Vor 100 Jahren erfand Charlie Chaplin den Tramp Liebe auf den zweiten Blick
02.02.2014, 10:44 Uhr
Chaplin in "Ein Hundeleben" von 1918, seinem ersten Film für First National - da war der Brite bereits ein Weltstar.
(Foto: imago stock&people)
Als Charlie Chaplin seine ersten Filme dreht, läuft es gar nicht rund. Er vermasselt Szenen, läuft aus dem Bild und kommt mit der Geschwindigkeit nicht zurecht. Doch dann entdeckt er Melone, Stock und Schnurrbart - und wird zum Superstar.

Chaplin (r.) in seinem ersten Film "Making A Living": Sein Kostüm orientiert sich hier noch an Figuren aus Vaudeville-Theatern. Ganz links steht Regisseur Henry Lehrman.
(Foto: imago stock&people)
Mack Sennett war geschockt. Das hatte er nun wirklich nicht erwartet. Der Theaterstar, den er engagiert hatte, wirkte vor der Filmkamera vollkommen deplatziert. Er sah zu jung aus, wirkte verwirrt und stellte sich auch noch ungeschickt an. Er sah in die Kamera, lief aus dem Bild und verpasste Anschlüsse. Schnell bereute der Chef der Keystone Studios das Engagement des Briten.
Aus heutiger Sicht scheint dies bizarr. Denn Charles Chaplin, jener junge britische Theatermime, der gerade zu Keystone gestoßen war, schickte sich bald an, als Charlie Chaplin einer der größten Filmstars aller Zeiten zu werden. Bis heute bringt er Millionen Menschen mit seinen Filmen zum Lachen, Träumen und Nachdenken. Doch es war keine Liebe auf den ersten Blick. Jene ersten Schritte in der Filmwelt, die Chaplin vor genau 100 Jahren wagte, waren tatsächlich äußerst unsicher.
Das hing mit seiner bisherigen Karriere zusammen. Bis dahin hatte Chaplin in der britischen Theatergruppe von Fred Karno gespielt. Sketche wurden hier über Wochen oder Monate geprobt, bis sie perfekt saßen, um sie dann in Theatern, Music Halls oder Varietés aufzuführen. Am Filmset ging alles viel schneller zu. Sennett arbeitete oft ohne Drehbuch, viel Gags waren improvisiert. Diese Umstellung fiel Chaplin äußerst schwer. Zudem haderte er mit den Anweisungen der Regisseure, die die Streifen schnell im Kasten haben wollten.
Kindheit in einem Londoner Slum
Dabei war ihm die Schauspielerei in die Wiege gelegt. Sowohl Mutter als auch Vater waren bereits in Vaudeville-Theatern aufgetreten. Auch Chaplin, der 1889 geboren wird (vier Tage vor Adolf Hitler, den er in "Der große Diktator" parodiert), hatte hier mit fünf Jahren seinen ersten Auftritt. Doch seine Kindheit war auch von bitterer Armut geprägt, seine psychisch kranke Mutter musste ihn und seine Geschwister allein aufziehen. Nur langsam besserte sich die Lage: Als Jugendlicher hatte Chaplin erste Engagements, arbeitete an Bühnen in London und stieß 1908 schließlich zu der Truppe von Fred Karno.
Zweimal ging Chaplin mit dieser Truppe auf Tournee durch Nordamerika. Große Erfolge feierte er dabei als Trunkenbold in dem Stück "A Night in an English Music Hall", durch das auch die noch junge Filmindustrie auf ihn aufmerksam wurde. Im Dezember 1913 unterschrieb er schließlich einen Vertrag mit den Keystone Studios, die sich auf kurze, schnelle Komödien spezialisiert hatten. Er bekam 150 Dollar pro Woche - ein kleines Vermögen.
Im Januar 1914 stand Chaplin dann für seinen ersten Film vor der Kamera. In "Making a Living" spielte er allerdings noch nicht seinen berühmten Tramp, sondern einen Gauner und Aufschneider. Die Rolle orientierte er eher an dem Trunkenbold aus dem erfolgreichen Theaterstück. Zufrieden war er damit aber nicht. Zumal Regisseur und Hauptdarsteller Henry Lehrman Chaplin permanent antrieb und wenig Sinn für dessen subtilen Humor zeigte.
Immerhin: Sennett feuerte ihn nicht. Stattdessen schickte er Chaplin zu einem Seifenkistenrennen ins nahe Venice. Solche öffentlichen Veranstaltungen wurden gern genutzt, um die Kosten für Komparsen und Setting zu sparen. Vor Ort improvisierte man und drehte so einen billigen Film mit viel Slapstick und ohne große Handlung.
Melancholie und Übermut
"Kid Auto Races at Venice", Chaplins zweiter Film, wurde aber vor allem berühmt, weil er der erste Auftritt des Tramps war. Chaplin sollte sich auf Anweisung von Regisseur Lehrman ein neues Kostüm aussuchen. Wie er zu dazu kam, ist allerdings Inhalt unzähliger Geschichten und Gerüchte: Mal borgte er sich Melone, Stock, weite Hose und falschen Bart von Kollegen aus, mal wurde er von einem Mann in einem Café oder von einem Gemälde inspiriert, mal stammte das Kostüm noch aus seiner Zeit auf Londoner Theaterbühnen, als er für einen viel größeren Kollegen einsprang.
Wie dem auch sei: Fest steht, dass Chaplin mit der neuen Figur ins Schwarze traf. Der watschelnde Gang, die ruckartigen Bewegungen, die ausgebeulte Hose, der Stock, den er immerzu drehte und die Melone, die er entschuldigend zückte, sobald er irgendwo anrempelte - das alles brachte selbst seine Kollegen zum Lachen.
Zudem strahlte die Figur des Tramp eine perfekte Mischung aus Melancholie, Übermut und Humor aus. War die Rolle in den ersten Filmen noch als Bösewicht ausgelegt, wandelte sie sich bald zum gutmütigen und träumenden Romantiker, der permanent gegen die Tücken der Gesellschaft ankämpfen muss. Viele Zuschauer konnten sich mit dieser Figur identifizieren - ein Mensch, der der Moderne und Autoritäten wie der Polizei schutzlos ausgeliefert ist, aber doch immer einen Weg findet, sich durchzumogeln - Tränen und Lachen liegen hier eng beieinander. Zudem konnte Chaplin auf seine akrobatischen Fähigkeiten zurückgreifen, die er sich als Vaudeville-Darsteller angeeignet hatte. So perfektionierte er Gags, die zum festen Repertoire eines jeden Komödiendarstellers gehörten. Für die Zuschauer waren diese Slapstick-Einlagen, die bei Chaplin wie elegante Tänze aussahen, die perfekte Unterhaltung.
Der bestbezahlte Filmstar

Chaplin im Film "The Rounders" mit Kollege Fatty Arbuckle - der Legende nach nahm er für seine Tramp-Figur eine Hose des beleibten Kollegen, der außerdem als Erfinder der Tortenschlacht gilt.
(Foto: imago stock&people)
Kein Wunder also, dass in Hollywood Filmstudios nur so aus dem Boden schossen, die auf der Komödienwelle mitschwammen. Die Branche, die sich gerade formierte, erwies sich als Goldgrube. Da kam es auf die Qualität erst mal nicht so sehr an. Auch Chaplin war nach wie vor unzufrieden - er kam mit der Arbeitsweise seiner Regisseure nicht zurecht, die vor allem auf Tempo setzten, um Geld zu sparen. Wegen dieser Streitigkeiten stand Mack Sennett kurz davor, Chaplin zu feuern.
Doch da erreichte Keystone die Nachricht, dass Chaplin in New York ein großer Erfolg sei - seine Filme starteten dort mit mehr Kopien als alle anderen Filme des Studios. Sennett erkannte das Potential: Er behielt den neuen Star nicht nur, er gab ihm auch die Chance, selbst Regie zu führen. Chaplins Debüt "Caught in the Rain" wurde denn auch zum größten Erfolg des Studios - er durfte fortan alle seine Filme selbst drehen. Als Chaplin jedoch für eine Vertragsverlängerung 1000 Dollar pro Woche forderte und Sennett dies ablehnte, verließ er das Studio, in dem er nicht nur seine ersten Schritte vor einer Kamera gemacht, sondern mit insgesamt 35 Filmen auch zum Star aufgestiegen war.
Der Rest ist Geschichte: Chaplin drehte fortan Kurzfilme für Essanay, dann ging er zu Mutual, wo er zu einem der bestbezahlten Filmstars seiner Zeit aufstieg (er bekam wöchentlich 10.000 Dollar und einmalig 150.000 Dollar). Er wurde weltweit bekannt, Puppen, Comics und Lieder feierten die Figur des Tramps, es gab sogar Nachahmer, die in gleicher Aufmachung vom Hype um Chaplin profitieren wollten. Und Kinos veranstalteten Chaplin-Wettbewerbe, bei denen das anonyme Original nur den dritten Platz belegte. Als er 1918 zu First National wechselte, bekam er für acht Filme bereits mehr als eine Million Dollar. Chaplin war nun sein eigener Produzent, behielt alle Rechte an den Filmen und bekam ein eigenes Studio in Hollywood. Hier entstanden bis 1923 einige seiner bekanntesten kürzeren Filme: "Ein Hundeleben", "Gewehr über", "The Kid" und "Der Pilger".
Mit der Gründung von United Artists 1919 - zusammen mit Douglas Fairbanks, Mary Pickford und D. W. Griffith - war Chaplin schließlich am Ziel: Er hatte sein eigenes Studio, für das er seine bekanntesten Filme drehte: 1925 kam "Goldrausch" heraus, es folgten "Der Zirkus", "Lichter der Großstadt" und "Moderne Zeiten", in denen er die Figur des Tramp perfektionierte. 1940 drehte er dann seinen ersten Tonfilm "Der große Diktator". Chaplin war auf dem Höhepunkt seiner Karriere angelangt. Er war ein Meister des Films geworden, ein Multitalent, das dem Medium für alle Zeiten seinen Stempel aufdrückte. Einem Medium, mit dem er am Anfang seiner Karriere so seine Schwierigkeiten hatte.
Quelle: ntv.de