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Merckx gibt auf, Zweifel bleiben Wie Tadej Pogacar 2024 den Radsport knechtete

Ein Mann schultert den Radsport: Tadej Pogacar.

Ein Mann schultert den Radsport: Tadej Pogacar.

(Foto: IMAGO/Belga)

2024 erlebt Tadej Pogacar das beste Jahr, das er im Radsport je hatte. Wahrscheinlich erlebt er sogar das beste Jahr, das irgendjemand im Radsport je hatte. Eine Chronologie maßloser Überlegenheit.

Es läuft das Finish der vierten Etappe der Tour de France. Die englischen Kommentatoren begleiten aufgeregt eine Attacke. "Pogacar hat eine große Frage gestellt. 'Hast du es, oder hast du es nicht?" Tadej Pogacar hat diese Frage 2024 etlichen Radsportlern gestellt. Bei der absoluten Elite des Radsports wurde er vorstellig, hat wie ein emsiger Reporter immer wieder nachgehakt. Hast du es, oder hast du es nicht?

Doch außer Pogacar hatte es niemand. Das Zeug, um der Beste der Welt zu sein. Der Zirkus, der die Radsportsaison 2024 werden soll, öffnet schon sehr früh die Manege. Auftritt des Zirkusdirektors: Im März sichert sich Pogacar zum zweiten Mal nach 2022 den Sieg beim legendären Klassiker Strade Bianche. Auf den namensgebenden weißen Straßen in der Toskana scheint der Slowene förmlich zu fliegen. Es klingt simpel und unglaublich gleichermaßen: 80 Kilometer vor dem Ziel fängt Tadej Pogacar an, schneller Rad zu fahren als der Rest des Feldes. Einer unwiderstehlichen Attacke folgt der Solo-Ritt ins Ziel. Der prestigeträchtige Erfolg in Italien ist jedoch kein Zeugnis der berühmt-berüchtigten "bestechenden Frühform". Er ist eine Prognose. Rückwirkend scheint Pogacar der Radwelt zuzurufen: "So Leute. Das ist das Programm für dieses Jahr."

Giro in einer anderen Liga

Nur zwei Wochen später steht die Katalonien-Rundfahrt an. Der UAE-Fahrer tritt zum ersten Mal bei dem Rennen an. Er gewinnt vier der insgesamt acht Etappen. Und die Gesamtwertung. Und die Bergwertung. Und die Punktewertung. Laut Berichten vor Ort sind aber auch noch weitere Fahrer dabei gewesen. Beim nächsten Frühjahrsklassiker, Lüttich-Bastogne-Lüttich, folgt eines der spannendsten Pogacar-Rennen des Jahres. "Erst" 35 Kilometer vor Schluss versenkt er die Konkurrenz und fährt auf den Zweitplatzierten Romain Bardet noch über eine Minute Vorsprung raus.

Es gibt im Sport immer wieder Statistiken, die man nicht glauben kann, egal, wie oft man sie liest. Erling Haaland, Manchester Citys Superstürmer beispielsweise, steht nach 42 Spielen in der Champions League jetzt bei 44 Toren. Für derlei Torausbeuten war der Wettbewerb nie konzipiert. Basketball-Wunderkind Caitlin Clark bescherte den College-Finals 2023 eine Quote von durchschnittlich 18 Millionen Zuschauern - mehr als bei jedem NBA-Spiel der vergangenen fünf Jahre. Und Tadej Pogacar gewinnt, nein, dominiert 2024 den schnellsten Giro d'Italia aller Zeiten. Sein Vorsprung am Ende der ikonischen Rundfahrt beträgt zehn (!) Minuten. Es ist der größte Zeitunterschied seit 1965. Auf sechs Einzeletappen ist er als Erster im Ziel. Auch das Bergtrikot nimmt er aus Italien mit. Zu sagen, er fährt in einer anderen Liga, wäre untertrieben. Der Slowene betreibt ganz offensichtlich eine andere Sportart als die - in Ermangelung eines besseren Wortes - "Konkurrenz".

