Neururer analysiert die Krise Der brutale Absturz des FC Schalke 04
30.05.2020, 08:56 Uhr
Neururer glaubt an Schalke-Coach Wagner.
(Foto: imago images / Otto Krschak)
Zehn Spiele ohne Sieg, zudem 5:24-Tore: Der FC Schalke 04, noch in der Hinrunde für engagierten und erfolgreichen Fußball gefeiert, ist seit Mittwochabend Schlusslicht der Rückrundentabelle. Peter Neururer, einst selbst Coach der Gelsenkirchener, ist der festen Überzeugung, dass die Verantwortlichen diese kritische Phase meistern werden.
ntv.de: Herr Neururer, hat der FC Schalke 04 schon bei Ihnen angerufen?
Peter Neururer: Nein, wieso?
Sie haben doch Ihre Trainerkarriere mit dem Hinweis beendet, dass Sie lediglich für die Königsblauen einen Rücktritt vom Rücktritt in Erwägung ziehen würden, sollte dort die Trainerfrage gestellt werden.
Ich gehe nicht davon aus, dass in Schalke die Trainerfrage gestellt wird. Aber ich habe tatsächlich gesagt, dass ich eine Ausnahme vom Rücktritt lediglich für den 1. FC Köln und für Schalke 04 machen würde. Das sind die beiden Klubs, die mir sehr am Herzen liegen. Ich gehe allerdings davon aus, dass Schalke die Krise lösen wird.
Die Krise beim FC Schalke 04 ist aber mittlerweile extrem tief greifend. Wo liegen die Gründe, weshalb eine Mannschaft, die eine tolle Hinrunde spielt, plötzlich derartig durchsackt?
Als Außenstehender stelle ich trotz der Krise erst einmal fest, dass die Verbindung zwischen Trainer und Mannschaft zunächst ganz hervorragend war und das Zusammenwirken in Schalke entsprechende Ergebnisse hervorbrachte. Wie jeder andere Fan auch stelle ich weiter fest, dass die Hinrunde sehr erfolgreich abgeschlossen wurde. Und auch mit Aufnahme der Rückrunde im Spiel gegen Borussia Mönchengladbach, das Schalke mit 2:0 gewinnen konnte, hat die Mannschaft ein grandioses Spiel abgeliefert und hochverdient gewonnen. Daraus aber ist im Umfeld gleich eine Erwartungshaltung entstanden, die absolut nicht dem Leistungsniveau der Mannschaft der Gelsenkirchener entspricht.
Zu dem Zeitpunkt lag das Team von Trainer David Wagner noch auf Champions-League-Kurs.
Ja, aber intern ist von diesem Ziel nie gesprochen worden. Zumindest wurde das nicht so nach außen kommuniziert. Es wurde gesagt, man wolle sich entwickeln. Das hört man zwar immer wieder allerorten, aber lange Zeit sah es so aus, als ob die Entwicklung in Gelsenkirchen rasch vonstattenging. Jetzt kommt das große "Aber": Schalke hat in der Hinrunde Spiele gewonnen, die man genauso gut hätte verlieren können. Das ist vergleichbar mit der Saison, als man unter Wagners Vorgänger Domenico Tedesco Vizemeister wurde. Zwar mit einem anderen Trainer und einer anderen Art Fußball zu spielen, aber ähnlich erfolgreich. Das jedoch entspricht in beiden Fällen nicht der Qualität der Mannschaft.
Also ist das Team noch nicht so weit?
Nein, vor allem wenn man berücksichtigt, dass es nicht zu kompensieren ist, wenn einige Leistungsträger komplett ausfallen, andere zumindest hin und wieder. Das nahm David Wagner immer wieder die Chance, eine Stammmannschaft, ein konstruktives Gebilde aufzubauen. Er musste stets Wechsel vornehmen, die ihm nicht genehm waren.
Viele Verletzte, nicht wenige davon schwer, zudem lange Rekonvaleszenz-Zeiten: Hat Schalke ein Problem in der medizinischen Abteilung?
Das kann ich nicht beurteilen, weil ich nicht täglich mit der Mannschaft arbeite. Aber es war teilweise dramatisch, als beispielsweise mit Kabak, Nastasic, Stambouli und Sané gleich alle vier Stammspieler in der Defensive ausfielen. Oder später, als mit Mascarell, Harit und Serdar die Verbindung zwischen Defensive und Offensive komplett fehlte. Das kann doch kein Trainer der Welt kompensieren.
