"Teilzeit-Kultur" in Deutschland Der Ruf mehr zu arbeiten "führt in die Irre"
04.07.2024, 17:32 Uhr Artikel anhören
Die Hälfte der Frauen in Deutschland arbeitet in Teilzeit, viele wären gern mehr Stunden berufstätig.
(Foto: picture alliance / photothek)
Die Personalchefin der Commerzbank sagt der in Deutschland verbreiteten Teilzeit den Kampf an. Die reine Forderung nach mehr Wochenstunden dürfte allerdings wenig ändern. Arbeitsmarktexperte Alexander Spermann sieht die Arbeitgeber in der Pflicht.
Fast ein Drittel der Beschäftigten in Deutschland arbeiten in Teilzeit - "das ist einfach zu viel", findet die Personalvorständin der Commerzbank, Sabine MInarsky. Deutschland, Österreich und die Schweiz müssten sich von der "Teilzeit-Kultur" wieder lösen, schreibt die Managerin angesichts des Fachkräftemangels bei Linkedin.
Fehlendes Personal lässt Ökonomen, Unternehmen und Politiker seit Monaten nach mehr Arbeitsstunden rufen. Sie sehen Deutschlands künftige Wirtschaftsleistung in Gefahr. Arbeitsmarktexperte Alexander Spermann hingegen sieht die Unternehmen selbst in der Pflicht. "Einfach der Ruf nach mehr Stunden führt in die Irre", sagt der Professor für Volkswirtschaftslehre an der "FOM Hochschule für Oekonomie & Management" im Interview mit ntv. Es gehe darum, den Mitarbeitern "Topbedingungen zu bieten, damit sie hochproduktiv arbeiten können".
Unternehmen sollten seiner Einschätzung nach nicht nur mehr Arbeitsstunden fordern, sondern dafür sorgen, dass diejenigen, die mehr arbeiten wollen, das auch können. Umfragen zeigten, dass Teilzeitbeschäftigte im Schnitt gern mehr arbeiten würden. Arbeitgeber sollten Spermann zufolge deshalb ihren Mitarbeitern ermöglichen, mehr von zu Hause aus zu arbeiten, etwa wenn ihre Kinder krank sind, sowie flexiblere Arbeitszeiten anbieten. Auch in Zuschüssen zu Betreuungskosten sieht der Arbeitsmarktexperte einen Lösungsansatz. Der Staat könne nicht alle Probleme lösen, so sei etwa die Zahl der Kita-Plätze begrenzt.
Im internationalen Vergleich arbeiten die Deutschen zwar relativ wenige Stunden, wie Spermann erklärt - in diesen allerdings sehr effizient. Darin sieht er auch den Schlüssel für die Zukunft: Es müsse nicht nur mehr, sondern hocheffizient gearbeitet werden. "Dann können wir uns auch erlauben, weniger Stunden als andere zu arbeiten." Allerdings sei dies im Moment nicht der Fall: Deutschland hinke bei der Digitalisierung hinterher und zähle bei der Flexibilisierung von Arbeitszeiten und -ort nicht zur Spitzengruppe. "Das muss uns gelingen."
"Wir haben die Rente an der Backe"
Auch Stepstone-Chef Sebastian Dettmers verweist auf die Produktivität als Lösung gegen den Fachkräftemangel. "Fakt ist: Wir haben die Rente an der Backe, wir haben das Gesundheitssystem an der Backe - das müssen wir genauso finanzieren wie notwendige Investitionen ins Bildungssystem, in die Infrastruktur", sagt er im ntv-Podcast "Startup - Jetzt ganz ehrlich". "Wie kriegen wir das hin: mit mehr Produktivität oder mehr Arbeit? Eines von beiden muss es sein." Politiker vernachlässigen in der Debatte seiner Meinung nach die Produktivität. Im Gegenteil werde diese sogar niedrig gehalten, etwa durch Kurzarbeit in "überholten Industrien".
Wie Spermann pocht Dettmers zudem auf eine bessere Kinderbetreuung, allerdings durch den Staat. Frauen steckten in der Teilzeitfalle, weil sie keine Betreuung für die Kinder hätten. "In den skandinavischen Ländern, da sieht das einfach ganz anders aus", wie er gerade bei einem Aufenthalt in Norwegen festgestellt hat. Er frage sich: "Warum bekommen wir das in Deutschland nicht besser hin?" Auch eine Stepstone-Umfrage unter Eltern ergab demnach, dass zwei Drittel der Frauen in Teilzeit gern in Vollzeit oder "vollzeitnah" arbeiten würden, wenn die Betreuung ihrer Kinder sichergestellt ist. In Deutschland arbeitet laut Statistischem Bundesamt die Hälfte der Frauen in Teilzeit.
"Tief verankert in unserer Kultur"
Dettmers sieht das Problem nicht nur in den Kitas, sondern auch Schulen, an denen kurzfristige Schließzeiten ebenfalls verbreitet sind. "Da steckt nach meiner Meinung etwas tief verankert in unserer Kultur, nämlich dass wir davon ausgehen, dass wir einen Kindergarten, eine Schule mal eben schließen können, weil es da ja jemanden gibt - in Klammern: die Mutter." Das sei falsch und etwa in Skandinavien oder Frankreich nicht der Fall. Frankreich habe die Kindergärten und Schulen in der Corona-Pandemie nie geschlossen, Deutschland dagegen monatelang. "Blöderweise haben Eltern keine Lobby", sagt der Stepstone-Chef. "Sie demonstrieren nicht, sie begehren nicht laut auf für ihre Bedürfnisse, das ist aber ein Riesenproblem" - das die Gesellschaft interessieren sollte.
Commerzbank-Vorständin MInarsky hingegen geht es nach eigenen Angaben nicht um Teilzeitbeschäftigte, die Kinder erziehen oder Angehörige pflegen. Tatsächlich arbeiten laut Statistischem Bundesamt mehr als ein Viertel der Teilzeitbeschäftigten aus freien Stücken nicht in Vollzeit, vor allem ältere Beschäftigte reduzieren ohne einen solchen Anlass ihre Arbeitszeit. MInarsky will zum Beispiel Mitarbeiter dazu bringen, ihre Stundenzahl wieder zu erhöhen, wenn ihre Kinder größer sind, wie sie im Gespräch mit dem "Handelsblatt" erklärte.
Die Personalerin sieht die Unternehmen ebenfalls in der Pflicht: "In der Vergangenheit haben wir als Arbeitgeberin keinen bewussten Fokus darauf gelegt, dass Mitarbeitende ihre Teilzeitquote wieder erhöhen." In der Generation der Babyboomer habe keine Notwendigkeit bestanden. Jetzt, wo diese in Rente gehen, sollen es die Jüngeren richten. Für "fauler" hält MInarsky diese aber nicht: Sie habe nicht den Eindruck, "dass die junge Generation weniger leistungsbereit ist und weniger arbeiten möchte".
Quelle: ntv.de