Pogacars Fahrstil begeistert

Spätestens ab dem Spektakel beim Giro strahlt Pogacar über die Grenzen seiner Sportart hinaus. Bei der Tour de France zeigt er auf der größten Bühne, die ein Sportler auf zwei Rädern erklimmen kann, der Welt das, was innerhalb der Szene alle wissen: Er ist unschlagbar. Das dritte Gelbe Trikot seiner Karriere zeugt von einem Zweikampf mit Jonas Vingegaard, der nie einer war. Auch weil der Däne vor der Tour damit beschäftigt ist, sich von einem schweren Sturz zu erholen. Neben dem Gesamtsieg heimst Pogacar wie schon beim Giro sechs Etappensiege ein.

Doch sein Alleinstellungsmerkmal fällt ihm plötzlich auf die Füße. Denn der Grund, warum Pogacar überhaupt so populär ist, sind nicht seine Siege allein, sondern sein Fahrstil. Wo sich ein Chris Froome im Team Sky vor wenigen Jahren noch clever von Sieg zu Sieg taktierte, tritt Pogacar ohne Rücksicht auf Verluste in die Pedale. Und zwar immer. Pogacar fährt Rad, als hätte er das Konzept soeben erst entdeckt. Als würde er nicht wissen, dass man sich Kräfte einteilen muss. Die beinahe kindliche Freude, die er auf zwei Rädern versprüht, steckt auch viele Zuschauer an. Doch gepaart mit seiner unglaublichen Qualität werden aus den ständigen Attacken schnell ständige Siege.

Die Tour de France ist kein Schulsportfest

Und so entbrennt, während Pogacar Tag für Tag, französisches Dorf für französisches Dorf, Bergkette für Bergkette unglaublich überlegen aussieht, am Rande der großen Tour eine Diskussion über Unersättlichkeit. Die Varianz der Töne in diesem skeptischen Orchester reichen von einem noch wohlwollenden "Er muss sich auch mal schonen" bis hin zu einem, den Gedanken des Leistungssports torpedierenden, "Soll er halt die anderen auch mal gewinnen lassen". Als wäre das hier nicht das größte Radrennen der Welt, sondern das Schulsportfest der 3A.

Darauf angesprochen sagt er selbst: "Es ist ein Sport, in dem man gewinnen will, gewinnen muss und bezahlt wird, zu gewinnen. Man steht unter Druck und muss abliefern. Wenn man das nicht tut, ist das nicht gut für dich. Man muss immer nach dem Sieg greifen, wenn man kann." Das simple, zu seinem Fahrstil passende Prinzip, lässt sich auch umkehren. Wer so sehr gewinnen will, wenn er antritt, tritt nur dort an, wo er gewinnen kann. Vielleicht liegt hier auch der Grund, warum Pogacar im stärksten Jahr seiner Karriere ausgerechnet bei den Olympischen Spielen nicht auf dem Rad sitzt.

Nur bei Olympia sind sie sicher

Als der Kurs für das olympische Rennen veröffentlicht wird, weisen Experten darauf hin, dass es zu einem Sprint-Finish kommen könnte. Bei allen Qualitäten, die Pogacar hat, ein Weltklasse-Sprinter ist er nicht. In dem Fall wären Remco Evenepoel oder dessen belgischer Landsmann Wout van Aert Favoriten auf die Goldmedaille.

Offiziell verzichtet der neben Basketballer Luka Doncic größte Sportler seines Landes aufgrund von Müdigkeit. Darüber hinaus gibt es Ärger zwischen Pogacar und dem slowenischen Radsport-Verband, der mit der Nicht-Nominierung seiner Freundin Urska Zigart zusammenhängt. "Es ist nicht der Hauptgrund, aber es hat mit Sicherheit nicht geholfen. Ich glaube, sie hat ihren Platz verdient, sie ist zweifache Meisterin", so Pogacar. In Abwesenheit des Großmeisters gewinnt bei den Olympischen Spielen in Paris Evenepoel sowohl auf der Straße als auch im Zeitfahren die Goldmedaille.

