Wirtschaft

Wenn Heizen arm macht "Wer eine Öl- oder Gasheizung gekauft hat, wurde angelogen"

00:00
Diese Audioversion wurde künstlich generiert. Mehr Infos
Ein Hochhaus in Hannover wird beheizt - für viele Menschen ist das Luxus geworden.

Ein Hochhaus in Hannover wird beheizt - für viele Menschen ist das Luxus geworden.

(Foto: picture alliance/dpa)

Eine Faustregel besagt: Wer mehr als 10 Prozent seines Nettoeinkommens für Energiekosten ausgibt, leidet unter Energiearmut. 2023 betraf das etwa 43 Prozent aller Haushalte. Um zu helfen, bietet der britische Energieversorger Octopus Energy seinen Kunden Heizdecken an: Eine Person könne man günstiger wärmen als einen Raum, erklärt Deutschland-Chef Bastian Gierull im "Klima-Labor" von ntv. Doch damit werden nicht die Ursachen der Energiearmut bekämpft: Viele Menschen können sich Strom und Wärme nicht mehr leisten. Octopus Energy verteilt deshalb nicht nur Heizdecken, sondern beschreitet neue Wege. Das Unternehmen schließt seine Kunden direkt an Windräder an und senkt die Strompreise, wenn der Wind kräftig bläst. In Nordirland entwickelt das Unternehmen besonders günstige Wärmepumpen, damit niemand mehr in Öl- oder Gasheizung investiert: "Deren Zusatzkosten werden in den nächsten 10 bis 20 Jahren richtig wehtun", sagt Gierull.

ntv.de: Sie haben Ihren Kunden 1800 Heizdecken angeboten. Wie viele haben Sie verschickt?

Bastian Gierull: Alle, die Nachfrage war groß. Innerhalb von zehn Minuten hatten wir 400 Anfragen, innerhalb eines Tages mehrere Tausend. Das war bedrückend. Energiearmut existiert.

Der britische Ökostrom- und Gasanbieter Octopus Energy ging 2020 als Octopus Energy Germany an den Markt. Bastian Gierull ist seit Sommer 2023 Deutschlandchef. Bis Sommer 2025 will das Unternehmen eine Million Kunden mit Energie versorgen.

Der britische Ökostrom- und Gasanbieter Octopus Energy ging 2020 als Octopus Energy Germany an den Markt. Bastian Gierull ist seit Sommer 2023 Deutschlandchef. Bis Sommer 2025 will das Unternehmen eine Million Kunden mit Energie versorgen.

(Foto: picture alliance/dpa)

Was haben die Leute geschrieben, warum Sie eine benötigen?

Einige haben gesagt, dass sie wegen der hohen Energiepreise und speziell der Heizkosten nur noch ein Zimmer heizen, oft das Kinderzimmer.

Und selbst im Wohnzimmer frieren?

Ja. Wir haben auch von Rentnern gehört, die sich nur noch mit Decken und Jacken warmhalten. Viele Leute haben ihren Verbrauch drastisch reduziert, heizen nur gewisse Räume oder an Tagen, an denen sie länger zu Hause sind, um die Kosten in den Griff zu bekommen.

Die Aktion war bestimmt super Marketing für Sie und Octopus Energy.

Uns geht es nicht ums Marketing. Wir wollen der kundenfreundlichste Energieanbieter sein. Mit diesem Versprechen sind wir 2015 in Großbritannien ins Geschäft eingestiegen, denn dort und in anderen Ländern existiert eine extreme Schieflage. Viele Kunden werden ausgenutzt, von ihren Energieanbietern mit Lockangeboten geködert und dann in immer teurere Tarife geschoben. Das wollen wir alles anders machen: Es gibt Leute, für die selbst der fair bepreiste Energietarif zu teuer ist. Und es ist viel günstiger, eine Person zu heizen als einen ganzen Raum.

Und für Sie als Energieversorger rechnet es sich, wenn die Kunden weniger verbrauchen?

Es hat niemand etwas davon, wenn irgendjemand seine Rechnungen nicht bezahlen kann. Wir nicht und für Kunden ist es auch nicht angenehm, in ein Schuldverhältnis zu rutschen. Aber natürlich, wenn Kunden viel Energie verbrauchen, klingelt die Kasse. Es gibt sicherlich Akteure am Markt, die so agieren und versuchen, ihre Margen hochzutreiben.

Auch im Deutschen?

Auf jeden Fall. Wir sprechen mit der Politik und den Regulierungsbehörden darüber und versuchen aufzuzeigen, welche Mechanismen am Markt dazu führen, dass dieses System überhaupt möglich ist.

Wie groß sind denn die Preisspannen zwischen einem günstigen Versorger und einem teuren?