War das auf Gladbach folgende Spiel in München, bei dem die Schalker mit 0:5 unter die Räder kamen, so eine Art Knackpunkt?
Man kann in München verlieren, aber man sollte nicht so verlieren. Man kann auch daheim gegen Leipzig verlieren (0:5), aber nicht in dieser Art und Weise. Und man kann auch in Dortmund (0:4) verlieren, aber auch das war richtig schlecht. Dennoch ist nach diesen Niederlagen nicht wirklich viel passiert, weil man diese Misserfolge einkalkulieren konnte. Nicht planbar waren allerdings Niederlagen wie die aktuelle in Düsseldorf (1:2), daheim gegen Augsburg (0:3) und - vor der Krise - daheim gegen den 1. FC Köln (0:3). Das sind Begegnungen, die Schalke mit den Ansprüchen, die man sich mittlerweile dort erarbeitet hat, auf keinen Fall verlieren darf. Das ist aber passiert. Mehr aber auch nicht. Einer hervorragenden Hinrunde folgte eine bislang mäßige Rückrunde. Und das folgt dann eben zu einer Platzierung im Mittelfeld der Tabelle. Und da gehören sie aktuell auch hin. Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Eine Niederlage in München darf einer Mannschaft doch keinen Knacks geben. Das zeigt einem höchstens die Grenzen auf, weil man weiß, man ist noch lange nicht so gut.
Erschreckend aber ist, dass man jüngst in einem Spiel gegen einen Abstiegskandidaten wie Fortuna Düsseldorf eine extrem defensive Ausrichtung wählte. Ist das ein Zeichen tiefer Verunsicherung?
Da hat man tatsächlich zum ersten Mal begriffen, dass diese Mannschaft einen Knacks erlitten hat. Nicht während des Spiels, auch nicht danach, sondern davor. Nach dem Spiel war der Schock einfach nur groß. Vorher aber, als ich hörte, man will dem Gegner, von dem man weiß, dass er nicht in der Lage ist, das Spiel zu machen und der zudem auf die Kulisse im heimischen Stadion verzichten muss, den Ball überlassen, war das für mich völlig unverständlich und erschreckend. Das kann und darf nicht der Anspruch eines FC Schalke 04 sein. Und ich bin davon überzeugt, dass darüber gesprochen wird, um den Spielern ein anderes Bewusstsein einzuimpfen.
Hat die Mannschaft ein mentales Problem?
Jeder in Gelsenkirchen weiß, was die Mannschaft kann, was jeder einzelne Spieler kann und was die Atmosphäre im Stadion mit den Spielern machen kann. Wenn dann aber die Ergebnisse nicht stimmen und zudem die Unterstützung von außen fehlt, dann ist es doch vollkommen klar, dass das ein Kopfproblem ist. Kein Spieler, der zehnmal in Folge nicht gewinnen konnte, kann frei Fußball spielen. Er kann nicht über die psychische Stärke verfügen, um seine optimale Leistung abzuliefern.
Muss Schalke allmählich den Blick in der Tabelle nach unten richten?
Nein, selbst wenn die Mannschaft kein Spiel mehr gewinnen sollte, wird sie mit 37 Punkten niemals absteigen können. Da liegen ja noch sieben, acht Mannschaften dazwischen.
Sie sind demnach überzeugt, dass Wagner die Krise in den Griff bekommt?
Ja, denn es hat sich auf Schalke vieles zum Positiven gewendet. Zurückliegend muss man sagen, dass es, seitdem ich dort Trainer war, keinem meiner Nachfolger gelungen ist, eine Krise in den Griff zu bekommen. Zumeist deshalb, weil er zuvor beurlaubt wurde. Das wird diesmal ganz sicher nicht der Fall sein, weil der Klub mit Jochen Schneider und Michael Reschke eine sportliche Kompetenz auch im Umgang miteinander hat, die Schalke 04 ebenso guttut wie die Zurückhaltung von Clemens Tönnies. Das ist überragend. Der Verein steht aktuell zu 100 Prozent zu David Wagner, und das finde ich auch gut so. Allerdings ist Fußball ein Ergebnissport. Insofern weiß heute niemand, was irgendwann mal passieren wird. Aber ich hoffe inständig, dass die Schalker rasch aus diesem sportlichen Tief herauskommen. Die Chance besteht ja schon heute im Heimspiel gegen Werder Bremen.
Mit Peter Neururer sprach Arnulf Beckmann
Quelle: ntv.de