
Die Experten von EY haben die Bilanzen von Wirecard jahrelang abgesegnet.
(Foto: imago images/Hannelore Förster)
Seit 2009 prüft Ernst & Young die Bücher von Wirecard. Aber trotz zahlreicher Hinweise auf Ungereimtheiten in der Presse und von Anlegern winken die Prüfer von EY die Bilanzen Jahr für Jahr durch. Erst dieses Jahr wird es ihnen zu viel: Haben sie zuvor jahrelang geschlampt?
Für Bundesfinanzminister Olaf Scholz ist die Sache klar: Die Wirtschaftsprüfer sind Schuld am Wirecard-Skandal. Schließlich hätten sie die Jahresabschlüsse des einstigen Investoren-Lieblings jahrelang nicht beanstandet, kritisiert er bei seiner Anhörung im Finanzausschuss des Bundestags.
Der Eindruck, dass die Bundesregierung die Schuld auf EY abwälzen will, bestätigt sich knapp eine Woche später: Die Wirtschaftsprüfer-Aufsicht Apas nimmt Ermittlungen gegen EY auf. Sie werde alle Jahres- und Konzernabschlussprüfungen des Unternehmens bei Wirecard ab 2015 auf "die Einhaltung der gesetzlichen und berufsrechtlichen Vorgaben untersuchen", heißt es Anfang August.
Denn auch die Kontrolleure werden kontrolliert. Die Wirtschaftsprüfer. Bekannt sind vor allem die großen Vier: Ernst & Young, das sich heute nur noch EY nennt, KPMG, Deloitte und PricewaterhouseCoopers, auch als PWC bekannt. Sie wachen über die Bücher der großen und bekannten Unternehmen und schlagen Alarm, wenn mit deren Zahlen etwas faul ist. "Das kommt selten vor", sagt Kai-Uwe Marten im ntv-Podcast "Wieder was gelernt". Er leitet an der Universität Ulm das Institut für Rechnungswesen und Wirtschaftsprüfung.
"Bedeutsamer Sachverhalt"
In Deutschland sind alle mittelgroßen und großen Kapitalgesellschaften verpflichtet, einen Abschlussprüfer zur Kontrolle des Jahresabschlusses zu bestellen. In der Praxis betrifft es alle Unternehmen, die an der Börse notiert sind, damit Anleger wissen: Hier geht alles mit rechten Dingen zu. "Der Gesetzgeber erwartet vom Wirtschaftsprüfer stellvertretend für die Öffentlichkeit, dass er ein Urteil abgibt, ob der vorgelegte Abschluss im Einklang mit den gesetzlichen Vorschriften ist", sagt Experte Marten. Der sogenannte uneingeschränkte Bestätigungsvermerk sei der Beleg dafür.
Den hat auch Wirecard jedes Jahr aufs Neue erhalten. Seit 2009 hat der Aufsichtsrat des Unternehmens Ernst & Young mit der Prüfung beauftragt. Die Experten haben die Bücher abgesegnet, obwohl die "Financial Times" schon 2015 erstmals über Ungereimtheiten beim Zahlungsdienstleister berichtet hatte. Mit den Jahren werden die Vorwürfe schärfer und konkreter. Anfang 2019 wirft die Finanzzeitung Wirecard Geldwäsche und Kontenfälschung vor, in die ein Unternehmensmanager in Singapur verwickelt sein soll. Weitere Recherchen folgen. Darin heißt es, Wirecard fälsche seine Bilanzen.
Diesen Hinweisen geht EY nach, als es im Frühjahr 2019 den Jahresabschluss für das Jahr 2018 kontrolliert. In ihrem Bericht, der dem Zahlenwerk anhängt, erklären die Buchprüfer die Vorwürfe sogar zu den "bedeutsamsten Sachverhalten", mit denen sie sich beschäftigt haben. "Das kann man auch erwarten", sagt Kai-Uwe Marten. Denn durch die Hinweise aus der Presse sei das Prüfungsrisiko für EY gestiegen - das Risiko, dass wesentliche Fehler nicht entdeckt werden.
Kein Fund trotz forensischer Experten
Am Ergebnis ändert sich aber nichts: In seinem Bericht betont EY, man habe sogar eigene forensische Experten eingesetzt, um den Vorwürfen nachzugehen, Unregelmäßigkeiten habe man im Jahresabschluss von Wirecard aber nicht entdeckt. Im April 2019 erteilen die Prüfer dem Skandal-Unternehmen für 2018 einen uneingeschränkten Bestätigungsvermerk. Alles super also, nichts daran auszusetzen. Die Prüfer sind auf Wirecard reingefallen. Aber haben Sie auch geschlampt?
Nicht unbedingt. Es kann durchaus sein, dass EY in den Bilanzen einfach an der falschen Stelle nach Ungereimtheiten gesucht hat. Die Vorwürfe waren zwar sehr konkret, aber das Zahlenwerk ist umfangreich. Und der Gesetzgeber verlange bewusst keine Vollprüfung, so Kai-Uwe Marten. Der Prüfer müsse seine Arbeit auf der einen Seite effektiv, aber auf der anderen Seite auch effizient machen können. "Und das kann natürlich dazu führen, dass Fehler unentdeckt bleiben."
Niemand kann alles kontrollieren, ist der Ansatz. Das wäre unmöglich, bei Tausenden Rechnungen, Dokumenten und Belegen. Deshalb werde der Bestätigungsvermerk auch nur mit "hinreichender Prüfungssicherheit" festgestellt, nicht mit absoluter, sagt Marten. "Es bleibt immer ein Restrisiko."
Aber diese Praxis hat Konsequenzen: Der Betrug von Wirecard blieb trotz Prüfung unentdeckt, die deutschen Kontrollbehörden nahmen stattdessen die Kritiker ins Visier. Im gleichen Monat, als das Unternehmen seinen abgesegneten Jahresabschluss für 2018 der Öffentlichkeit vorstellte, zeigt die deutsche Finanzaufsichtsbehörde Bafin die Journalisten der "Financial Times" und kritische Anleger an. Sie wirft ihnen Marktmanipulation vor.
Brachte EY KMPG auf die Spur?
Das Kartenhaus bricht erst ein Jahr später zusammen: Um die Vorwürfe der "Financial Times" ein für alle Mal auszuräumen, bestellt der Aufsichtsrat von Wirecard im Oktober 2019 eine Sonderprüfung. Der Auftrag geht dieses Mal nicht an EY, sondern an KPMG. Ein anderes der vier großen Prüf-Häuser. Ein halbes Jahr später stellen die Experten ihr Ergebnis vor. Für einige Umsätze fehlen Nachweise. Es geht um Einzahlungen auf Treuhandkonten in Höhe von rund einer Milliarde Euro, die möglicherweise nicht existieren.
Arbeitet KPMG sorgfältiger als EY? Unklar. Das können Außenstehende schlecht beurteilen. Es sei aber ein großer Unterschied, ob man eine normale gesetzliche Abschlussprüfung durchführe oder gezielt nach Betrug suche, sagt Kai-Uwe Marten. Er geht davon aus, dass EY die Sonderprüfung mit auf den Weg gebracht hat: Vermutlich habe man "tiefer gebohrt als bei einer üblichen Abschlussprüfung", sei dabei auf verdächtige Zahlen gestoßen, habe aber kein Fehlverhalten belegen können, tippt er. Das habe EY dem Aufsichtsrat berichtet, der habe dann den Auftrag zur Sonderprüfung erteilt. Da ging es dann nicht mehr darum, Rechnungslegungsstandards zu kontrollieren, sondern Manipulationsvorwürfe aufzuklären.
Den turnusmäßigen Jahresabschluss für 2019 übernahmen dann wieder die Prüfer von EY. Und dank KPMG wussten die Prüfer dieses Mal vermutlich auch, wo sie nach Ungereimtheiten suchen mussten. Mitte Juni, nur zwei Monate später, verweigerten sie schließlich das Testat: Nun fehlten in der Bilanz von Wirecard Belege über 1,9 Milliarden Euro, die auf Treuhandkonten auf den Philippinen liegen sollten. Wenig später meldete das Unternehmen Insolvenz an.
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Quelle: ntv.de