Vorweg: Wir sind nicht der teuerste Energieanbieter, aber auch nicht der billigste. Unser Versprechen ist, so günstig zu sein, wie es geht. Der Preis wird nicht jedes Jahr ein bisschen höher geschraubt in der Hoffnung, dass die Kunden vergessen, was sie vor drei Jahren bezahlt haben. Das ist der große Unterschied: Was zahlt ein neuer Kunde? Was zahlen Kunden, die seit vier Jahren bei demselben Energieanbieter sind oder, das haben wir in Deutschland häufiger, schon seit zehn oder 15 Jahren?

Deutlich mehr.

Genau, teilweise sind es zehn oder 20 Cent pro Kilowattstunde mehr als bei neuen Tarifen. Bei manchen Anbietern gehört es zum Geschäftsmodell, dass Bestandskunden etwas mehr zahlen als Neukunden. Andere Akteure treiben es auf die Spitze und locken Kunden mit Angeboten, die viel zu gut sind, um wahr zu sein. Dann werden die Preise in den Folgejahren drastisch erhöht. Teilweise passiert das trotz Preisgarantie schon im ersten Vertragsjahr. Diese Anbieter spekulieren auf Kunden, die nicht wissen, dass sie bei einer außerplanmäßigen Preiserhöhung sofort den Anbieter wechseln können. Man erhält eine lange E-Mail, in der dieser Hinweis versteckt wurde. Das machen die Anbieter zwei oder dreimal im Jahr und sieben aus, welche Leute nicht wechseln und, wen sie weiter abschöpfen können. Wir sind in Großbritannien vor acht Jahren an den Markt gegangen und inzwischen der größte Energieanbieter des Landes. Unsere Wechselquote geht gen Null, weil sich unsere Kunden gut behandelt fühlen.

Und die Rechnungen bezahlen können?

Wo finde ich das "Klima-Labor"?

Dieses Interview ist eigentlich ein Podcast, den Sie auch anhören können.

Wo? Sie finden das "Klima-Labor" bei RTL+, Amazon Music, Apple Podcasts, Spotify und als RSS-Feed. Klicken Sie einfach die Links an.

Sie haben eine Frage? Schreiben Sie uns eine E-Mail an klimalabor@ntv.de.

Die Erneuerbaren sind die günstigsten Energien und werden jedes Jahr noch günstiger. Alles andere sind Zusatzkosten, die mit der Energiequelle nichts zu tun haben. Aber wir müssen den Energiemarkt der Zukunft neu denken, weil wir nicht länger Kohle- oder Gaskraftwerke zuschalten können, sobald die Leute abends nach Hause kommen, ihre elektronischen Geräte anschalten und die Heizung aufdrehen, bis sie schlafen gehen. Erneuerbare kann ich nicht an- und ausknipsen. Die Produktion ist mal hoch und extrem günstig und mal niedrig. Und wenn ich eine flexible Produktion habe, muss ich den Verbrauch flexibilisieren.

Wenn man im Dezember abends von der Arbeit nach Hause kommt und die Heizung aufdrehen möchte, um nicht zu frieren, ist man aber nicht wirklich flexibel.

Nein, aber wir betreiben beispielsweise in Großräschen in Brandenburg ein Windrad. Einwohner in der Nähe können über ein Smartmeter daran angebunden werden und einen flexiblen Tarif nutzen: Wenn viel Wind bläst und ergo viel Strom produziert wird, wird es günstiger. Es gibt zwei Stufen. Bläst der Wind stark, sparen die Kunden 20 Prozent ihrer Stromkosten. Bläst der Wind sehr stark, sogar 50 Prozent.

Und Sie geben den Leuten Bescheid, dass jetzt ein guter Zeitpunkt wäre, die Wäsche zu waschen?

Ja, sie erhalten von unserer App eine Mitteilung auf dem Smartphone und sehen: Oh, der Strom kostet gerade nur die Hälfte. Dann fangen sie an zu backen, eine zweite Ladung Wäsche zu waschen oder das E-Auto und die Akkus aufzuladen. Lässt die Stromproduktion wieder nach, reduzieren sie den Verbrauch. Klar, das passt nicht immer, aber wir sehen: Die Leute ändern ihr Verhalten und sparen dadurch Geld.

Dann muss man aber das Windrad vor der Haustür akzeptieren. Das wollen viele Menschen ja nicht.

In Großbritannien haben wir bereits fünf Windräder und sehen in Umfragen, dass die Akzeptanz für lokale Windkraft um 80 Prozent steigt, wenn die Menschen direkt daran angebunden sind. Das ist das Problem dieser Energierevolution: Es gibt wahnsinnig viele Vorteile, die nicht bei den Kunden ankommen. Häufig werden sie nur an den Kosten für den Infrastrukturausbau beteiligt. In Großbritannien beschweren sich jetzt aber die Nachbardörfer außerhalb des Windrad-Radius', warum wir bei ihnen noch keines gebaut haben.

