Mythos "Wembley 1972" Das schönste DFB-Spiel aller Zeiten
29.04.2022, 07:09 Uhr
Sie erfreuten sich an sich selbst: Das "Ramba-Zamba-Wunderteam" von 1972.
(Foto: imago images/Horstmüller)
Der Abend des 29. April 1972 im Londoner Wembleystadion ist in die Geschichte des deutschen Fußballs als Sternstunde der Nationalmannschaft eingegangen. Die Welt schwärmte nach dieser unvergesslichen Nacht von einem "Traumfußball" von einem anderen Stern. Und ein DFB-Spieler wusste an diesem Abend ganz besonders zu begeistern!
"Es gibt dank der Deutschen wieder jenen brillanten Fußball in Europa, den die Ungarn früher so unnachahmlich zeigten. Der ungarische Gipfel von einst ist wieder erreicht!" Der "Daily Telegraph" schwelgte am Morgen nach diesem legendären Abend des 29. April 1972 im Londoner Wembley-Stadion in Superlativen. Die spielerisch so eindrucksvolle Leistung der deutschen Nationalmannschaft ist bis heute unvergessen - und wohl auch unerreicht.
Was das DFB-Team in dieser himmlischen Nacht auf den Rasen in Englands Hauptstadt zauberte, wird von Zeitzeugen immer noch als das schönste Spiel einer DFB-Elf aller Zeiten bezeichnet. Und ein Mann übertraf an diesem Abend alle. "Es war Günter Netzers größtes Spiel", meinte Bundestrainer Helmut Schön stets, wenn er zu diesen unglaublichen 90 Minuten befragt wurde. Und der Mann mit der Mütze kannte sich mit dieser Partie ganz besonders gut aus, wie er einmal verriet.
"Wenn ich mal ausgesprochen nostalgisch bin und wirklich guten Fußball sehen will, dann lege ich die Kassette 'England 72' ein, setze mich aufs Sofa und schwelge in Erinnerungen." Bundestrainer Helmut Schön konnte sich an dieser fast schon mythisch verklärten Partie der deutschen Nationalmannschaft im Frühjahr 1972 im Londoner Wembleystadion gegen England einfach nicht sattsehen.
"Ramba-Zamba-Zaubermischung"
Bis heute zählt die Viertelfinal-Hinspiel-Begegnung der Europameisterschaft 1972 zu den absoluten Sternstunden der DFB-Elf. Die unvergessene "Ramba-Zamba-Zaubermischung" ("Bild"), erdacht und umgesetzt von Franz Beckenbauer und Günter Netzer als eine Art Doppel-Libero, wirbelte nicht nur das Team Englands durcheinander, sondern begeisterte auch die komplette internationale Fußballwelt. "Traumfußball aus dem Jahr 2000", schrieb die französische Sportzeitung "L'Équipe" und der Star dieser Mannschaft, Günter Netzer, meinte später einmal: "In Wembley waren wir der Perfektion sehr nahe."
Der Gladbacher machte an diesem Tag vermutlich tatsächlich die Partie seines Lebens. Im genialen Zusammenspiel mit Franz Beckenbauer tanzte Netzer durch die englischen Reihen und setze immer wieder auf unnachahmliche Art und Weise seine Mitspieler in Szene. Niemand hat die Genialität dieses einzigartigen Moments jemals besser in Worte gekleidet als der Autor Karl-Heinz Bohrer: "Der aus der Tiefe des Raumes plötzlich vorstoßende Netzer hatte 'thrill'. 'Thrill', das ist das Ergebnis, das nicht erwartete Manöver; das ist die Verwandlung von Geometrie in Energie, die vor Glück wahnsinnig machende Explosion im Strafraum, 'thrill', das ist die Vollstreckung schlechthin, der Anfang und das Ende. 'Thrill' ist Wembley."
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Aber auch die Autoren des Buchs "Die goldenen siebziger Fußballjahre" gerieten ob der "Galavorstellung" des Gladbachers ins Schwärmen: "Netzer gelang an diesem Abend einfach alles. Er machte das Spiel langsam, dann wieder schnell, schlug Pässe über vierzig Meter, spielte direkt, kurz oder lang, mit einem phänomenalen Gefühl für die Entfernung. Netzers Spiel hatte an diesem Abend den Hauch des Genialen."
"Mannschaft ist ein Wunderteam"
Nach einem Treffer von Uli Hoeneß nach knapp einer halben Stunde, gelang den Engländern in der 77. Minute durch Lee der späte Ausgleich. Verkehrte Welt zu diesem Zeitpunkt. Und trotz aller deutschen Überlegenheit hätte in diesen Minuten die Begegnung noch einmal komplett kippen können. Doch dann kam die 85. Minute. Foulelfmeter für Deutschland. Eigentlich hätte nun Gerd Müller antreten sollen, doch er fühlte sich nicht gut. Er überließ Netzer die Kugel. Wer auch sonst hätte an diesem Tag diesen wichtigen Strafstoß schießen sollen?
Doch Bundestrainer Helmut Schön, der Mann mit der Mütze, der zumeist doch recht entspannt an der Seitenlinie die Spiele verfolgte, war nervös. So angespannt, dass er beim Hinsetzen die Bank verfehlte und sich der Länge nach hinlegte. Das alles bekam Günter Netzer mit - und behielt doch die Nerven. Er schoss den Ball so scharf in die linke Ecke, dass Englands Torhüter Gordon Banks zwar noch an die Kugel kam, aber sie dennoch zum 2:1 im Tor der Engländer landete. Netzer sprang vor Erleichterung jubelnd in die Höhe und riss die Arme gen Himmel.
Danach setzte Gerd Müller noch das Sahnehäubchen auf dieses unglaubliche Spiel. Sein Treffer zum 3:1 war ein typisches Tor der Marke Müller. Vier Gegenspieler hatte der Bayern-Star gegen sich - und drehte sich doch so geschickt um die eigene Achse, dass er den Ball im Tor der Engländer versenken konnte. Am nächsten Tag schrieb die "La libre Belgique": "Die Deutschen sind voller Idee, voller Erfindung. Kurzum: Diese Mannschaft ist ein Wunderteam."
"Sprechen nicht vom Krieg, sprechen vom Fußball"
Im Rausch des unverhofften und dann doch so überzeugenden Sieges vergaß Bundestrainer Helmut Schön anschließend jedoch nicht, seine Irritation über die Schlagzeilen der Insel-Presse vor der Partie zu äußern: "In den englischen Zeitungen ist es ja recht kriegerisch zugegangen, da war die Rede von Siegfried-Linie und den Panzern. Alf Ramsey war der Montgomery und ich der Rommel. Das ist bedauerlich. Wir sprechen nicht vom Krieg, sondern vom Fußball."
Doch die Engländer waren mit ihrer martialischen Sprache damals nicht allein. Die italienische "Gazetto dello Sport" schrieb vor dem Finale der Europameisterschaft, das die Deutschen schließlich mit 3:0 gegen die Sowjetunion gewannen, mit ebenfalls kriegerischer Ausdrucksweise: "Man müsste es gegen die Deutschen mit einem Maschinengewehr versuchen. Ohne ein solches kann man sie nicht stoppen."
Doch das blieb der einzige Wermutstropfen in diesen zauberhaften Tagen für den deutschen Fußball. Das Fachmagazin "Kicker", das vor der legendären Partie vor fünfzig Jahren in größter Sorge um die DFB-Elf gewesen war, schrieb nach dem Spiel versöhnt und verzückt: "Eine Demonstration aller der Fähigkeiten, die Deutschlands Nationalelf zu einer Mannschaft der absoluten Weltklasse werden ließ." Und so wird dieser Abend von Wembley wohl für immer als das schönste Spiel einer deutschen Fußball-Nationalmannschaft aller Zeiten in Erinnerung bleiben.
Quelle: ntv.de