"Dumm" - "Selbstmörderisch" - "Würdig"

Für Pogacar hält der Rennkalender nichtsdestotrotz eine historische Chance bereit. Die "Triple Crown" des Radsports winkt: Giro d'Italia, Tour de France, Weltmeisterschaft. 2022 setzt sich Annemiek van Vleuten als erste Frau die Krone auf. Bei den Männern gelang das Kunststück nur dem legendären Eddy Merckx (1974), mit dem Pogacar ohnehin seit Jahren verglichen wird und Stephen Roche (1987). Auf dem Weg zur WM gewinnt Pogacar noch den Grand Prix Cycliste de Montréal. Dann stehen die 274 Kilometer in Zürich an. Nach 174 Kilometern beschließt Pogacar den gemütlichen Teil des Tages und tritt an. "Die Frage ist, warum macht er's jetzt? [...] Weil 100 Kilometer alleine zu fahren, ist dann doch sehr ambitioniert", so der Kommentar der deutschen Eurosport-Kollegen.

Pogacar liefert eine noch deutlichere Einschätzung seiner Attacke. "Dumm", nennt er sie. Evenepoel findet das Manöver "selbstmörderisch". Was es auch ist: erfolgreich. Mit einem Antritt wie ein Leberhaken entscheidet Pogacar die Straßenrad-WM surreale 100 Kilometer vor dem Ziel. Die letzten 50 Kilometer fährt er dann gänzlich allein. Beachtlich ist, welches Ansehen er trotz aller Dominanz im Fahrerfeld genießt. "Jeder ist froh, dass er Weltmeister ist. Er ist der Beste. Er wird ein würdiger Weltmeister sein", sagt mit Mathieu van der Poel immerhin der Mann, dessen Titel Pogacar sich mit dem Triumph geschnappt hat. Die Sportart weiß jedoch auch sehr gut, dass vom Hype um den dürren Zauberer letztendlich alle profitieren. Auf Instagram folgen ihm zwei Millionen Menschen. Tadej Pogacar ist der bekannteste Radfahrer seit ... ja wem eigentlich?

Merckx hisst die weiße Flagge

Die dreifache Krone des Radsports fährt Pogacar dann zum Saisonausklang noch in Italien spazieren. "Im Regenbogentrikot habe ich den Druck verspürt, etwas Besonderes zu zeigen", sagt er nach seiner 38 Kilometer langen Solo-Fahrt zum Sieg im strömenden Regen beim Giro dell'Emilia. Das Rennen ist eigentlich auch egal. Es geht spätestens mit der WM nicht mehr um Streckenführungen, Favoriten, Wetterverhältnisse oder was auch immer. Es geht um Pogacar. Und darum, noch irgendeine Vergleichbarkeit, irgendein Maß für die historische Übermacht zu finden, die er darstellt. "Es ist offensichtlich, dass er über mir steht. Es gibt keinen Zweifel mehr", sagt der legendäre "Kannibale" Eddy Merckx. Der bisher größte Radsportler aller Zeiten hisst die weiße Flagge.

Kurz darauf, beim "Klassiker der fallenden Blätter", der Lombardei-Rundfahrt, moderiert Pogacar seine unvergleichliche Rad-Saison ab. Mit einem Sieg, klar. Dem vierten in Folge sogar. Nur Fausto Coppi gelang das vor ihm. Zwischen Neunzehnhundertvierund ... ach egal. Der Radsport muss absurd weit in die Geschichte schauen, um noch Rekorde zu finden, die der Slowene nicht gebrochen hat.

