"Collinas Erben" staunen Hummels hadert mit der Hand-Regel
15.04.2019, 09:36 Uhr

Schiedsrichter Tobias Stieler hatte viel Arbeit mit Santiago Ascacibar (r.): Erst verwies er den Argentinier mit Rot des Feldes, danach musste er auch noch Kai Havertz vor dem aufgebrachten Ascacibar schützen.
(Foto: imago images / Eibner)
Obwohl kein Gegner in der Nähe ist, unterläuft Mats Hummels ein Handspiel im Strafraum - weil ein Mitspieler ihn überrascht. Den Augsburgern bleibt ein Handelfmeter erspart, aber sie bekommen auch keinen Strafstoß zugesprochen, obwohl es dafür gute Gründe gab.
Die Entscheidung hatte zwar keinen Einfluss mehr auf die Frage, wer das Spielfeld als Sieger verlassen wird, aber sie belebte die Diskussion um das Thema Handspiel neu. 86 Minuten waren in der Partie zwischen Fortuna Düsseldorf und dem FC Bayern München (1:4) gespielt, die Gäste führten deutlich mit 3:0, als Benito Raman eine Flanke in den Bayern-Strafraum schlug. Dort gingen die Münchner Thiago und Mats Hummels aus verschiedenen Richtungen mit dem langen Bein zum Ball, unbedrängt von Gegnern. Thiago war einen Tick schneller – und überraschte damit seinen Mitspieler, der den auf ihn zufliegenden Ball mit dem erhobenen Arm traf statt mit dem Fuß. Die Fortunen reklamierten einen Handelfmeter, doch Schiedsrichter Felix Zwayer schüttelte den Kopf, die Begegnung lief zunächst weiter. Etwas später, als der Ball in einer neutralen Zone im Mittelfeld gespielt wurde, unterbrach er die Partie aber doch noch.

Natürlich war alles ganz anders: Mats Hummels ist mit der Elfmeterentscheidung gegen sich nicht einverstanden.
(Foto: imago images / DeFodi)
Denn sein Video-Assistent Robert Schröder hatte ihm zu einem Review am Spielfeldrand geraten. Das kam etwas überraschend, schließlich konnte man aus der Reaktion des Unparteiischen schließen, dass er das Handspiel eindeutig selbst gesehen und bewusst als nicht strafbar beurteilt hatte. In einem solchen Fall liegt die Eingriffsschwelle für den Helfer in Köln deutlich höher als in einer Situation, die der Schiedsrichter ganz oder teilweise nicht wahrgenommen hat. In der Praxis kommt es aber vor allem darauf an, welche Wahrnehmung der Unparteiische gegenüber dem Video-Assistenten kommuniziert. Ist sie aus dessen Sicht mit den Videobildern nicht in Einklang zu bringen, empfiehlt er ein Review. Das kann auch dann geschehen, wenn die Entscheidung als solche zwar vertretbar ist, die vom Referee genannten Gründe dafür aber überhaupt nicht vom Bildmaterial gedeckt sind.
Als Felix Zwayer auf das Feld zurückkehrte, entschied er jedenfalls auf Strafstoß für Düsseldorf. Zieht man den Kriterienkatalog heran, an dem sich die Schiedsrichter bei der Bewertung von Handspielen orientieren, dann gewichtete der Referee die Tatsache am stärksten, dass Hummels einen Arm weit über den Kopf gehoben und ihn schließlich zum heranfliegenden Ball geführt hatte. Dass dieser Ball am Ende aus kürzester Distanz und völlig unerwartet auf ihn zukam, weil der Innenverteidiger erkennbar nicht damit rechnen konnte, dass sein eigener Teamkollege die Kugel einen Sekundenbruchteil früher erreichen und in seine Richtung spielen würde, genügte Zwayer nicht als Gegenargument. Ebenso wenig, dass man dem Ex-Nationalspieler nicht ernsthaft unterstellen konnte, ein Handspiel in Kauf genommen zu haben.
Augsburg hätte einen Elfmeter bekommen müssen
Glaubt man Mats Hummels, dann war es dem Unparteiischen bei seiner Entscheidung selbst etwas unbehaglich zumute: "Ich habe mit Herrn Zwayer auf dem Platz geredet, er hat mir relativ klar gemacht, dass er, wenn er die Regeln machen würde, den eher nicht geben würde", sagte der Münchner. Den Spielraum, keinen Handelfmeter zu geben, sondern bei seiner ursprünglichen Entscheidung zu bleiben, hätte der Referee allerdings auch auf der Grundlage des geltenden Regelwerks gehabt. So wie ihn sein Kollege Bastian Dankert hatte, den im Spiel zwischen Eintracht Frankfurt und dem FC Augsburg (1:3) nach einer knappen halben Stunde auch die Videobilder nicht davon überzeugten, das Handspiel von Rani Khedira im Strafraum der Gäste als strafbar zu bewerten. Aus gutem Grund, denn der Augsburger hatte den Ball bei einer Hereingabe der Frankfurter erst mit dem Fuß gespielt und ihn dann hinter seinem Rücken, ohne ihn sehen zu können, versehentlich an den Arm bekommen.

