Infografik

Hospitalisierungsinzidenz-Chaos Daran krankt der neue Leitindikator

Als Kennziffer zur Beurteilung der Pandemie-Lage bisher kaum zu gebrauchen: Die Hospitalisierungsinzidenz wirft noch viele Fragen auf.

Als Kennziffer zur Beurteilung der Pandemie-Lage bisher kaum zu gebrauchen: Die Hospitalisierungsinzidenz wirft noch viele Fragen auf.

(Foto: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild)

Die Zahl der Covid-19-Fälle im Krankenhaus soll die Sieben-Tage-Inzidenz als bisherigen Leitindikator in der Pandemie ablösen. Doch auf Grenzwerte mag sich bisher kaum jemand festlegen. Kein Wunder, denn die Datenlage ist äußerst undurchsichtig.

Bund und Länder wollen ihre Maßnahmen im Kampf gegen die Corona-Pandemie künftig nicht mehr hauptsächlich am Infektionsgeschehen festmachen. Stattdessen soll verstärkt auf die Zahl der schweren Erkrankungen und die Auslastung der Krankenhäuser geschaut werden. Schließlich kann sich inzwischen fast jeder in Deutschland, der älter als 12 Jahre ist, problemlos durch eine Impfung vor den Covid-19-Risiken schützen - und die meisten haben das auch schon getan, wie diese Grafik zeigt.

Doch bei der Einführung der sogenannten Hospitalisierungsinzidenz, die als neuer Indikator herhalten soll, knirscht es gewaltig. Während die politische Abkehr von den reinen Infektionszahlen praktisch längst vollzogen ist, bleiben hinsichtlich der Berechnung und Bewertung der Hospitalisierungsinzidenz noch viele Fragen offen.

So veröffentlicht das Robert-Koch-Institut (RKI) zwar schon seit Mitte Juli in seinen Lageberichten jeweils von Montag bis Freitag einen Wert, der die Zahl der neu hospitalisierten Covid-19-Fälle der letzten sieben Tage pro 100.000 Einwohner für ganz Deutschland angeben soll. Doch die dort veröffentlichten Zahlen lassen Beobachter ratlos zurück: Wie sind sie zu bewerten?

Statistik kann leicht missverstanden werden

Auf Nachfrage von ntv.de geht das RKI auf ein naheliegendes Missverständnis ein: Die Inzidenz der Hospitalisierten sei "nicht zu vergleichen mit der Zahl der Fälle, die aktuell im Krankenhaus liegt", stellt die Pressestelle klar. Gezählt werden stattdessen die "als hospitalisiert übermittelte Zahl der Fälle über sieben Tage, geteilt durch die Einwohnerzahl und auf 100.000 Einwohner umgerechnet". Der Zeitpunkt der Krankenhausaufnahme lässt sich aus den Meldedaten nicht ableiten.

Das Problem: Da sich schwere Symptome erst im Verlauf einer Covid-19-Erkrankung einstellen, gehen wohl zahlreiche Fälle erst mit deutlicher Verzögerung in die RKI-Berechnung ein. Das heißt: Die täglich vermeldeten Werte zur Hospitalisierungsinzidenz müssen nachträglich nach oben korrigiert werden.

Wie hoch diese Korrekturen ausfallen und wie groß der Meldeverzug ist, zeigt ein Vergleich der wöchentlich veröffentlichten Werte aus dem Covid-19-Trend-Dashboard des RKI mit den Tageswerten aus den Lageberichten. Die farbigen Linien geben den Stand der jeweils am Donnerstag aktualisierten Daten wieder, wobei der letzte Wert immer genau der Hospitalisierungsinzidenz entspricht, wie sie am betreffenden Tag auch im Lagebericht veröffentlicht wurde.

Es zeigt sich: Bisher war jeder einzelne Tageswert zum Zeitpunkt der Veröffentlichung unvollständig und zu niedrig angesetzt. Dadurch scheinen die Kurven der korrigierten Hospitalisierungsinzidenz am Ende stets abzufallen, während sich der fixierte Wert ohne Nachmeldungen auf niedrigerem Niveau quasi im Gleichschritt mit der Sieben-Tage-Inzidenz bei den Neuinfektionen entwickelt - nur eben etwas zeitversetzt.

