Bei der WM 1998 in Frankreich Die Schande des deutschen Fußballs wirkt nach
21.06.2023, 08:24 Uhr
Deutsche Täter prügelten hemmungslos auf Nivel ein.
(Foto: picture alliance / dpa)
43 Jahre ist Daniel Nivel alt, als er bei der Fußball-WM 1998 als Polizist im Einsatz ist. Vor dem Spiel der deutschen Mannschaft gegen die jugoslawische Nationalelf prügeln Hooligans den Franzosen fast zu Tode, sechs Wochen liegt er im Koma. Ein Vierteljahrhundert danach vermisst er vor allem seine Freiheit.
Daniel Nivel ist auf einem Auge blind, kann weder riechen noch schmecken und kaum hören. Das Schwierigste für den heute 68-Jährigen ist aber, dass er 25 Jahre nach der feigen Attacke deutscher Hooligans auf ihn auch nicht mehr sprechen kann. "Die Fähigkeit, sich ausdrücken zu können, fehlt ihm sehr", sagte Ehefrau Lorette der "Sport Bild" anlässlich des Jahrestages und machte klar: "Der 21. Juni 1998 bleibt unvergessen. Man hat meinem Mann seine Freiheit genommen."
Jener verhängnisvolle Sonntag bei der WM in Frankreich ging als "Schande von Lens" in die deutsche Fußball-Geschichte ein. Von "einem der dunkelsten Kapitel im deutschen Fußball" spricht DFB-Präsident Bernd Neuendorf in einer neuen ZDF-Dokumentation über den Angriff, der auch nach einem Vierteljahrhundert noch fassungslos macht. Die Täter hätten sich "verhalten wie Monster", heißt es später im Urteil.
Eine dreistellige Zahl deutscher Krawallmacher zieht an jenem Tag durch die Straßen der nordfranzösischem Kleinstadt, in der Deutschland am Abend in der Vorrunde auf Jugoslawien trifft. Nivel sperrt zusammen mit zwei anderen französischen Gendarmen die enge Rue Romuald Pruvost ab, als er und seine Kollegen von einer kleinen Gruppe Hooligans attackiert werden. Die beiden Kollegen Nivels können fliehen.
Haftstrafen für Hooligans sind nur schwacher Trost
Doch Nivel, damals 43 Jahre alt, Vater von zwei Kindern, wird von einem bis heute unbekannten Mann zu Boden gestoßen und verliert seinen Helm. Mehrere Männer treten und schlagen auf den wehrlosen Polizisten ein, teilweise mit einer Werbetafel aus Holz und dem Aufsatz seines Tränengasgewehres. Nivel bleibt in einer Blutlache liegen, erwacht erst nach sechs Wochen aus dem Koma. An den Überfall hat er keine Erinnerungen.
Deutschland und Frankreich stehen nach der brutalen Attacke unter Schock. Bundeskanzler Helmut Kohl nennt die Täter eine "Schande für unser Land". Der damalige DFB-Präsident Egidius Braun erwägt sogar, die deutsche Mannschaft von der WM abzuziehen. Kohl und UEFA-Präsident Lennart Johansson aber überzeugten "mich", so Braun, "dass das nicht der richtige Weg gewesen wäre - die Gewalttäter hätten über den Sport obsiegt".
Die Tat wirkt bis heute nach. Der DFB gründet 2000 die Daniel-Nivel-Stiftung, die sich unter anderem um Gewaltprävention kümmert. Nivel kommt mehrmals auf Einladung des DFB zu Fußballspielen, auch bei der WM 2006 in Deutschland oder der EM 2016 in Frankreich. Vor dem Spiel der Nations League am 16. Oktober 2018 in Paris verleiht ihm Bundesaußenminister Heiko Maas das Bundesverdienstkreuz.
Sechs Hooligans wurden in mehreren Prozessen zwischen 1999 und 2003 zu Haftstraßen zwischen dreieinhalb und zehn Jahren verurteilt. Für die Familie Nivel ein schwacher Trost. "Sie kamen", sagte Ehefrau Lorette, "ja wieder aus dem Gefängnis, sie bekamen ihr Leben zurück." Das Haus mit der Nummer 74 in der Rue Romuald Pruvost, vor dem Nivels Leben beinahe ausgelöscht wurde, ist längst abgerissen. Inzwischen ist dort eine Grünfläche entstanden.
Quelle: ntv.de, tsi/sid