"Female Choice" liegt in der DNA Warum Männer um Sex buhlen sollten
08.08.2021, 18:06 Uhr
In der Tierwelt ist es Normalität. Männchen geben alles, um die Auserwählte zur Paarung zu bewegen - gehen aber auch oft leer aus. Denn das Weibchen entscheidet: Sex ja oder nein.
(Foto: picture alliance / Zoonar)
Die männliche Zivilisation widerspricht der Natur: Das ist die These der Biologin Meike Stoverock in ihrem Buch "Female Choice". Im Tierreich müssen sich Männchen für den Geschlechtsakt bewerben. Das galt lange Zeit auch für die Menschen - bis Männer die Kontrolle übernahmen.
"Attraktive Männchen mit Hörnern, Geweihen, Schmuckfedern oder leuchtenden Farben machen ein Riesentamtam: Sie singen, schenken, bauen, drohen, sammeln, tanzen und imitieren Stimmen, dass den armen Weibchen ganz schwindelig wird vor Erotik." Denn in der Natur kontrollieren die Weibchen den Zugang zu Sexualität. Die Männchen fast aller Arten strengen sich an, um die Weibchen zur Paarung zu bewegen, schreibt Evolutionsbiologin Meike Stoverock in ihrem Buch "Female Choice". So nennt die Biologie auch das "Prinzip der Damenwahl". Das galt auch lange Zeit für die Menschen - bis zur Sesshaftwerdung.
Männchen - egal ob in der Tier- oder Menschenwelt - verfügen üblicherweise über massenweise Samenzellen, mit denen sie die Weibchen begatten wollen, erklärt Stoverock eindrücklich. Für die Weibchen aber ist die Fortpflanzung viel aufwändiger, ihre Eizellen sind kostbar, die Brutpflege ist anstrengend. Deshalb sind sie wählerisch, sie bestimmen, welche Männchen sich paaren können. Die Konsequenz: Nicht alle Männchen kommen zum Zug, viele bleiben ohne Weibchen - und ohne Sex.
"Sex ist für Männchen eine begrenzte Ressource", schreibt Stoverock. Dass sie "oft und hartnäckig versuchen, sexuelle Kontakte zu Weibchen herzustellen, und Weibchen diese Versuche fast immer ablehnen, ist kein Fehler des Systems - es ist das System." Und dieses System gilt auch für den Menschen. Oder zumindest galt, wie die Autorin überzeugend darlegt. "Die heutige Weltbevölkerung hat ungefähr doppelt so viele weibliche wie männliche Vorfahren, in präkulturellen Zeiten haben sich also ungefähr 70% der Frauen mit 35% der Männer gepaart."
Ehe besiegelt Patriarchat
Warum haben sich dann aber patriarchale Strukturen durchgesetzt und verfestigt? Eine Frage, die auch Feministinnen seit Jahrzehnten bewegt. Stoverock hat darauf eine Antwort: Mit Landwirtschaft, Sesshaftigkeit und Besitz hat im Neolithikum vor rund 10.000 Jahren jener Prozess eingesetzt, mit dem die Männer das evolutionäre Gesetz der "Female Choice" aushebeln konnten. Männer entschieden fortan über die Verteilung der Frauen. Sie erfanden die Ehe, um die männliche Sexual-Konkurrenz auszustechen und den Zugang zu Sex zu sichern. Frauen verschwanden im privaten Heim, wo sie sich um die Kinder kümmerten.
Mussten Männer vorher um Frauen konkurrieren und ihre Energie in Kämpfe um Sex investieren, hatten sie nun Zeit für andere Dinge: Sie konnten Vermögen anhäufen, Erfindungen machen, sich in der Öffentlichkeit bewegen, politische Entscheidungen treffen. "Diese Unterdrückung […] ist das Fundament, auf dem die heutigen Staaten, politischen Systeme und Kulturkreise stehen", lautet die radikale These von Stoverock. Und in ihrem Buch fordert sie nichts weniger als eine neue Gesellschaftsordnung.
