Angst vor Selbstmordanschlag Jung rechtfertig tödlichen Luftangriff
04.09.2009, 15:31 UhrVerteidigungsminister Jung bezeichnet den von der Bundeswehr befohlenen Luftangriff angesichts der heiklen Sicherheitslage in der Region im Kundus als legitim. Nach Angaben seines Ministeriums wollten die Taliban mit den beiden Tanklastern einen Selbstmordanschlag auf die Bundeswehr verüben. Bei dem Angriff sind mehr als 50 Menschen ums Leben gekommen - offenbar auch Zivilisten.

Afghanische Sicherheitskräfte sichern den Ort des Angriff, im Hintergrund ein zerstörter Tanklaster.
(Foto: AP)
Durch einen von der Bundeswehr befohlenen Luftangriff auf zwei von den Taliban gekaperte Tanklaster sind in Nordafghanistan Dutzende Menschen ums Leben gekommen. Verteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU) verteidigte den Einsatz. An der Darstellung seines Ministeriums, es seien keine Zivilisten ums Leben gekommen, kamen allerdings Zweifel auf. Einem Bericht der "Kölnischen Rundschau" und der "Stuttgarter Zeitung" zufolge dränge die NATO die Bundeswehr dazu, ihre Informationspolitik diesbezüglich zu ändern.
Eine Eskalation dieses Ausmaßes hat es in dem Verantwortungsbereich der Deutschen in Afghanistan laut Bundesverteidigungsministerium noch nicht gegeben. "Wir gehen davon aus, dass die entführten zivilen Tanklaster in Richtung des Bundeswehrlagers gebracht werden sollten, um durch ein Selbstmordattentat größtmöglichen Schaden anzurichten", sagte der Parlamentarische Staatssekretär im Verteidigungsministerium, Walter Kossendey, der Oldenburger "Nordwest-Zeitung". Deshalb sei die Bundeswehr so intensiv vorgegangen und habe Luftunterstützung angefordert.
NATO leitet Untersuchung ein
Einzelheiten darüber, ob und wie viele Zivilisten bei dem Bombardement der Tanklaster in der Nacht zum Freitag in der Provinz Kundus starben, sind noch unklar. Das Verteidigungsministerium in Berlin sprach von mehr als 50 getöteten Aufständischen und erklärte: "Unbeteiligte sind nach derzeitigem Kenntnisstand nicht zu Schaden gekommen." Der afghanische Präsident Hamid Karsai ließ in Kabul mitteilen, es seien "rund 90 Menschen getötet oder verletzt" worden. Er äußerte sein "tiefes Bedauern" und erklärte: "Unschuldige Zivilisten sollten bei Militäroperationen nicht getötet oder verwundet werden."

Ein Opfer des Luftangriffs in einem afghanischen Krankenhaus.
(Foto: REUTERS)
NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen kündigte eine Untersuchung an. Ein Team von Ermittlern unter der Leitung eines Admirals der NATO-geführten Schutztruppe ISAF sei bereits an den Ort des Geschehens geschickt worden. "Das afghanische Volk muss wissen, dass uns alles daran liegt, es zu schützen, und dass wir diesen Vorfall umfassend und umgehend untersuchen werden", sagte Rasmussen in Brüssel. "Es ist möglich, dass es auch zivile Opfer gab, aber das ist noch nicht klar."
Jung verteidigte in einem Interview mit den "Badischen Neuesten Nachrichten" das Vorgehen der Bundeswehr im Kampf gegen die Taliban. "Gerade im Raum Kundus herrscht eine besonders kritische Situation." Bei den Taliban habe man es mit einem brutalen, aber leider auch mit einem intelligenten Gegner zu tun.
Angriff bei Sandbank
Nach Angaben der Bundeswehr hatten Taliban-Kämpfer in der Nähe von Kundus einen Kontrollposten errichtet und dort gegen 01.50 Uhr Ortszeit zwei beladene Tanklastzüge in ihre Gewalt gebracht. Die Taliban hätten den Treibstoff in den Unruhedistrikt Char Darah bringen und selbst nutzen wollen. Bei der Durchquerung des Flusses Kundus sechs Kilometer vom deutschen Wiederaufbauteam entfernt seien sie mit den Fahrzeugen in einer Sandbank steckengeblieben. Von der Bundeswehr angeforderte NATO-Flugzeuge hätten sie dann um 02.30 Uhr bombardiert.

