Kult-Star verabschiedet sich Thomas Müller - Von Maradona ignoriert, vom Glück geküsst
15.07.2024, 14:02 Uhr
Adios, Thomas Müller.
(Foto: picture alliance / SvenSimon)
Das war's für ihn: Mit der Heim-Europameisterschaft endet auch die Nationalmannschaftskarriere von Thomas Müller. Mit ihm geht ein Publikumsliebling und Weltmeister von 2014.
Thomas Müller hatte seine neue Rolle gefunden. Die war nicht auf dem Platz, sondern daneben. Wobei auch das nicht so richtig stimmt: Genaugenommen war sie eher in den Katakomben der Stadien der Fußball-Europameisterschaft. In München stand er nach dem rauschenden 5:1-Auftaktfest gegen Schottland mit beiden Händen ans Pult gelehnt. Es sei wie bei einer Pferdeaktion, scherzte er. Im gleichen Gebäude, aber etwas entfernt saß derweil Julian Nagelsmann in der Pressekonferenz.
Und während der Bundestrainer ankündigte, eben nicht auf die Euphoriebremse zu treten, machte Müller genau das. An seinem Pult referierte der 34-Jährige über "Emotionsgedusel". Eben, dass ein gutes Gefühl noch keine Spiele gewinne. Ein 5:1-EM-Auftakt seien nur auch erst drei Punkte in der Gruppenphase. Müller war zu gebrandmarkt von den vergangenen Turnierdebakeln, schließlich standen er und die DFB-Elf seit 2016 in keinem Halbfinale mehr. Bei der Weltmeisterschaft in Russland 2018 schieden sie erstmals in der Vorrunde aus, in Katar wiederholten sie vier Jahre später das Kunststück.
Seine neue Eigenschaft hatte Müller erst in der vergangenen Saison beim FC Bayern entdeckt, als er unter Trainer Thomas Tuchel in der Seuchensaison die Dinge einordnete und erklärte. "Radio Müller" spielte dann nicht mehr nur die Hits, sondern auch die nachdenklichen Stücke. Doch in der EM-Mission des DFB-Teams war er viel mehr als das. Im Rollensystem von Bundestrainer Nagelsmann war er der "Connector", der soziale Kleber. Er sollte die "Jodler" (wer auch immer das war) mit den "Rappern" verbinden. Das war ihm gelungen, das konnte man bei den Spielen immer wieder beobachten. Mal tauschte er sich mit Zauberer Jamal Musiala aus, mal erklärte er Superjoker Niclas Füllkrug vor dessen Einwechslung, worauf es ankommen wird, mal zeigte er auch dem Bundestrainer etwas auf dem Feld.
Immer noch "top of the league"?
Nun ist die DFB-Karriere von Thomas Müller vorbei, das verkündete er in einem Video auf Youtube. Es zeigt ihn auf einem Sportplatz. Er trägt sein letztes Deutschland-Trikot. "Hier in Pähl auf diesem Sportplatz hat alles begonnen. Meine riesige Begeisterung für den Fußball. Als ich vor über 14 Jahren mein erstes Länderspiel in der deutschen Nationalmannschaft absolvieren durfte, hätte ich mir all das nicht erträumen lassen, großartige Siege und bittere Niederlagen", sagte er: "Manchmal am Boden zerstört, um dann wieder aufzustehen. Im Wettkampf gegen die besten Spieler der Welt, an der Seite von fantastischen Mitspielern, mit denen ich unendlich viele unvergessliche Momente erlebt habe."
Müller war eine völlig neue Art des Nationalspielers. Man kann seine Spielweise schwer beschreiben: Er war dieser schlaksige Typ, der oft unerwartete Dinge tat. Der, der sich Raumdeuter nannte, der wusste, was als Nächstes passieren wird und irgendwie immer richtig stand. Früher war er dafür bekannt, seine Tore mit dem Schienbein zu erzielen. Müller war in keiner Fußballer-Eigenschaft überragend und doch fragten sich die Fans der Nationalelf immer, warum er denn nicht spielte.
Seit 15 Jahren, das sagte Müller im EM-Trainingslager im thüringischen Blankenhain, mache er im Grunde das Gleiche. Er versuche Tormöglichkeiten erst zu kreieren und sie dann auch zu vollenden. Das habe bei der Nationalelf mal besser, mal schlechter funktioniert. Aber beim Kreieren von Chancen, "wenn man sich die Daten der Saison anschaut", sei er noch immer "top of the league", erklärte er. "Ein bisschen was, das kann er eben doch noch." Zum Beweis teilte er die Grafik noch mal bei X.
Nur war das immer weniger geworden, beim FC Bayern und auch beim DFB-Team. Seine Einsätze bei der Heim-EM beschränkten sich auf atmosphärische Einwechslungen. Beim Eröffnungsspiel in München wechselte Bundestrainer Nagelsmann ihn ein, weil er eben aus München kommt. Beim Viertelfinalaus gegen Spanien hoffte er gegen Spielende auf den einen Müller-Moment, den es aber in der Verlängerung nicht gab. Müller ahnte es nach dem Abpfiff schon: Es war sein letzter Auftritt im DFB-Dress. Seine Karriere in der Nationalelf beendet er zum richtigen Zeitpunkt: zwei Jahre vor der Weltmeisterschaft 2026 in den USA, Mexiko und Kanada. Denn sportlich gibt es keine richtige Perspektive mehr, zu viele Optionen hat Bundestrainer Nagelsmann im offensiven Mittelfeld.
