Dopingsperre von Claudia Pechstein Wieder eine neue Wahrheit
15.03.2010, 21:06 UhrNicht weniger als den medizinischen Beweis für die Unschuld der wegen Dopings gesperrten Claudia Pechstein haben die Blutexperten versprochen, die in Berlin zur Pressekonferenz geladen haben. Das mediale Interesse ist riesig, die diagnostizierte Blutkrankheit nicht überraschend, die Expertenmeinung einhellig - allerdings nur auf dem Podium.
"Darf ich Sie bitten, für uns jetzt ihren geistigen Resetknopf zu drücken und unseren Ausführungen vorurteilsfrei zu folgen?" Die launige Frage von Gerhard Ehninger setzt den Ton für das, was in den folgenden 90 Minuten kommt. Ehninger ist neben Winfried Gassmann und Wolfgang Jelkmann einer von drei Professoren, die im Namen der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie (DGHO) und der Gerechtigkeit den medizinischen Beweis erbringen wollen, dass der Fall Claudia Pechstein kein Blutdopingfall ist. Mit Zahlen und Fachbegriffen wollen sie die Journalisten von ihrer Wahrheit überzeugen. Es ist nicht das erste Mal, dass im Fall Pechstein eine Wahrheit verkündet wird.
Unterstützung erhalten die Blutspezialisten von Andreas Weimann. Der Mediziner vom Berliner Universitätsklinikum Charité ist ein Überraschungsgast auf dem Podium. Überraschend ist aber weniger seine nicht angekündigte Teilnahme als vielmehr die Tatsache, dass die DGHO ihn offenbar erst kurzfristig für die Veranstaltung gewinnen konnte. Das ist einigermaßen kurios. Schließlich beruht die folgende Beweisführung und damit die Wahrheit, wie später deutlich wird, maßgeblich auf Weimanns Diagnostik, die Ehninger als "fantastisch" loben wird.
Die neue Wahrheit, die im Beisein der nur als Gast teilnehmenden Claudia Pechstein verkündet wird, ist seit Ende letzter Woche bekannt. Sie lautet diesmal: Die bei Pechstein in jahrelangen Blutanalysen wiederholt festgestellten abnormal hohen Werte junger roter Blutkörperchen, der Retikulozyten, sind nicht wie von der Internationalen Eisschnelllauf-Union (ISU) behauptet Folge von Blutmanipulationen, ihre Sperre deshalb falsch. Richtig ist laut DGHO: Die Eisschnellläuferin leidet an einer sogenannten milden hereditären Sphärozytose. Einer recht seltenen Anomalie der roten Blutkörperchen, möglicherweise von ihrem Vater vererbt. Für diese Kugelzell-Anomalie sprechen die gesammelten Blutwerte und private Analysen mit einem erst im Sommer 2009 vorgestellten Verfahren, die unter Weimanns Aufsicht in der Charite durchgeführt wurden. Die Anomalie erklärt die auffälligen Werte in Pechsteins Blut mit 99,9 prozentiger Sicherheit, ist Ehninger inzwischen überzeugt. Jegliche Blutmanipulation mit Doping, ob mittels verschiedenster Epovarianten oder durch Einnahme von Wachstumshormonen, schließen er und seine drei Mitstreiter als Ursache kategorisch aus. Eine mutige These.
Krank, aber kerngesund
Bei der Kugelzell-Anomalie werden rote Blutkörperchen zu schnell abgebaut, die notwendige Neubildung erhöht die Zahl der Retikulozyten. Ein Krankheitsbild, das es laut Ehninger von "lebensbedrohlich bis hin zu einem Laborphänomen" gibt. Pechstein hat Glück: Bei ihr ist die Sphärozytose nur leicht ausgeprägt, nichts Ernstes. Hochleistungssport kann sie uneingeschränkt betreiben, wie fünf Olympiasiege belegen. Das heißt für Laien: Pechstein hat zwar eine seltene Blutkrankheit, ist aber eigentlich kerngesund. Wer Gegenteiliges behauptet, so der einhellige Tenor der auf dem Podium versammelten Experten, hat einfach keine Ahnung.