Insofern ist es zumindest konsequent und in sich stimmig, dass das RKI in seinen Situationsberichten auch für die Hospitalisierungsinzidenz stets einen tagesaktuellen Wert nennt - ungeachtet der Nachmeldungen. Bei der bisher so zentralen Sieben-Tage-Inzidenz der Neuinfektionen wird genauso verfahren. Bei der Festsetzung von Grenzwerten sollte der Meldeverzug allerdings unbedingt berücksichtigt und ausreichend Puffer eingeplant werden. Sonst wird die Belastungsgrenze früher erreicht, als beim Blick auf die vom RKI veröffentlichten Daten zu erwarten gewesen wäre.

Das RKI kennt die Schwächen der Statistik

Im neuen Trend-Dashboard weist das RKI sogar ausdrücklich darauf hin, dass die aktuellen Werte bei der Hospitalisierungsinzidenz für mindestens zwei Wochen unter Vorbehalt stehen. So lange dauert es, bis ein Großteil der relevanten Nachmeldungen berücksichtigt werden können.

Ganz ohne Nutzen sind die Hospitalisierungsdaten nicht. Im Rückblick auf den Pandemieverlauf sind die Angaben durchaus aufschlussreich. Langfristig dürfte sich in der Statistik bei anhaltend hohen Infektionszahlen und steigender Impfquote beispielsweise ein "Impfeffekt" bemerkbar machen. Doch zur aktuellen Lagebeschreibung in den Krankenhäusern erscheint die Hospitalisierungsinzidenz, zumindest in der bisher vorliegenden Form, wenig brauchbar. Aus den tagesaktuellen Werten lassen sich derzeit bestenfalls Trends ableiten - die sich in der Regel zuvor auch schon in den Fallzahlen abgezeichnet haben.

Trotz der beschränkten Aussagekraft wird die Sieben-Tage-Inzidenz bei den hospitalisierten Covid-19-Fällen bereits als "neuer Leitindikator" der Politik gehandelt. Entsprechend groß ist die Aufmerksamkeit. Inzwischen greifen auch viele Medien den in den Lageberichten des RKI aufgeführten Wert in ihrer täglichen Corona-Berichterstattung auf - oftmals ohne Einordnung.

Datenchaos auf Länderebene

Dabei ist die bundesweite Hospitalisierungsinzidenz für die Einführung oder Aufhebung von Corona-Auflagen zunächst völlig unerheblich. Laut dem neuen Infektionsschutzgesetz sollen hierfür die RKI-Daten zur Entwicklung in den Ländern sowie die auf Landesebene angesetzten Maßstäbe ausschlaggebend sein - unter Berücksichtigung der regionalen Versorgungskapazitäten und anderer Faktoren. Doch von 16 Bundesländern veröffentlichen aktuell (Stand 9. September) nur sieben täglich oder zumindest werktäglich neue Zahlen zu Hospitalisierungsraten bei Covid-19-Fällen. Entsprechende Angaben kommen von den Landesbehörden in Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Thüringen.

Einige Länder haben den neuen Indikator in ein mehrstufiges Frühwarn- oder Ampel-System eingebettet. Andere nennen nur die aktuelle Krankenhausbelegung in Prozent oder die Zahl der Covid-19-Patienten, die sich aktuell in Behandlung befinden. Fünf Landesministerien machen bislang gar keine Angaben zum Thema. Ohne einheitliche Erfassung oder eine gemeinsame und transparente Berechnungsgrundlage ist eine vergleichende Darstellung der Lage damit kaum möglich.

Orientierungslos in den Herbst?

Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Politik tut sich aus gutem Grund schwer damit, auf der Basis der Hospitalisierungsinzidenz neue Schwellenwerte für das künftige Pandemiemanagement zu definieren. Das neue Infektionsschutzgesetz schafft hier wenig Klarheit, sondern wirft vor allem Fragen zur konkreten Umsetzung auf. Vieles hängt davon ab, wie die Länder den neuen Wert einordnen und mit anderen Parametern untermauern - zum Beispiel mit der bisher genutzten Zahl der Neuinfektionen im Verhältnis zur Bevölkerung oder der tatsächlichen Krankenhausauslastung insgesamt.

Dass sich Bund und Länder noch vor den Wahlen am 26. September zu einer einheitlichen Strategie im Umgang mit den Zahlen durchringen können, scheint zunehmend unwahrscheinlich. Im besten Fall nehmen die Pläne für den Herbst Gestalt an, bevor die Pandemie erneut Fakten schafft - und eine harte Notbremse unvermeidlich wird. Das Risiko einer Überlastung des Gesundheitssystems ist jedenfalls angesichts der niedrigen Impfquote und der gefährlichen Delta-Variante nach wie vor real.

Quelle: ntv.de

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