Seattle-Rockstar Ayron Jones "Ich bin in einem ständigen Schockzustand"
25.07.2023, 18:41 Uhr Artikel anhören
Kann seinen Erfolg selbst noch gar nicht so ganz glauben: Ayron Jones.
(Foto: Ryan Smith)
Mitten in der Pandemie landet Ayron Jones mit dem Song "Mercy" auf Platz eins der US-Billboard Rock Charts. Jetzt gibt es mit "Chronicles Of The Kid" bereits sein zweites Album. Mit ntv.de spricht der Musiker aus Seattle über die Liebe zu seiner Heimatstadt sowie seinen Umgang mit der Vergangenheit.
Mitten in der Pandemie veröffentlichte Ayron Jones 2021 mit "Child Of A State" sein erstes Album, darauf auch die Single "Mercy", die es in den USA auf Platz eins der Billboard Rock Charts schaffte. Etwas, das nur sehr wenigen Schwarzen Künstlern vor ihm gelang.
Ein großer Erfolg also für den heute 36-jährigen Musiker aus Seattle, der sich als Kind drogenabhängiger Eltern aus sehr prekären Verhältnissen nach oben gearbeitet hat. Dass er aus der Stadt kommt, in der der Grunge erfunden wurde, ist unüberhörbar - auch auf seinem zweiten Album "Chronicles Of The Kid". Darauf präsentiert er Alternative Rock, der immer wieder auch einen Blick über den Tellerrand in Genres wie Hip-Hop und R&B wirft.
Im Interview mit ntv.de spricht Ayron Jones über seine Liebe zu seiner Heimatstadt, seinen Umgang mit der Vergangenheit und seinem ganz persönlichen Kampf gegen Rassismus.
ntv.de: Ayron, du bist in Seattle, der Stadt des Grunge, geboren und aufgewachsen, lebst dort nun mit Frau und Kindern. Was bedeutet Heimat für dich?
Ayron Jones: Wenn man irgendwo geboren ist, hat man eigentlich nie so recht die Chance, seine Heimatstadt richtig kennenzulernen. Erst wenn man sie mal verlässt und wiederkehrt, ändert sich das. Ich bin so oft gegangen und zurückgekommen, dass ich schließlich erkannt habe, was Heimat für mich bedeutet. Es ist diese lockere Art in Seattle, ganz anders als in Los Angeles. Bei uns hängen keine Berühmtheiten herum. Wenn man sich in Seattle in eine Bar setzt, ist man dort wie jeder andere und es fühlt sich an wie ein Zuhause. Und ich kenne alle Leute dort seit meiner Kindheit. Das ist es, was ich daran liebe.
Aber Seattle ist doch sicher auch heute noch voll mit bekannten Musikern, immerhin kommen Pearl Jam, Soundgarden und Nirvana von dort. Berühmtheiten gibt es also schon, nur eben andere als in Hollywood ...
Klar, aber in Hollywood ist das immer gleich so eine große Sache. Dort bedeutet den Leuten Status etwas. In Seattle reicht es als Musiker, dass du aus Seattle kommst, damit die Leute stolz auf dich sind. Das ist ein großer Unterschied. Wenn ich Menschen auf der Straße treffe, die wissen, was ich mache, sind sie einfach stolz, dass ich auf derselben Stadt komme wie sie und freuen sich, dass meine harte Arbeit Früchte trägt. Sie flippen nie aus, weil ich es bin, oder so. Das macht es zu meinem Zuhause. Und wenn Eddie Vedder (Sänger von Pearl Jam, Anm. d. Red.) in eine Bar kommt, ist das nicht anders. Oft kriegen die Leute erst mit, wer das war, wenn er schon wieder weg ist. (lacht)
Auf welche Weise hat dich die Stadt musikalisch beeinflusst?
Als ich in den frühen 1990er-Jahren aufgewachsen bin, war Grunge sehr präsent in meinem Leben. Gar nicht mal so bewusst, aber diese Musik war eben immer da. Sie sickerte durch mein Umfeld also schon in jungen Jahren in mich hinein. Ich bin in der Nachbarschaft aufgewachsen, in der Jimi Hendrix groß geworden ist, und auch das sickerte ein. Ich habe von Leuten gelernt, die in dieser Ära ganz vorn mit dabei waren. Diese Leute haben mir beigebracht, wie ich als Musiker aus Seattle klingen kann. Das war vielleicht nicht mit Absicht, aber in ihrer Musik ist etwas, das auch ich in mir trage. Ich bin stolz darauf, diesen Sound zu repräsentieren und ihr Erbe zu bewahren.
Der große Erfolg kam erst jetzt mit Mitte 30. Gab es für dich jemals eine andere berufliche Option, als Musiker zu werden?
Ich hatte eine Menge Gelegenheitsjobs, bei einem Sicherheitsdienst und als Präventionsbeauftragter bei einer Firma in Oregon. Das war alles nichts für mich. Ich bin selbst in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, ich hatte nie viel. Und dann Leute wegen Bagatelldelikten wie dem Diebstahl von Vitaminen oder Nahrungsergänzungsmitteln bei "Whole Foods" zu verhaften, das war nicht mein Ding. Irgendwann wollte ich sogar mal Polizist werden, aber dann hab ich das Kiffen entdeckt. (lacht) Also habe ich Musik gemacht, auf eigene Faust. Es gab Zeiten, da dachte ich, ich packe es nicht, war mit der Miete im Rückstand und die Vermieter drohten damit, mich rauszuwerfen. Aber das brachte mich nur dazu, besser zu werden und meine Fähigkeiten zu trainieren, damit ich für mich selbst sorgen kann.
Hat dich der Erfolg deiner Single "Mercy" und deines ersten Albums "Child Of The State" seinerzeit also selbst überrascht?
Ehrlich gesagt, bin ich bis heute überrascht. Ich war zehn Jahre lang ein kleiner Indie-Künstler, ehe ich bei einem Majorlabel einen Vertrag unterschrieb. Wie jeder Künstler strebt man natürlich einen Hit an, um einen solchen Vertrag zu bekommen. Ich hatte schon zwei Indie-Platten, ehe es bei mir so weit war. Und plötzlich sitzt du während der Pandemie auf der Couch und deine eine Single landet auf Platz vier, die nächste auf Platz eins - und dann ist deine Platte unter den zehn besten Rock-Scheiben des Jahres. Und so bin ich in einem ständigen Schockzustand. (lacht) Das geht mir mit dem neuen Album übrigens nicht anders. Es verblüfft mich immer wieder, dass so viele Leute meine Musik hören.
Kommt mit dem Erfolg die Freiheit oder steigt der Druck?
Darüber habe ich nie nachgedacht, weil ich mit der Arbeit am zweiten Album begonnen habe, als das erste gerade draußen war. Was aber einen Einfluss hatte, waren natürlich die neuen Erfahrungen, die ich dann gemacht habe. Die Geschichten, über die ich spreche, die Geschichten, die ich erlebe, wenn ich reise und lerne, wie es ist, plötzlich berühmt zu sein. Boom, da bist du auf einmal ein großer Name im Rockbusiness. Über das alles schreibe ich aber, während es passiert und ohne groß darüber nachzudenken.

(Foto: Ryan Smith)
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Gab es einen besonderen Moment, an dem du das erste Mal realisiert hast, dass du jetzt berühmt bist?
Als David Draiman von Disturbed bei einem Radiofestival in meine Garderobe kam. Er schüttelte mir die Hand. Ich wusste erst gar nicht, wer das ist. Ich komme nicht aus dem Rock-Background, und natürlich ist mir seine Stimme bekannt, aber sein Gesicht war es nicht. Er sagte jedenfalls: "Hey, Mann, ich bin ein großer Fan" und ging wieder. Ich meinte: "Yo, wer war das?" (lacht) Und dann gibt es Momente, wenn man am Flughafen ist und die Leute einen erkennen, stehenbleiben und Hallo sagen, dir ihre Anerkennung aussprechen. Das überrascht mich immer wieder - vielleicht, weil ich aus Seattle komme und das Ganze eher unaufgeregt gehandhabt wird.
Du hattest als Kind drogenabhängiger Eltern eine schwierige Kindheit, die du immer wieder auch thematisierst, in Interviews wie in deinen Songs. Bist du bis heute dabei, das zu verarbeiten?
Ich arbeite immer daran, die Dinge zu verarbeiten, die man als Kind durchmacht. Das ist etwas, womit man leben muss, man muss weitermachen. Man muss lernen, Sachen zu verarbeiten. Niemand kommt über den Verlust eines Elternteils hinweg, weißt du. Mein Glück ist, dass da meine Frau ist, die mir Halt gibt. Die mir Frieden gibt, mich zentriert und erdet. Ansonsten würde ich umherschwirren wie ein Astronaut im Weltraum. Die Probleme, die ich als Kind hatte, begleiten mich auch als Erwachsener, und manchmal drücken sie sich auf negative Weise aus. Dann gehe ich zu meiner Familie, die zu Hause auf mich wartet, um mich zu halten. Die mich davon abhält, zu den Sternen zu gehen und zum Mond zu schießen.
Auch Rassismus spielt in deinen Songs eine Rolle. Findest du es als Schwarzer Künstler wichtig, auch das zu thematisieren?
Ich habe das Gefühl, dass es meine Aufgabe als Künstler ist, über meine Beobachtungen zu sprechen. So bin ich eben. Ich reise viel und sehe Menschen aus allen Schichten. Ich ziehe es vor, zu beobachten und darauf aufmerksam zu machen, damit die Leute darüber nachdenken können. Ich könnte auch über Dinge sprechen, die ich als Schwarzer Amerikaner erlebe und die den Menschen vielleicht unangenehm sind. Aber ich möchte nicht, dass sich die Leute unwohl fühlen. Es ist meine Aufgabe als Künstler, auf Rassismus aufmerksam zu machen, ohne dabei besonders politisch zu sein. Denn das bin ich nicht. Ich bin nicht der Typ, der rausgeht und sagt: "Nieder mit Trump und all dem anderen Zeug."
Hast du das Gefühl, dass sich in den USA in den vergangenen Jahren etwas verbessert hat?
Ich sehe definitiv die Veränderungen, sie sind die einzige Konstante, die wir in der Welt haben. Manche Dinge, die jetzt sind, wie sie sind, werden immer so sein. Die Dinge, die sich jetzt verändern, werden sich immer verändern. Es gibt Gutes und Schlechtes daran. Ich arbeite und lebe damit, so gut ich kann. Einiges davon ist wirklich unangenehm, herabsetzende Aussagen wegen meiner Rasse zum Beispiel. Aber ich mache weiter und gebe mein Bestes mit dem, was ich habe. Die Leute geben sich insgesamt schon mehr Mühe, zu verstehen, und ich denke, das ist ein großes Plus.
Du bist jetzt erstmal in Großbritannien und den USA auf Tour. Wirst du mit dem neuen Album eines Tages auch für Auftritte nach Deutschland kommen?
Ich hoffe, dass ich Anfang des nächsten Jahres zurückkomme. Einen kurzen Abstecher nach Paris mache ich in diesem Jahr, soweit ich weiß. Ich spiele dann ein paar Shows in Frankreich. Bislang haben uns nur die großen Shows in den USA davon abgehalten, auch nach Deutschland zu kommen, aber das würde ich gerne bald nachholen.
Mit Ayron Jones sprach Nicole Ankelmann
Quelle: ntv.de