Er begann als Balljunge
Müller betrat erstmals nach seiner ersten Profisaison beim FC Bayern die Weltbühne der Nationalmannschaften. Bei der Weltmeisterschaft 2010 in Südafrika. Schon damals gewann er die Herzen. Ohne Nervosität oder Berührungsängste trat er auf. Der 20-jährige Thomas Müller war damals noch nicht sonderlich hoch dekoriert, im Reisegepäck hatte er nur Dutzende Bundesliga-Scorer-Punkte und das Lob von Ex-Bayern-Coach Louis van Gaal: "Müller ist unglaublich, er spielt immer."
Und so folgte der damalige Bundestrainer Joachim Löw diesem Rat. Müller spielte in jeder Partie, außer im Halbfinale gegen Spanien, da war er gelbgesperrt. Er hinterließ aber vor allem mit seiner Lausbuben-Art Eindruck: Er grüßte seine Großeltern, in der Turniervorbereitung flog er vom Fahrrad, kaschierte das aber mit großen Sprüchen. Die Geschichte, wie Diego Maradona ihn bei einer Pressekonferenz vor dem Turnier für einen Balljungen hielt, ist noch immer unvergessen.
Der Fußball-Legende passierte es nach der WM 2010 nicht mehr. Müller hatte sich nicht nur DFB-Team festgespielt, er wurde mit seinen fünf Treffern auch Torschützenkönig des Turniers. Unter Bundestrainer Löw war er sodann unverzichtbar. Bei den Europameisterschaften 2012 und 2016 stand er immer auf dem Feld, steuerte aber nie ein Tor bei. Er bleibt bei den Kontinentalturnieren ohne Treffer.
Seine großen Bühnen sind die Weltmeisterschaften. Nach 2010 gilt das auch für den Titelgewinn 2014. Plötzlich findet er sich nicht mehr Rechtsaußen, sondern in der Mitte wieder. Wie schon in Südafrika steuert er wieder acht Scorerpunkte bei. Beim 3:0-Auftakt ist er überall, für die Portugiesen kaum zu fassen. Auch Bundestrainer Löw gab zu, dass er Müllers Laufwege manchmal nicht ganz verstehe. Beim denkwürdigen 7:1-Erfolg über den Gastgeber im Halbfinale erzielte er das 1:0, es ist sein letzter Treffer im DFB-Trikot bei einem großen Turnier.
Mit dem WM-Vorrundenaus 2018 in Russland bekommt auch seine DFB-Karriere den ersten größeren Knacks. Müller ist nicht in Form, im ersten Spiel gegen Mexiko schießt er nicht einmal aufs Tor, für ihn ist die Formschwäche eine völlig neue Erfahrung. Das gilt auch für das frühe Turnieraus. Bundestrainer Löw musste nach dem Debakel etwas ändern, er sortierte Mats Hummels, Jérôme Boateng und eben Müller aus.
"Ein enormer Genuss, liebe Leute"

Müller vergab im EM-Achtelfinale, als er auf den englischen Torwart Jordan Pickford zulief.
(Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS)
Für den Publikumsliebling bricht danach eine neue DFB-Zeit an. Immer wieder hängt er in der Schwebe: Kehrt Müller nun zum DFB-Team zurück oder nicht? Obwohl Löw ihn 2019 verabschiedet, kehrt er für das letzte Turnier des Bundestrainers zurück, die EM 2021. Es bleibt vor allem ein Moment hängen im Achtelfinale, im Londoner Wembley-Stadion: Thomas Müller läuft frei auf das englische Tor zu, er hat den Ausgleich gegen die Engländer auf dem Fuß. Doch er vergibt. Müller sinkt auf die Knie, die Hände schlägt er vor das Gesicht. England gewann das EM-Achtelfinale mit 2:0, die lange Löw-Ära war zu Ende.
Auch bei dessen Nachfolger Hansi Flick kehrte Müller in die Schwebe zurück: Mal war er dabei, mal nicht. Er reiste mit nach Katar, stand auch dort alle drei Gruppenspiele auf dem Feld. Etwas Zählbares gelang ihm nicht. Am Ende stand er in einem Stadion in der Wüste, zu Tränen gerührt, und gab ein Interview, das sehr nach Abschied klang. Die Zeit bei der Nationalelf sei "ein enormer Genuss gewesen, liebe Leute", sagte er. Er habe sein Herz immer auf dem Platz gelassen. Doch es war kein Abschied auf Dauer: Bundestrainer Nagelsmann holt ihn noch einmal zurück: erst für die USA-Reise, das Debüt des Nationalcoaches, dann auch für die Heim-EM.
Und nun endet die DFB-Karriere von Thomas Müller. Zum Schluss macht er wieder etwas Unerwartetes, wie normalerweise auf dem Feld. "Für mich gibt es dieses Thema Rücktritt, dass ich ausschließe, für Deutschland zu spielen, das wird’s nicht geben", sagte er nach dem Aus gegen den späteren Europameister im Keller des Stuttgarter Stadions. Es könne aber sein, dass Bundestrainer und er das gemeinsam entscheiden. So ist es nun gekommen: Nach 131 Spielen und 45 Toren ist für ihn Schluss im DFB-Dress und er nimmt seine Rolle als Fan und Zuschauer ein.
Quelle: ntv.de