Sie haben gesagt, dafür sei auch ein Smartmeter notwendig. Das sind intelligente Stromzähler?

Genau, die rechnen minuten- oder sekundengenau ab, wie viel Strom verbraucht wird. Das können die klassischen Stromzähler nicht, die summieren den Verbrauch einfach nur.

Die sind bestimmt nicht günstig? Zusätzlich muss man digital gut aufgestellt sein, um die Push-Mitteilungen von Ihnen zu bekommen, ein Haus auf dem Land besitzen und idealerweise auch ein E-Auto, damit sich das Angebot lohnt. Das klingt nicht nach Menschen, die unter Energiearmut leiden.

Die Smartmeter installieren wir kostenlos bei unseren Kunden, denn das ist die Schlüsseltechnologie der Energiewende. Aber klar, es kann nicht das Ziel sein, reiche Teslafahrer noch reicher zu machen. Wenn die Energiewende zum Luxusprodukt wird, werden wir scheitern. Das muss schneller und vor allem günstiger passieren, damit alle profitieren. Aber neue Technologien wie Smartmeter und Wärmepumpen sind leider immer teuer, wenn sie auf den Markt kommen, weil es noch keine Massenproduktion gibt und damit keine Skalierungseffekte.

Deswegen hat der Absatz von Gasheizungen vergangenes Jahr einen neuen Rekordwert erreicht. Bei Ölheizungen sah es ähnlich aus …

Ja, wir brauchen Effekte wie bei Handys oder Laptops. Die waren anfangs auch unerschwinglich, dann sind die Kosten gefallen. Heute sind sie nicht mehr wegzudenken. Dort müssen wir bei Smartmetern und Wärmepumpen auch hinkommen. Dass vergangenes Jahr so viele Menschen in neue Öl- und Gasheizungen investiert haben, ist tragisch, denn sie werden in den nächsten Jahren so viel mehr dafür bezahlen. Sie wurden einfach angelogen. Die Zusatzkosten werden in den nächsten 10 bis 20 Jahren richtig wehtun. Das fördert Energiearmut.

Weil Öl und Gas teurer werden?

Es wird teurer und es kommen CO2-Ausgleichssteuern obendrauf. Diese Rechnung hat man nicht aufgemacht, sondern nur gesagt: Die Gasheizung kostet 5000 Euro, die Wärmepumpe 30.000 Euro. Deswegen muss die Wärmepumpe günstiger werden. Deswegen haben wir in Nordirland einen Wärmepumpen-Hersteller gekauft und in den vergangenen zwei Jahren eine mit dem zentralen Ziel entwickelt, sie günstiger zu produzieren und wartungsärmer zu machen, damit sie länger laufen kann. Das Ergebnis: Eine staatlich geförderte Wärmepumpe kostet in Großbritannien ungefähr 15.000 Pfund. Wir können unsere mit Förderung für 3000 Pfund anbieten, das sind ungefähr 3500 Euro. Die ersten laufen gerade vom Band und werden installiert. Bei diesen Kosten ist es überhaupt keine Frage mehr, was die Menschen sich einbauen werden.

Mit Bastian Gierull sprachen Clara Pfeffer und Christian Herrmann. Das Gespräch wurde zur besseren Verständlichkeit gekürzt und geglättet. Das komplette Gespräch können Sie sich im Podcast "Klima-Labor" anhören.

Klima-Labor von ntv

Was hilft wirklich gegen den Klimawandel? Funktioniert Klimaschutz auch ohne Job-Abbau und wütende Bevölkerung? Das "Klima-Labor" ist der ntv-Podcast, in dem Clara Pfeffer und Christian Herrmann Ideen, Lösungen und Behauptungen der unterschiedlichsten Akteure auf Herz und Nieren prüfen.

Ist Deutschland ein Strombettler? Rechnen wir uns die Energiewende schön? Vernichten erneuerbare Energien Arbeitsplätze oder schaffen sie welche? Warum wählen Städte wie Gartz die AfD - und gleichzeitig einen jungen Windkraft-Bürgermeister?

Das Klima-Labor von ntv: Jeden Donnerstag eine halbe Stunde, die informiert, Spaß macht und aufräumt. Bei ntv und überall, wo es Podcasts gibt: RTL+, Amazon Music, Apple Podcasts, Spotify, RSS-Feed

Sie haben Fragen an uns? Schreiben Sie eine E-Mail an klimalabor@ntv.de.

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen