DIW-Ökonom Karl Brenke "Schulz hat an der falschen Stelle angepackt"
23.02.2017, 14:48 Uhr
Martin Schulz fordert unter anderem eine längere Bezugsdauer des Arbeitslosengelds I.
(Foto: picture alliance / Markus Scholz)
SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz will die Agenda 2010 nachbessern und erntet reichlich Widerspruch. DIW-Ökonom Karl Brenke erklärt n-tv.de, woher der Sturm der Entrüstung rührt. Und wo Schulz eher hätte ansetzen sollen.
n-tv.de: SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz hat viel Kritik für sein Wahlkampfthema einstecken müssen. Wie erklären Sie die heftige Reaktion auf seine angekündigte Arbeitsmarktreform?
Karl Brenke: Was Schulz gemacht hat, war ein symbolischer Vorstoß. Die Agenda 2010 ist in der SPD und in großen Teilen der Wählerschaft nicht unbedingt beliebt. Er hat einzelne Elemente herausgegriffen. Jetzt bleibt abzuwarten, was da noch kommt. Wehret den Anfängen, sagen sich wohl viele. Daher rührt der große Aufruhr. Wir haben Wahlkampf. Es ist die Zeit großer Versprechungen und Populisten. Und es kann sein, dass man Versprechungen macht, die man möglicherweise - wenn man die Wahl gewinnt - auch einlösen muss.
Noch wissen wir nicht, wie Schulzes Pläne konkret aussehen. Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles soll dazu in den nächsten Wochen ein Programm ausarbeiten. Was könnte die SPD vorgeschlagen?

DIW-Ökonom Karl Brenke arbeitet im Bereich Konjunkturanalyse und Konjunkturprognose. Er ist Experte für Arbeitsmarkt, Beschäftigung und Löhne.
Es läuft wohl auf die Forderung hinaus, dass man die Bezugsdauer von Arbeitslosengeld verändern will, von bisher einem Jahr auf anderthalb Jahre. Aber ich bin der Auffassung, dass das unterm Strich gar nicht so viele Leute betreffen wird, weil die Arbeitslosen grundsätzlich eine relativ hohe Arbeitsbereitschaft haben und derzeit die Lage auf dem Arbeitsmarkt günstig ist.
Und an welchen Stellschrauben könnte die SPD noch drehen?
Bei den Älteren könnte die Bezugsdauer zum Beispiel nochmal verlängert werden. Das wurde ja schon unter der früheren großen Koalition gemacht, als Franz Müntefering SPD-Arbeitsminister und Vizekanzler war. Es ist also auch denkbar, dass wir wieder Verhältnisse bekommen, wie wir sie vor der Agenda hatten. Damals betrug die Bezugsdauer von ALG I fast drei Jahre. Das war extrem schädlich. Es führte dazu, dass dieses System zur massiven Frühverrentung genutzt wurde. Arbeitnehmer konnten drei Jahre Arbeitslosengeld beziehen und bekamen dann noch eine Abfindung vom Betrieb. Den Arbeitnehmern war es in vielen Fällen recht. Den Betrieben auch. Wir hatten bis zur Agenda 2010 einen relativ stark verbreiteten Jugendkult. Das heißt, man hat immer darauf gesetzt, die Belegschaften zu verjüngen. Das hat sich zum Glück geändert.
Gibt es einen Zusammenhang zwischen einem längeren ALG-I-Bezug und einer längeren Arbeitslosigkeit?
Das will ich nicht unterstellen. Dieses Problem liegt oftmals eher im Hartz-IV-Bereich, wo es viel mehr Arbeitslose gibt. Hier ist die Vermittlung schwerer, weil oft die Berufsausbildung fehlt.
Das ALG I war also der falsche Punkt, den Schulz sich herausgepickt hat?
Das ALG I ist im Grunde eher eine Sache am Rande der Agenda 2010. Der Kern sind andere Themen: Mini-Jobs, Leiharbeit oder Hartz IV. Zu diesen Themen hat Schulz gar nichts gesagt.
Kritiker sagen, Schulz wolle der Partei helfen und riskiere dabei, dass es dem Land schlechter gehe. Drohen durch ein Zurückdrehen der Agenda 2010 griechische Verhältnisse?
Man darf es nicht übertreiben. Ich bin der Auffassung, dass vielleicht ein Teil der Arbeitslosen die Suche nicht so intensiv angehen wird, aber die meisten werden so schnell wie möglich versuchen, einen neuen Job zu finden. Von daher dürften sich die Kosten einigermaßen in Grenzen halten. Das würde also nicht das ganze System untergraben.
Schulz will auch die befristeten Arbeitsverträge zurückdrehen. Würden weniger befristete Verträge etwas positiv verändern?
Das hat nicht so viel mit der Agenda 2010 zu tun. Bei der Befristung von Arbeitsverträgen muss man genauer hinschauen. Auszubildende zum Beispiel haben immer befristete Arbeitsverhältnisse. Wenn man sich die Verträge von Über-25-Jährigen anschaut, stellt man fest, dass der Anteil an Arbeitnehmern mit befristeten Verträgen seit 2010 tendenziell eher rückläufig war. Die absolute Zahl ist in etwa gleich geblieben. Wir haben einen stark wachsenden Hochschulbereich. Dort sind befristete Verträge völlig üblich. Auch Praktika sind immer befristete Verträge. Ansonsten umgehen Arbeitgeber mit dem Modell natürlich im Grunde genommen das relativ restriktive Kündigungsschutzgesetz, das wir in Deutschland haben.
n-tv.de: Das hat sich dann aber nicht zu dem Problem ausgewachsen, das Kritiker erwartet hatten?
Hat es nicht.
Also sehen Sie auch bei den befristeten Verträgen keinen Reformbedarf?
Schulz hat an der falschen Stelle angepackt. Er hätte was anderes in den Ring werfen können. Der Rückgang des Anteils der befristeten Verträge bei den Über-25-Jährigen zum Beispiel hat auch was mit der Arbeitsmarktsituation zu tun. Bessert sich die Beschäftigungssituation, haben diejenigen, die ein Arbeitsangebot bekommen, eine bessere Verhandlungsposition. Werden gut ausgebildete Arbeitskräfte knapper, gilt das Gleiche. Sie können entscheiden, zu welchem Arbeitgeber sie gehen. Wenn man keine befristete Stelle will, sucht man eine andere.
Womit hätte Martin Schulz denn besser punkten können, wenn nicht mit ALG I und befristeten Verträgen?
Ein großer Teil der befristeten Stellen sind Leiharbeitsstellen. Die darf man nicht aus dem Auge verlieren. Vielleicht hätte er an dem Punkt ansetzen können. Allerdings hatten wir erst im vergangenen Jahr eine leichte Reform. An das Thema Leiharbeiter würde Schulz wohl auch nicht rangehen, weil er das Bundesarbeitsministerium angreifen würde.
Was wäre denn aus Ihrer Sicht noch verbesserungswürdig?
Ich habe ein Problem mit Mini-Jobs. Ich sehe nicht, dass eine Beschäftigungsform gegenüber sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungen privilegiert sein sollte, was Steuern und Abgaben anbelangt. Allerdings dürfte sich das Thema Mini-Jobs oder prekäre Mini-Jobs sowieso mit der Zeit erledigen. Wir haben ja jetzt den Mindestlohn und damit ist ein zentrales Argument für Mini-Jobs weggefallen. Von daher trocknet dieser Bereich ohnehin aus.
Kuriert sich die Agenda 2010 also auch schon die ganze Zeit von selbst?
An der Stelle kuriert sie sich selbst. Bei den anderen Punkten - der zentrale war wie gesagt Hartz IV - habe ich im Grunde nichts auszusetzen. Weil Hartz IV - und das wird in der öffentlichen Diskussion meist völlig ausgeblendet - nämlich Schluss gemacht hat mit der Zwei-Klassen-Gesellschaft, die wir bei den Arbeitslosen hatten. Wir hatten die Arbeitslosen mit Versicherungsansprüchen und die ohne, die nur Sozialleistungen beziehen konnten. Bei der Sozialhilfe waren die Leistungen damals teilweise geringer als bei Hartz IV. Man kann über Beträge diskutieren, aber grundsätzlich ist das System in Ordnung. Es gibt keinen Grund, großartig zu reformieren. Wenn man etwas zurückdreht, geht es meistens ins Negative. Kleinere Stellschrauben gibt es gleichwohl immer.
Mit Karl Benke sprach Diana Dittmer
Quelle: ntv.de