Leben

Aus der Schmoll-Ecke Lasst doch die Andersdenkenden anders denken!

00:00
Diese Audioversion wurde künstlich generiert. Mehr Infos
Nach Einschätzung des Bundesverfassungsschutzes haben mehr als ein Drittel der AfD-Mitglieder rechtsextremistisches Potenzial.

Nach Einschätzung des Bundesverfassungsschutzes haben mehr als ein Drittel der AfD-Mitglieder rechtsextremistisches Potenzial.

(Foto: dpa)

Was ist nur mit den Deutschen los? Sie lieben die Alternative für Durchgeknallte, interviewen Fraktionschefinnen, beanstanden Koeppens "Tauben im Gras" und gucken die "Heute Show". Da kommt niemand mehr mit - bis auf einen: unser Kolumnist.

Geschätzte Leserschaft, das Warten hat ein Ende: Hier ist sie wieder, die Schmoll-Ecke, das samstägliche Kleinod des konstruktiven Journalismus, das die positiven Seiten von Krisen schonungslos offenlegt. War es nicht wunderbar, dass es 1923 so viele Millionäre gab? Alle waren gleich, es gab nur Superreiche: Jeder konnte mit Geld um sich werfen oder es verbrennen - denn jeder hatte genug davon. War da die Welt nicht viel gerechter als heute? Alles eine Frage des Blickwinkels.

Zehn Jahre später kam ein Migrant aus Österreich, der den Deutschen erklärte, dass sie Arier und was ganz Besonderes seien, besser als der Rest der Welt. Das haben ihm leider Millionen Bio-Neu-Arier geglaubt. Das Ganze endete mit einem bösen Erwachen und der Erkenntnis, dass der Migrant gelogen hatte. Niemand hatte den fiesen Ösi rechtzeitig entzaubert, denn Talkshows und Twitter gab es vor 100 Jahren noch nicht, auch keinen Böhmi, der einer Talkmasterin, geben wir ihr den fiktiven Namen Sandra Fleischberger, ihren Fehler vor die Füße werfen konnte: "Sandra Fleischberger lädt Nazis in ihre Talkshow ein, damit Nazis nach der Machtergreifung Sandra Fleischberger auch in ihre Talkshow einladen."

Wo kein Böhmi, da Unheil. So konnte der fiese Ösi durchregieren, ohne Koalition und so, er hatte das Sagen, niemand machte ihm seinen Führungsanspruch streitig, die Bio-Neu-Arier akzeptierten den Einwanderer als ihre Führungskraft Nummer eins, streckten den rechten Arm durch und hielten ihn schräg nach oben. Und so entstand das Dritte Reich. Das darf nicht noch einmal passieren, ein Viertes Reich wäre wirklich ein Reich zu viel des Bösen. Wehret den Anfängen! Die Alternative für Durchgeknallte, die allen "Deutschland. Aber normal" verspricht, darf nicht in Talkshows und dort ekliges Zeug erzählen und ihr nicht existierendes Programm erläutern, auch wenn hart nachgefragt wird, noch härter als Kruppstahl, und sich die Befragten schnell rauswinden, schneller als Windhunde.

Doch Vorsicht, ich muss mal wieder aufpassen, was ich schreibe, damit ich keine Leserpost bekomme, dass das, was "Sie Schreiberling" da schreiben, nichts mit konstruktivem Journalismus zu tun hat, sondern einfach nur Braunseherei eines alten weißen Mannes ist, dem nicht nur ein paar Latten fehlen, sondern der ganze Zaun. So was in der Art.

Was meint Aiwanger?

Dabei gebe ich mir Mühe. Neulich hat Herr Aiwanger, ein Mensch, der in Bayern als Folge einer demokratischen Wahl mitregieren darf, eine "Ansage an die Medien" gemacht: "Stellt Euch endlich an die Seite der normalen Bevölkerung". Und: "Berichtet mehr über die normalen Leute und nicht über den 17-jährigen Klimakleber aus reichem Hause." Aber worüber regen wir uns dann künftig auf? Über die normalen Leute? Langweilig.

Es sieht so aus, dass Herr Aiwanger die Schmoll-Ecke nicht liest. Denn ich berichte nie über den 17-jährigen Klimakleber, ich kenne noch nicht mal seinen Namen und schon gar nicht die Eigentumsverhältnisse seiner Eltern. Wobei es interessant wäre herauszufinden, ob der junge Mann Aktien von Henkel hat, dem Hersteller von Pattex, und somit am gestiegenen Verbrauch von Klebstoff partizipiert, womit die Doppelmoral dieser Leute wieder einmal bewiesen wäre. Normalos und Durchgeknallte am Weg zur Arbeit hindern und dann mit Wertpapieren von Henkel reich werden - geht gar nicht.

Das meint sicher Herr Aiwanger, wenn er feststellt, dass die Zeit gekommen sei, dass sich "die schweigende große Mehrheit" in deutschen Landen "die Demokratie wieder zurückholen muss". Nun ist es so, dass die schweigende große Mehrheit sehr bequem ist und keine Lust hat, irgendetwas laut zu sagen, sie grölt viel lieber. Und wenn sie sich was holt, dann ein Bier, das die Zunge löst. Dann ist Schluss mit der Verschwiegenheit, werden Lieder laut gesungen: "Meine Puffmama heißt Layla, sie ist schöner, jünger, geiler." Oder die verbotene Strophe der Nationalhymne. Mit solchen Leuten ist kein Staat zu machen, höchstens ein Viertes Reich. Aber das verhindern wir.

Denken macht Freude

Ich frage Sie und mich: Was ist nur mit den Deutschen los? Sie singen merkwürdige Lieder, wählen die Alternative für Durchgeknallte, interviewen Fraktionschefinnen und boykottieren Wolfgang Koeppens "Tauben im Gras", weil in dem Meisterwerk gesprochen wird, wie man in der Nachkriegszeit halt so sprach, weil es die Grünen noch nicht gab. Der Roman enthält das Wort, das ich nicht niederschreiben und auch nicht mit einem N abkürzen werde, da sonst jeder - trotz der geschickten Verschleierung - wüsste, welches Wort gemeint ist.

Weil Jugendliche in der Schule lernen und nicht reflektieren oder abstrahieren sollen, müssen sie auf Koeppens Buch mit dem Wort, das hier nicht genannt werden soll, verzichten. Dann lieber "Transit" von Anna Seghers. Doch Obacht: Dort ist von "Flüchtlingen" die Rede. Und gute Menschen wissen, dass das Wort "Flüchtling" eine bedenkliche Wortstruktur hat, deren Endung "-ling" sich in vorwiegend negativ konnotierten Wörtern wie Fiesling, Schreiberling, Liebling oder klingelingeling wiederfindet. Lasset uns aus Flüchtling das F-Wort machen und "Transit" besser umtexten, damit die Welt politisch korrekt wird: "Vor meinen Augen strömte sie an, mit ihren zerrissenen Fahnen aller Nationen und Glauben, die Vorhut der F-Wörter."

Mehr zum Thema

F-Wörter sind willkommen, alle und für immer. Abgeschoben wird niemand, der es erst einmal in Muttis Land geschafft hat. Bevor jemand den Kopf schüttelt: Alles nicht so gemeint. Zynismus darf bekanntlich alles. Nur Satire nicht. Ich schreibe deshalb nicht für die "Heute Show", der Sendung, die staatliche und demokratisch legitimierte Instanzen Woche für Woche ins Lächerliche zieht und trotzdem nicht vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Es muss doch Bauchschmerzen machen, dort zu arbeiten. Man sollte sich nicht daran beteiligen, Andersdenkende der Lächerlichkeit preiszugeben und Stimmung gegen sie zu machen. Satire darf sich nicht daran beteiligen, den Diskurs zu verengen. Und so weiter und so fort.

Ich persönlich denke, dass Andersdenkende anders denken dürfen sollen und müssen als andere Andersdenkende. Sonst wären sie keine Andersdenkenden. Wir haben ja Andersdenkungsfreiheit in Deutschland. Wir sind das Land der Dichter und Andersdenkenden. Denken macht außerdem Freude. Ich denke täglich andere Gedanken. Ich denke von früh bis spät, sogar darüber nach, was ich als nächstes anders denken könnte. Sie glauben nicht, womit ich mich befasse. Nicht nur mit der Suche nach der Wahrheit und Antworten auf meine ewigen Fragen, warum Van Goghs Genialität zu dessen Lebzeiten niemand sah und ob Liszts H-Moll-Sonate programmatischen Charakter hat, wovon ich ausgehe. Aber ich denke nun mal auch anders als die anderen Andersdenkenden. Was will ich damit eigentlich sagen? Denken Sie mal darüber (anders) nach.

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen