
Auch Bäume sind im Winter nur scheinbar leblos.
(Foto: imago images/blickwinkel)
Manchmal fühlt sich das Leben eingefroren an, dann muss man "Überwintern". So wie die Figur in Katherine Mays gleichnamigem Hörbuch. Oder wie die Haselmaus, der sie beim Schlafen zuschaut. Denn der Winter hat eine Botschaft.
Es ist kalt, grau, dunkel und kalt. Es wird Winter, da gehört das dazu. Trotzdem sagen nicht viele Menschen, dass der Winter ihre liebste Jahreszeit sei. Für die Ich-Erzählerin in "Überwintern" ist der Winter ohnehin nicht einfach nur eine kalte Jahreszeit. Sondern das Sinnbild für "Lebensphasen, die sich wie Winter anfühlen" - Folgen von Krankheit, Verlust, Geburt, Demütigung oder Scheitern.
Die Britin Katherine May ist gerade durch einen solchen Lebenswinter gegangen und hat sich die Erfahrungen dabei von der Seele geschrieben. Im Original heißt ihr Buch "Wintering: How I Learned to Flourish When Life Became Frozen", was in gewisser Weise über den deutschen Untertitel "Wenn das Leben innehält" hinausgeht, weil es auch den Frühling beinhaltet, der jedem Winter folgen wird. Ihre autobiografische Schilderung beginnt kurz vor dem 40. Geburtstag der Erzählerin.
Um der Zahl ein wenig von ihrem Schmerz zu nehmen, organisiert sie sich statt einer großen Party mehrere Treffen mit Freunden, bei denen gut gegessen und getrunken werden soll. An dem ersten dieser Abende wird ihr Mann H. krank und landet mit einem Blinddarmdurchbruch im Krankenhaus. Genauso schnell wie er lebensbedrohlich erkrankt und wieder gesundet, verschwindet er wieder aus der Erzählung. Doch die Protagonistin bleibt angeschlagen, ihr Leben schlittert in einen Gefrierzustand. Sie wird selbst krank, nimmt eine Auszeit und kündigt schließlich.
Akzeptanz und Umbruch
Plötzlich hat sie massenhaft Zeit, dieses eiskalte Gefühl in sich zu erkunden. "Zu konzentrierten Überlegungen ist meine Matschbirne ohnehin nicht in der Lage." Sie kocht - wieder, muss man sagen, denn irgendwie war ihr auch das verloren gegangen. Wie so vieles. Sie kocht Lammeintopf mit Karotten, malt, backt, zündet Kerzen an und hängt Lichterketten auf oder sitzt einfach nur auf dem Sofa. "Da ist er: mein Winter. Eine offene Einladung, mein Leben in Richtung mehr Nachhaltigkeit zu verändern und die Kontrolle zurückzugewinnen über das Chaos, das ich verursacht habe. Eine Gelegenheit, mich zurückzuziehen und nachzudenken." So hart wie die Erkenntnis ist, so vielversprechend ist die damit verbundene Einladung: "Wir können uns unsere Winter nicht aussuchen. Aber wie wir überwintern, schon."
Also startet die Erzählerin in ihre persönliche "Überwinterung". Als schlafen und meditieren nicht mehr reicht, reist sie dem Winter hinterher. In Island steigt sie zusammen mit Mann und Sohn in die Wasser der blauen Lagune, das Ergebnis einer Wasserableitung aus einem Geothermiekraftwerk. "Man kann den Leuten ansehen, wie sie sich entspannen, sobald sie ins Becken steigen, und mir bestimmt auch." Fast noch wärmender als das Wasser ist der Anblick von einem Dutzend nackter Frauen, die sich völlig unbefangen im Umkleidebereich bewegen: "Diese Körper haben flache Hintern, Orangenhaut, wild wachsende Schambehaarung und Kaiserschnittnarben" - für die gebeutelte Britin "Winter-Hinterlassenschaften" und Geschenke.
Nach dieser Wärmeerfahrung beschließt sie, sich der Hitze zu öffnen, ja hinzugeben. Dampfbad war gestern, jetzt ist Sauna angesagt, dort, wo die trockene Hitze sie husten lässt. Doch nach einem Kreislaufkollaps verwirft sie die Idee wieder. Sie reist zur Wintersonnenwende nach Stonehenge und kehrt seltsam inspiriert zurück. Sie strickt, schwimmt im eiskalten Meer und erobert sich ihre Stimme zurück. Ihr Sohn Bert entwickelt eine Schulangst und durchlebt an der Seite seiner Mutter seinen eigenen Winter.
Dem Tod am nächsten
Obwohl die Erzählerin definitiv ordentlich angeschlagen ist, seelisch wie körperlich, sind ihre Schilderungen nie selbstmitleidig. Analytisch, klug in der Selbstbeobachtung, assoziativ und dabei immer auch nachdenklich. Reportagehafte Beschreibungen lösen sich mit essayistischen Überlegungen zu Religion, Lichtverschmutzung oder dem Winterschlaf der Haselmäuse ab.
Die Erkenntnisse, die sie dabei gewinnt, sind vermutlich nicht neu, aber äußerst überzeugend formuliert und niemals klischeehaft: "Winter ist die Zeit, in der uns der Tod am nächsten kommt: Uns beschleicht das Gefühl, die bittere Kälte könnte uns dem Leben entreißen, ganz gleich, wie modern und komfortabel wir uns eingerichtet haben. An jenen langen, stillen und sehr dunklen Abenden spüren wir immer noch die Gegenwart derer, die wir verloren haben."
Aber auf wundervolle Weise wird es auch bei May wieder Frühling, auch ihr wird die Melodie geschenkt, die sie schließlich in die Zeiten jenseits des Winters führt. Darin liegt sehr viel Hoffnung, viel mehr als in St. Lucia, Weihnachten und Silvester zusammen. "Wenn wir im Winter genau hinsehen und zuhören, wenn wir seine Botschaften wahrnehmen, dann lernen wir, dass Wirkung häufig in keinem Verhältnis zur Ursache steht, dass winzige Fehler zu riesigen Katastrophen führen können, dass das Leben manchmal verdammt ungerecht ist, dass es aber weitergeht, ob wir wollen oder nicht."
Jennipher Antonis leicht heisere Stimme passt wunderbar zu Mays Text. Sie gibt den Worten, die Marieke Heimburger präzise bis in die letzten Nuancen hinein übersetzt hat, genau die richtige Lakonie und Bedeutung. Während sie liest, fühlt man sich unvermittelt in ein Cottage versetzt, ein Feuer brennt im Kamin, draußen ist es grau und kalt. Aber da ist diese Stimme, die einen mitnimmt auf Gedankenreisen, gleichermaßen beängstigend, wenn es um Tod und Vergehen geht, wie tröstend, weil es eben doch immer weitergeht. Antoni schafft, dass man meint, "Überwintern" sei nur für einen selbst geschrieben und gelesen worden. Wer statt zu hören lieber lesen will, das Buch ist bei Insel erschienen und kostet 22 Euro.
Quelle: ntv.de