sie im Februar 2012 bei einem Hartplatzturnier in Paris - mit 24 Jahren, andere haben da ihre Karriere schon fast hinter sich. Eine besonders herzreißende, rührende, niedliche Geschichte hat Kerber nicht zu erzählen. Dafür eine, die als typisch deutsch gelten kann, wie es die "Zeit" einmal schrieb. Kerber ist vom Fleiß getrieben. Mit jeder Niederlage arbeitet sie härter an sich. Zu ihrer Cleverness auf dem Court und ihren stark Grundschlägen kommt eine unglaubliche Physis. Produkt harter Arbeit. Produkt eisernen Willens. Ihre Schwächen - bis auf den Aufschlag - macht sie zu ihren Stärken. Sie ist nicht mehr nur die beste Konterspielerin der Welt. Sie attackiert ihr Gegnerinnen früh, gestaltet die Ballwechsel mit aggressiver Spielweise - und hat ihre Nerven mittlerweile im Griff.
Bei den Australian Open Anfang des Jahres, dem ersten großen Turnier nach dem an sich selbst gerichteten Versprechen, trifft Kerber auf Serena Williams. Die Deutsche, die sich keinen Druck mehr machen will, spielt gegen die Amerikanerin, die alles gewonnen hat. Kerber startet fantastisch, gewinnt den ersten Satz, dann schwächelt sie. Ganz anders Serena Williams. Wieder kein Titel? Wieder Nervenflattern bei Kerber? Sie hält dagegen, unbeeindruckt von der Gegnerin. Beeindruckend für die Zuschauer. Kein Druck mehr und auch keine Nerven. Kerber gewinnt, nutzt nach 2:09 Stunden ihren ersten Matchball, fast anderthalb Millionen Deutsche schauen live zu. Für Graf'sche Euphorie-Momente sorgt sie zwar nicht, aber Tennis ist in Deutschland plötzlich wieder ein Thema. Und Kerber, die sich am 21. Mai 2012 als siebte deutsche Tennisspielerin überhaupt in die Top Ten schob und dort seitdem verharrt, ist auf einmal Star. Auf einmal gefragt.
Sie lässt sich nicht mehr umwerfen
Doch zum Dauergast in deutschen Wohnzimmern wird Kerber nicht. Sie ist mehr Athletin als Tennis-Darling. Als sie dann zu Beginn der diesjährigen Sandplatzsaison dreimal in Serie Erstrundenpleiten kassiert, unter anderem bei den French Open, ist die zaghafte Begeisterung um die Kielerin ratzfatz beendet. Aber Kerber lässt sich nicht umwerfen, erreicht wenig später das Finale von Wimbledon, steht im olympischen Endspiel. Auch wenn beide Partien verloren gingen - Wimbledon gegen Williams und Rio gegen Sensations-Olympiasiegerin Monica Puig aus Puerto Rico - die Deutsche hat sich in der absoluten Weltspitze festgebissen. Sie gewinnt mittlerweile viele, wenn auch nicht alle großen (und engen) Spiele. Doch dann kommt der September, dann geht's in den Flushing-Meadows-Park in New York. Kerber gewinnt die US Open gegen Karolina Pliskova. Weil die Tschechin eine Runde zuvor Serena Williams aus dem Turnier geschubst hatte, ist die Deutsche nicht nur zweifache Grand-Slam-Siegern sondern plötzlich auch offiziell die beste Spielerin des Planeten, topplatziert in der Rangliste. Als erste Deutsche seit Steffi Graf.
Die Filzkugel-Welt hat eine neue Königin. Deutschland nach der Gräfin wieder eine Tennis-Adelige. Und das alles wegen einer SMS aus Singapur. Verschickt von Kerber Ende Oktober 2015. An ihren Coach Torben Beltz. Der Inhalt: "Das soll einfach nicht klappen mit mir, oder?" Die Antwort zwölf Monate, 81 Spiele und ein bitter verlorenes WTA-Finale später: Doch, das tut es. Auch ohne Krone.
Quelle: ntv.de