Russlands Umgang mit der Stalin-Zeit Aufarbeitung nicht erwünscht
21.10.2009, 10:41 UhrDamit hatte Michail Suprun nicht gerechnet, als die Polizei sein Auto anhielt: Der Geschichtsprofessor aus dem nordrussischen Archangelsk war ins Visier des Inlandsgeheimdienstes FSB geraten, weil er die Massendeportationen im stalinistischen Russland untersucht. Nach kurzer Haft wurde Suprun mitgeteilt, er stehe wegen illegaler Verbreitung privater Daten unter Verdacht - eine seinen Angaben zufolge "absurde" Anschuldigung. Suprun befasst sich mit einem besonders kontroversen Kapitel der Sowjetgeschichte: die Verfolgung von Russlanddeutschen während des Zweiten Weltkrieges, die im 18. Jahrhundert von Katharina der Großen ins Land geholt worden waren.

2008 schaffte es Stalin bei einem Fernsehwettbewerb zum "großartigsten Russen der Geschichte" auf den dritten Platz.
(Foto: picture-alliance/ dpa)
Geheimdienstmitarbeiter durchsuchten die Wohnung des Wissenschaftlers und beschlagnahmten seinen Computer und das persönliche Archiv - eine Fundgrube von Informationen über Opfer des Diktators Josef Stalin und sein brutales Gulag-System. "Sie haben alles mitgenommen", erzählt Suprun telefonisch aus Archangelsk. "Die ganzen Sachen, an denen ich seit zehn Jahren arbeite, waren auf meinem Computer."
Ausdrücklich erlaubt
Deutsche lebten seit dem 18. Jahrhundert in großen Siedlungsgruppen in Russland. Während des Krieges stellte Stalin ihre Loyalität in Zweifel und befahl Massendeportationen in entlegene Regionen. Suprun trug Informationen über das Schicksal der Deutschstämmigen in Archangelsk zusammen, als die KGB-Nachfolgeorganisation FSB ihn im September festnahm. Bereits zuvor hatten Agenten seine Mitarbeiter verhört und vor weiterer Recherche gewarnt. Suprun habe die Privatsphäre von 5000 deutsch- und polnischstämmigen Sowjetbürgern verletzt, die zwischen 1945 und 1956 nach Archangelsk deportiert wurden, teilte Swetlana Tarnajewa für die Staatsanwaltschaft auf Anfrage mit. Auch gegen einen Polizeibeamten werde wegen Herausgabe von Akten ermittelt.
"Das ist absurd, das ist Unsinn", sagt Suprun. Seine Arbeit sei durch eine Vereinbarung seiner Universität mit dem russischen Innenministerium, dem Deutschen Roten Kreuz und einer Organisation von Russlanddeutschen ausdrücklich erlaubt. Ziel des Projektes war es, ein "Erinnerungsbuch" über die Schicksale deutschstämmiger Deportierter zusammenzustellen. Seit den 90er Jahren werden so in ganz Russland Kurzbiographien von Stalin-Opfern zusammengetragen.
Großangelegte Kampagne vermutet
Inzwischen wurde Suprun verboten, mit Journalisten zu sprechen. Der Historiker vermutet eine großangelegte Kampagne der russischen Regierung gegen unliebsame Geschichtsforschung. Dazu passe die Einsetzung einer Kommission durch Präsident Dmitri Medwedew gegen "Geschichtsfälschung" im Mai. Vom FSB war zu dem Fall keine Auskunft zu erhalten.
Auch andere Geschichtsforscher kämpfen gegen die Behörden. Die Historikerin Irina Scherbakowa recherchiert das dunkle Kapitel der Gulags für die Menschenrechtsorganisation Memorial. Im vergangenen Dezember stürmte die Polizei ihr Büro in St. Petersburg und beschlagnahmte Dokumente und CDs, die die Gruppe seit 20 Jahren gesammelt hatte. Erst nach einem Gerichtsverfahren wurde das Material wieder herausgegeben. Seither hätten Angestellte in staatlichen Archiven Angst, Einsicht in Akten der Stalin-Ära zu gewähren, erzählt Scherbakowa.
Stalin regierte die Sowjetunion fast drei Jahrzehnte bis zu seinem Tod 1953. Sogar seine Anhänger räumen ein, dass er Millionen Menschen in die gefürchteten Gulags und damit viele in den Tod schickte. Er führte aber auch den Kampf der Sowjetunion gegen Nazi-Deutschland, so dass ihn viele Russen mit dem Sieg ihres Landes im Zweiten Weltkrieg assoziieren. Dies nutzt der Kreml zur Stärkung des Patriotismus. 2007 wurde ein Schulbuch genehmigt, das Stalins Führungsstil als "effizient" preist. Die Kampagne trägt Früchte: 2008 schaffte es Stalin bei einem Fernsehwettbewerb zum "großartigsten Russen der Geschichte" auf den dritten Platz.
Quelle: ntv.de, Alexander Osipovich, AFP