Zweifel fahren immer mit

Wäre Tadej Pogacar Basketballer, Tennisspieler, Dressurreiter oder Skateboarder, wäre die Betrachtung seines Jahres an diesem Punkt zu Ende. Er ist ein exzellenter Sportler. So wie Michael Phelps, Simone Biles, Lionel Messi oder Muhammad Ali klar der beste seines Fachs. Doch aufgrund der Historie ebenjenes Fachs gibt es einen Gegner, den das Übertalent Zeit seiner Karriere nicht abhängen wird: den Zweifel.

2023 gewinnt Primoz Roglic die Katalonien-Rundfahrt, den Giro dell'Emilia und den Giro d'Italia. Remco Evenepoel siegt beim Klassiker Lüttich-Bastogne-Lüttich, Jonas Vingegaard kann die Tour de France für sich entscheiden. Der Brite Adam Yates triumphiert beim Grand Prix Cycliste de Montréal und Thomas Pidcock fährt als Schnellster über die weißen Straßen von Strade Bianche. Ein Jahr später gewinnt all diese Rennen ein und derselbe Typ.

"Die halten uns für Idioten"

Der Elefant im Raum ist Doping. Natürlich wirft Pogacar niemand direkt vor, zu betrügen. Am nächsten dran ist "Dopingjäger" Antoine Vayer. Der Franzose war Teamchef in den Hochzeiten des Dopings, heute bemüht er sich um die Aufdeckung, errechnet dafür zum Beispiel manuell Watt-Werte, die nicht öffentlich einsehbar sind. Bereits 2021 sagt er der "Süddeutschen Zeitung": "Wir müssen aufhören, an diesen Unsinn zu glauben, es gebe außergewöhnliche Champions, die mit einem Peloton spielen, in dem bereits lauter außergewöhnliche Champions fahren. Als gebe es ein Phänomen des Phänomens unter Phänomenen." Berichten darüber, dass Pogacar dreimal so schnell wie andere Profis regeneriere, entgegnet er damals: "Die halten uns doch für Idioten! Genau dasselbe hat man bei Armstrong gesagt." Der US-Amerikaner Lance Armstrong dominiert die Tour de France ebenfalls scheinbar mühelos zwischen 1999 und 2005. 2013 gesteht er in einer Talkshow den Missbrauch leistungssteigernder Substanzen.

Pogacar selbst weist immer wieder darauf hin, wie häufig er getestet wird. Er spricht von "Neid" und betont, dass es "dumm" sei, Doping zu betreiben. Und doch sorgt die Unerklärbarkeit seiner Leistungen für fortwährendes Getuschel. Stéphane Heulot, Manager des Teams Lotto-Dstny sagt der "L'Equipe" während der Tour in diesem Jahr, dass er für Leistungen von Pogacar und Vingegaard keine Erklärungen hat, betont jedoch, man müsse "immer zweifeln".

"Offensichtlich neue Form des Trainings"

Fritz Sörgel, Leiter des Instituts für Biomedizinische und Pharmazeutische Forschung in Nürnberg, äußert sich ebenfalls in diesem Sommer. Gegenüber Sport1 sagt der Doping-Experte: "Es ist offensichtlich eine neue Form des Trainings. Es ist schon seit Jahren so, dass man die Biochemie und die Physiologie des Körpers voll ausnutzt und dass die Sportwissenschaftler auf einem Niveau angelangt sind, das solche Leistungen möglich macht."

Ebenjene Leistungen in diesem unglaublichen Jahr 2024 haben Tadej Pogacar einen neuen Vertrag beim Team UAE eingebracht. Bis 2030 ist das Arbeitspapier gültig. Doch wie motiviert sich einer wie er noch? Was gibt es noch zu gewinnen? "Der Gewinn der drei großen Rundfahrten in einem Jahr ist machbar", sagt er gegenüber dem slowenischen Nachrichtenportal siol.net. Geschafft hat es noch niemand. Es ist ein nahezu obszönes Vorhaben. Doch er betont auch, sich vorerst auf zwei Starts aus Giro, Tour oder Vuelta konzentrieren zu wollen. Erleichterung in der Radsport-Welt. Er lässt die anderen doch noch gewinnen.

Quelle: ntv.de

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