Frauen werden der Autorin zufolge künftig immer mehr über Partnerschaften und die Welt bestimmen. Diese Entwicklung hat bereits mit der Pille eingesetzt, davon ist Stoverock überzeugt. Durch eine stärkere wirtschaftliche Unabhängigkeit von Frauen, zumindest in westlichen Zivilisationen, haben sie zudem mehr Möglichkeiten der Partnerwahl. Beziehungen sind somit längst im Wandel begriffen.
Wenn Frauen das Sagen haben
Vor allem Männer müssen bei der Lektüre von "Female Choice" tapfer sein: Glaubt man der Autorin, werden viele von ihnen keine Partnerin mehr finden. "Sie sind der 'Rest', die Nicht-Premiummännchen, die nach dem evolutionären Aussiebungsprozess übrig bleiben und keine Chance auf Fortpflanzung haben. Nur durch die männliche Zivilisation, die Frauen kontrolliert und entrechtet hat, wurde dieses Phänomen bis heute unterdrückt."
Allerdings will Stoverock auch keine Rückkehr zur Female Choice in Reinform, denn, so schreibt sie: "Friedliches Zusammenleben und hohe Sexualkonkurrenz" schließen sich aus. Wie Gewalt unter unfreiwillig zölibatär lebenden Männern in einer post-männlichen Zivilisation verhindert werden kann? Stoverock schlägt Pornografie oder Prostituiertenbesuche auf Krankenschein vor.
Auch mit der Institution der Ehe rechnet die Autorin gnadenlos ab. Die lebenslange Monogamie hat gewissermaßen ausgedient, stattdessen werden immer mehr Menschen kürzere Beziehungen mit einem oder mehreren Partnern bevorzugen, so Stoverock. Für sie bedeutet das nichts Schlechtes: "Wir müssen uns von den Hoffnungen und Sehnsüchten befreien, dass eine Beziehung bis ans Ende des Lebens halten muss." Die Liebe muss deshalb aber nicht abhandenkommen.
"Feminazi oder antifeministische Nestbeschmutzerin"?
Stoverock ist sich durchaus bewusst, dass sie sich in Fragen der Biologie der Geschlechter auf ein Minenfeld begibt: "Je nachdem, welchen Positionen Sie zuneigen, werden Sie in mir sowohl eine Feminazi als auch eine antifeministische Nestbeschmutzerin sehen." Denn sobald es um Fortpflanzung geht, gibt es realistisch nur zwei Geschlechter. Sie macht aber gleichzeitig deutlich, dass nichts an Trans- oder Intersexualität "unnatürlich" ist. Als Evolutionsbiologin geht es ihr nicht um den einzelnen Menschen, sie betrachtet Populationen, also große Gruppen. Wenn sie von "Mann" oder "Frau" schreibt, meint sie den Durchschnittsmann, die Durchschnittsfrau.
Dennoch: Stoverocks Thesen werden bei vielen Lesern heftige Abwehrreflexe auslösen. Sei es ihre stark biologisch geprägte Sichtweise auf menschliche Partnerschaften, ihre Abrechnung mit Ehe und Religion oder die Anwendung eines Prinzips, das unter vorgeschichtlichen Bedingungen entstanden ist, auf unser modernes Zeitalter von Gentechnik, Molekularbiologie und Reproduktionsmedizin. Ihr Buch ist radikal und aufwühlend. Man muss nicht alles mögen, was Stoverock schreibt. Sicherlich ist es durchaus angebracht, sich an der ein oder anderen Stelle zu empören. Aber "Female Choice" regt auf jeden Fall zum Nachdenken an und bietet viel frischen Diskussionsstoff um das Verhältnis zwischen Frauen und Männern.
Zudem ist "Female Choice" kein sprödes Sachbuch: Leichtfüßig und verständlich erläutert Stoverock biologische Zusammenhänge und liefert nachvollziehbare Erklärungsansätze für den Status quo unserer Gesellschaft - auch wenn sie dabei hin und wieder ins Spekulative abdriftet. Am Ende drängt sich dem Leser zwingend die Schlussfolgerung auf: Menschen sind auch nur Säugetiere.
Quelle: ntv.de