Leichenbergung: Unter den Toten sollen auch Zivilisten aus einem nahe gelegenen Dorf sein.
(Foto: ASSOCIATED PRESS)

Die Bundeswehr sieht bislang die Bombardierung als legitim an. Soldaten untersuchen die Angriffsstelle.
(Foto: ASSOCIATED PRESS)
Der Luftangriff wurde nach Angaben der Isaf und des Bundesverteidigungsministeriums von einem deutschen Offizier befohlen. "Nachdem beobachtet wurde, dass nur Kämpfer in dem Gebiet sind, befahl der regionale Isaf-Kommandeur den Luftangriff, bei dem die Laster zerstört und viele Aufständische getötet wurden", sagte Isaf-Sprecherin Christine Sidenstricker.
Leichen total verbrannt
Der Angehörige eines Opfers aus dem betroffenen Dorf Hadschi Amanullah sagte der Nachrichtenagentur dpa: "In der Gegend waren auch Taliban, aber mehr Opfer gibt es unter Zivilisten." Der Mann namens Nadschibullah berichtete, auch sein Cousin sei tot. Insgesamt seien "mehr als 150 Menschen getötet oder verletzt" worden.
Vertreter der Provinz Kundus erklärten, neben Taliban-Kämpfern seien auch Zivilisten unter den Opfern. Ein Stammesältester berichtete, zum Zeitpunkt des Luftangriffs hätten die Taliban Benzin aus den Tanklastern an die Bevölkerung verteilt. Der Polizeichef von Kundus, Abdul Rasak Jakubi, sagte, eine "Anzahl Zivilisten" sei getötet worden. Taliban-Sprecher Sabiullah Mudschahid nannte die Zahl 150. Der Gouverneur der Provinz Kundus, Mohammed Omar, sagte: "Das Problem ist, dass all diese Menschen rund um die Tanklastwagen schwer verbrannt wurden und es unmöglich ist, sie zu identifizieren." Unter den Toten seien vier oder fünf Anführer der Taliban gewesen. Der Treibstoff sei für die Bundeswehr gewesen.
"Es tut mir leid"
Die Internationale Schutztruppe ISAF und afghanische Stellen richteten eine Untersuchungskommission ein. "Die ISAF bedauert jeden unnötigen Verlust von Menschenleben und ist zutiefst besorgt über das Leid, das diese Aktion unseren afghanischen Freunden bereitet haben könnte", sagte ISAF-Sprecher Eric Tremblay. EU-Chefdiplomat Javier Solana sagte: "Es tut mir für die Familien der Menschen, die bei der Explosion der Benzintankwagen getötet wurden, sehr leid."
Der Sprecher des Verteidigungsministeriums in Berlin sagte unter Berufung auf das vor dem Angriff erstellte "operative Lagebild": "Sie können davon ausgehen, dass der Angriff angeordnet wurde, weil keine unbeteiligten Zivilpersonen durch den Angriff hätten zu Schaden kommen können." Und: "Bei anwesenden Zivilisten hätte der Luftangriff nicht stattfinden dürfen." Der Schutz von Zivilisten habe für die Bundeswehr oberste Priorität. Bei dem deutschen Befehlshaber handele es sich um einen "ausgesprochen besonnenen Offizier, der alles andere als ein Hasardeur ist". Den Journalisten "im warmen Sessel in Berlin" möge die kurze Zeit zwischen Kaperung und Luftangriff ein Hinweis sein, ob "mitten in der Nacht größere Menschenmengen" zusammenkommen könnten.
Kritik an Jung
Jung wollte in dem Interview nach wie vor nicht von einem Krieg sprechen. "Das ist die völlig falsche Wortwahl, da Krieg Zerstörung bedeutet." Die Bundeswehr befinde sich in Afghanistan in einem Stabilisierungseinsatz, das habe mit Krieg nichts zu tun. Der Sprecher des Ministeriums hatte zuvor ebenfalls betont: "Es handelt sich um einen Stabilisierungseinsatz, zugegeben um einen recht robusten Stabilisierungseinsatz, der Kampfhandlungen miteinschließt." Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier äußerte sich besorgt über die Sicherheitslage. "Die Taliban schrecken offensichtlich vor nichts zurück, um die Sicherheit zu destabilisieren und Wiederaufbau unmöglich zu machen", sagte Steinmeier der "Ostsee-Zeitung".
Linkspartei-Chef Oskar Lafontaine forderte erneut den Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan. Die Inkaufnahme ziviler Opfer habe wieder vor Augen geführt, "dass der Kriegseinsatz des Bundeswehr und der Nato völkerrechtswidrig ist", erklärte Lafontaine. FDP-Verteidigungsexpertin Birgit Homburger forderte ein klares Wort von Bundeskanzlerin Angela Merkel, dass es sich beim Afghanistan-Einsatz um gefährliche Kämpfe und nicht um Entwicklungshilfe handele. Homburger warf Verteidigungsminister Jung und Außenminister Steinmeier in der "Leipziger Volkszeitung" ein Wegducken vor. Ihr Grünen-Kollege Winfried Nachtwei hielt Jung eine mangelnde Informationspolitik vor.
Quelle: ntv.de, tis/dpa/rts