Am Ende war's egal, dennoch wundern sich Collinas Erben: Warum bekam der FC Augsburg in Frankfurt keinen Elfmeter?
(Foto: imago images / Jan Huebner)
In einer anderen Situation hätte sich der Unparteiische dagegen womöglich korrigiert, wenn ihm denn zu einem Review geraten worden wäre: Nach 17 Minuten drang der Augsburger Marco Richter in den Strafraum der Gastgeber ein und versuchte, an Almamy Touré vorbeizuziehen. Der Eintracht-Verteidiger hinderte ihn jedoch daran, indem er ihm auf den Fuß trat. Es spricht viel für die Annahme, dass dieser Tritt, der im Video gut zu erkennen war, den anschließenden Sturz von Richter verursachte. Doch die Partie lief weiter, und auch der Video-Assistent intervenierte nicht. Dabei hätten sich stichhaltige Gründe für einen Eingriff ins Feld führen lassen.
Die Schiedsrichter sind es gewohnt, sofort zu pfeifen
Die Hände gebunden waren dem Assistenten in der Videozentrale dagegen kurz vor der Pause der Begegnung zwischen dem 1. FC Nürnberg und dem FC Schalke 04 (1:1). Der Nürnberger Hanno Behrens war geistesgegenwärtig in eine zu kurz geratene Kopfballrückgabe von Daniel Caligiuri gesprintet, hatte den Ball vor dem Schalker Torwart Alexander Nübel erreicht und ihn ins Tor geschoben. Doch Schiedsrichter Robert Kampka hatte ein "gestrecktes Bein", das heißt, ein gefährliches Spiel von Behrens ausgemacht und das Spiel deshalb sofort per Pfiff unterbrochen, also schon bevor der Ball die Torlinie überquerte. Damit schied eine nachträgliche Anerkennung des Treffers automatisch aus.
"Collinas Erben" - das ist Deutschlands erster Schiedsrichter-Podcast, gegründet und betrieben von Klaas Reese und Alex Feuerherdt. Er beschäftigt sich mit den Fußballregeln, den Entscheidungen der Unparteiischen sowie mit den Hintergründen und Untiefen der Schiedsrichterei. "Collinas Erben" schreiben jeden Montag auf ntv.de über die Schiedsrichterleistungen des Bundesligaspieltags. Unser Autor Alex Feuerherdt ist seit 1985 Schiedsrichter und leitete Spiele bis zur Oberliga. Er ist verantwortlich für die Aus- und Fortbildung in Köln, Schiedsrichterbeobachter im Bereich des DFB und arbeitet als Lektor und freier Publizist.
Wenn der Referee dagegen erst nach der Torerzielung gepfiffen hätte, wäre es dem Video-Assistenten möglich gewesen, ein Review zu empfehlen. Dafür – und für eine anschließende Korrektur – hätte sehr viel gesprochen, denn Behrens war einfach nur schneller als Nübel und hatte den Schlussmann keineswegs gefährdet, auch wenn sich das für Kampka aus seiner Perspektive auf dem Feld so dargestellt hatte. Dass er mit der Unterbrechung nicht gewartet hat, bis der Ball im Tor lag, ist für die Nürnberger sehr ärgerlich, aus der Sicht des Unparteiischen allerdings erklärbar: Die Bundesliga-Schiedsrichter waren es jahrelang gewohnt, das Spiel sofort zu unterbrechen, wenn sie eine Regelübertretung wahrnahmen und die Anwendung der Vorteilsbestimmung nicht in Frage kam.
Ascacibar droht lange Sperre
Dagegen sprach auch nichts, schließlich gab es keinen Video-Assistenten. Das ist nun anders, doch den eingeübten Automatismus zu ändern und den Reflex zu unterdrücken, so schnell wie möglich zu pfeifen, ist äußerst schwierig. Eine Umgewöhnung braucht entsprechend viel Zeit. In knappen abseitsverdächtigen Situationen in Tornähe klappt das Verzögern der Signalgebung sowohl bei den Assistenten an der Seitenlinie als auch bei den Unparteiischen auf dem Feld inzwischen zumeist sehr gut. Doch bei Szenen, in denen es um ein Foulspiel oder Handspiel eines Angreifers geht, zögert kein Schiedsrichter, der von seiner Wahrnehmung überzeugt ist. Hinzu kommt, dass die Referees grundsätzlich angewiesen sind, das Spiel nicht einfach in der Erwartung laufen zu lassen, dass sich der Video-Assistent im Bedarfsfall schon melden wird, sondern weiterhin auf dem Platz ihre Entscheidungen zu treffen. Keine leichte Situation für sie.
Umso bemerkenswerter, wie oft sie den Video-Assistenten gar nicht benötigen, um mit einer wichtigen Entscheidung richtig zu liegen, obwohl sie schwierig zu treffen ist. So wie Tobias Stieler in der Partie des VfB Stuttgart gegen Bayer 04 Leverkusen (0:1), als er das Spucken von Santiago Ascacibar gegen den Leverkusener Kai Havertz erkannte, obwohl es abseits des Balles erfolgte. Vermutlich hatte der Unparteiische geahnt, dass sich in dieser Szene etwas zusammenbrauen könnte. Entsprechend schnell war er mit der Roten Karte zur Stelle, außerdem verhinderte er durch sein energisches Dazwischengehen vermutlich eine weitere Tätlichkeit des Stuttgarters gegen Havertz, auch wenn er dabei selbst von Ascacibar gestoßen wurde. Diesem dürfte nun eine mehrwöchige Sperre bevorstehen, die sogar das Saisonaus bedeuten könnte. Sein Verein hat bereits reagiert und gegen ihn eine Geldstrafe verhängt.
Quelle: ntv.de