Schach-Gipfel endet unwürdig "Was für ein supertrauriges Ende für dieses WM-Duell"
12.12.2024, 17:48 Uhr
Ding Liren machte einen entscheidenden Fehler.
(Foto: picture alliance/dpa/ZUMA Press Wire)
Dommaraju Gukesh ist der jüngste Schach-Weltmeister aller Zeiten. Auch, weil sein Kontrahent ihm den Weg auf den Thron mit einem schlimmen Fehler ebnet.
Die Schach-Weltmeisterschaft 2024 ist Geschichte und sie wird einen besonderen Platz in den prallgefüllten Geschichtsbüchern des Sports der Könige finden: Dommaraju Gukesh machte sich in Singapur in der 14. Partie des Duells mit dem Titelverteidiger Ding Liren zum jüngsten Weltmeister aller Zeiten. Der Kampf hatte sich seit Ende November zugespitzt und war durch viele Remis zielsicher auf diesen Höhepunkt zugesteuert, auf dem der 18-jährige Inder weinend am Brett stand und später sagte: "Ich habe von diesem Moment seit über zehn Jahren geträumt", sagte er. "Ich lebe meinen Traum und möchte zuerst Gott danken."
Doch bevor das Wunderkind von seinen Gefühlen übermannt wurde, hatte das Duell um die Schachkrone ein "supertrauriges Ende" genommen, wie es der bekannte Schach-Youtuber und internationale Meister Georgios Souleidis, der die Spiele für ntv.de analysiert, nennt.
"Das ist richtig bitter"
"Ding ist letztendlich doch kollabiert. Das ist richtig bitter", sagte Souleidis zu der Szene, die nach 17 Tagen und im 55. Zug der 14. Partie die Weltmeisterschaft entschied. "Ding machte einen fürchterlichen Fehler. Er lässt den Tausch von Turm und Läufer zu und muss dann ins Bauern-Endspiel, das Schwarz trivial gewann. Was für ein trauriges Ende für diese WM."
Das finale Duell war ein Spiegel dessen, was zuvor schon in mehreren Partien passiert war. "Gukesh wählte eine unglaublich seltene Fortsetzung in der Réti-Eröffnung. Im sechsten Zug zog er einen Springer auf ein Feld, was so zuvor noch nie auf diesem Niveau gespielt wurde", sagt Souleidis. "Eine Variante, um seinen Gegner früh ins Grübeln zu bringen und ihn so über die Uhr unter Druck zu setzen."
Erst in der 13. Partie hatte Gukesh Ding früh vor eine schwere Prüfung gestellt, die den Weltmeister 40 Minuten Bedenkzeit kostete. Doch Ding reagierte souverän und erspielte sich in der Folge sogar eine bessere Stellung, weil sich Gukesh in der auch für ihn neuen Stellung eine Ungenauigkeit leistete. Doch Ding, der sich 2023 den WM-Titel erst in der letzten von maximal vier Schnellschachpartien erspielt hatte, legte eine seltsam zurückhaltende Partie hin, nachdem er sich zuvor in mehreren Partien mit großem Kampf aus schwierigen Stellungen herausgearbeitet hatte.
Frustrierter Carlsen
"Ding zeigte heute überhaupt keinen Kampfgeist, er schien nur darauf gepolt gewesen zu sein, irgendwie ein Remis zu erreichen. Er bettelte ums Remis und spielte unnötig passiv, unnötig riskant", sagt Souleidis. Zwar war das Risiko stets überschaubar, doch Ding ging unnötig freiwillig in ein Endspiel mit einem Bauern weniger. Turm, Läufer und zwei Bauern gegen Turm, Läufer und drei Bauern auf einem Flügel, eigentlich eine Remisstellung. Doch Gukesh trieb Ding aus dieser für ihn nahezu unverlierbaren Situation vor sich her - und der zermürbte Weltmeister produzierte doch noch das entscheidende Missgeschick, das den 32-Jährigen den WM-Titel kostete.
Es war das passende Ende dieses bis zum Schluss spannenden, selten aber wirklich hochklassigen Duells. "Als ein früherer WM-Teilnehmer ist es zu einem gewissen Maße frustrierend zu sehen, wie leicht die Spieler Chancen bekommen", hatte Schachsuperstar Magnus Carlsen schon nach den ersten Partien kommentiert. Der frühere Weltmeister erklärt, seinen WM-Titel 2023 nicht verteidigen zu wollen - mangels Lust. "Wenn das der härteste Test im Schach sein soll, dann sollte es nicht so einfach sein, eine Partie zu gewinnen."
"Sorge, dass ich sehr hoch verliere"
- Georgios Souleidis ist ein Schachspieler im Rang des internationalen Meisters.
- Bei Youtube und Twitch analysiert und kommentiert er unter anderem täglich ausführlich die Partien der WM. Hier geht es zu seinem Kanal "The Big Greek".
- Zudem ist er Teilhaber einer Schachakademie und bietet dort Schachkurse an.
Zur Wahrheit gehört jedoch auch: Es ist eine kleine Sensation, dass Ding Liren überhaupt bis kurz vor dem Tiebreak eine große Chance hat, das Duell mit dem 14 Jahre Jüngeren doch noch für sich zu entscheiden und seinen Titel zu behalten: Im Vorfeld der WM hatte der Chinese von Depressionen und Schlafstörungen berichtet. In diesem Jahr hatte er mit dem "schlechtesten Zug aller Zeiten von einem Weltmeister", wie der brasilianische Großmeister Rafael Leitao einen Patzer Dings nannte, für Aufruhr in der Szene gesorgt. Der hatte sich bei einem Turnier in Norwegen ausgerechnet gegen Superstar Carlsen einen schweren Fehler geleistet und verlor die Partie daraufhin innerhalb von zwei weiteren Zügen.
Gukesh war als klarer Favorit in das Duell gegangen, Carlsen hatte seine Siegchancen auf 75 Prozent beziffert. Ding hatte selbst gesagt, er mache sich "Sorgen, dass ich sehr hoch verlieren könnte." Am Ende endete das Duell mit 7,5:6,5 denkbar knapp. Auch weil Ding seinem jungen Gegner "den wahrscheinlich besten Moment meines Lebens" schenkte, wie Gukesh die spielentscheidende Szene beschrieb.
"Ich habe es erst nicht realisiert"
"Ich habe es erst nicht realisiert", dann schlug der Inder zu und Ding gab auf. "Nicht Gukesh hat die WM gewonnen. Für ihn persönlich und Indien ist das natürlich ein riesiger Erfolg, er ist der jüngste Weltmeister der Geschichte", analysiert Souleidis. "Aber letztlich muss man sagen, dass Ding diese WM verloren hat. Weil er zu oft seinem Gegner die Siege geschenkt hat."
Für seinen Sieg kassiert Gukesh 1,3 Millionen Dollar, Ding fährt mit 1,2 Millionen Dollar zurück nach Hause - aber ohne seine WM-Krone. "Er ist einer der besten Spieler der Geschichte", rief Gukesh seinem geschlagenen, entthronten Gegner hinterher. Den Nachweis konnte Ding bei diesem großen Duell für die Geschichtsbücher nicht bis zum letzten Zug führen.
Quelle: ntv.de