Immer dann, wenn die Sprache auf Fachleute kommt, die Gegenteiliges behaupten oder Zweifel äußern, kippt der Ton der Beweisführung ins Hämische. Auf im Vorfeld verwendete Vokabeln wie "Hexenjagd" und "pervers" verzichten die Experten generös, stattdessen ist diesmal die Rede von "fanatischen Dopingjägern", "sogenannten Experten", "Sippenhaft", "Ahnungslosigkeit", "schofeligem" Vorgehen der Dopingfahnder und schließlich einem CAS-Urteil, das schlicht "Käse" ist und wahlweise auf Unkenntnis oder Ignoranz beruht. Die Frage eines Journalisten, wie die angeblich erhöhten Retikulozytenwerte bei zwei weiteren deutschen Eisschnellläuferinnen ins Bild passen, wird abgebügelt: "Es geht um Claudia Pechstein."
Pechsteins Pech
Pechsteins Pech ist, dass eine leichte Kugelzell-Anomalie zwar nicht die Leistung mindert, aber - wie Blutdoping auch - den Retikulozytenwert erhöht. Genau deshalb wurde sie von der ISU wegen Blutdopings für zwei Jahre gesperrt. Der Fall ging vor den Internationalen Sportgerichtshof CAS, das dortige Verfahren zu Gunsten der ISU aus, weil die CAS-Richter nach Anhörung beider Seiten eine Krankheit als Ursache für die Blutwerte ausschlossen. Die nun diagnostizierte Sphärozytose wurde als Ursache verworfen. Im CAS-Urteil finden sich freilich auch Passagen, die durchaus als Veralberung der Pechstein-Seite und ihrer Gutachter gelesen werden können. Einer der Pechstein-Gutachter hieß Wolfgang Jelkmann, in Berlin saß er auf dem Podium.
Das zeigt auch: Neu ist der auch in Berlin wieder offenbarte Hang zur Polemik in der medialen, wissenschaftlichen und juristischen Auseinandersetzung um Pechsteins Blutwerte keineswegs, auf beiden Seiten. Unverändert gilt jedoch: Hilfreich für die Wahrheitsfindung ist er nicht. Er verdeutlicht nur noch einmal: Die Front verläuft längst nicht mehr zwischen ISU und Claudia Pechstein, die den Expertenauftritt in Berlin als positive PR in eigener Sache verbuchen darf. Sie verläuft quer durch die Wissenschaftsgemeinde.
Überzeugungen statt Argumente
Wer auf welcher Seite steht, scheint eher Glaubenssache als wissenschaftlich begründet, Überzeugungen scheinen mehr zu zählen als überzeugende Argumente. Das zeigt nicht zuletzt die Einschätzung des Nürnberger Pharmakologen Fritz Sörgel, der sich schon vor dem Berliner Beweis der "Blutmacke" (O-Ton Pechstein) kritisch geäußert hatte: "Ich glaube nicht, dass der Befund Frau Pechstein in irgendeiner Form entlastet, weil die hohen Retikulozyten-Werte dadurch nicht erklärt werden." Sein Fazit : Pechstein ist möglicherweise krank, vom Dopingvorwurf entlastet sie das noch lange nicht. Der Heidelberger Dopingforscher Werner Franke stößt gegenüber der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" ins gleiche Horn: "Tut mir leid, dass ich nur noch satirisch antworten kann. Jetzt müsste man doch sagen: Donnerwetter, sie haben eine ansteckende Form einer leistungsmindernden Blut-Anomalie - ausgerechnet bei Ausdauersportlerinnen - entdeckt."
Fakt ist aber auch: Schon vor dem Urteilsspruch des CAS gab es begründete Zweifel daran, ob eine Sperre Pechsteins anhand eines einzigen Indizes für Blutdoping zu rechtfertigen ist. Diese berechtigten Zweifel sind durch die Experten-Show in Berlin nicht kleiner geworden. Sie sollten in einem wieder aufgenommenen Verfahren vor dem CAS erörtert werden. Sachlich und seriös. Und möglichst unter Ausschluss der Öffentlichkeit.
Quelle: ntv.de