Neun Jahre Liebe, fünf Minuten Wut MTV-Kultstar Ray Cokes rechnet ab
04.12.2014, 19:48 Uhr
(Foto: dpa)
"In Hamburg bin ich gestorben, in Hamburg wurde ich wiedergeboren", sagt MTV-Legende Ray Cokes, als wir ihn zum Plausch in St. Pauli treffen, wo er jedes Jahr beim Reeperbahn Festival seine eigene Show moderiert. Klar, dass der 56-jährige Brite die einzige Lesung zu seiner Autobiografie "My Most Wanted Life" an diesem Sonntag in Hamburg geben wird. Vorher sprach er mit n-tv.de.
n-tv.de: Mr. Cokes, in Ihrem Buch gibt es ein bezauberndes Kinderfoto von Ihnen, auf dem Sie grinsen. Ab wann wussten Sie, dass man mit Ihrem Lächeln Geld verdienen kann?
Ray Cokes: Das hat noch viele Jahre gedauert. Als Kind lebte ich in Mauritius. Weil die Ärzte dort zum Zähneziehen wirklich noch Bindfaden am Zahn befestigten, traute sich meine Mutter mit uns nie dorthin. Als ich 15 Jahre alt war, hatte ich schwarze Zähne und vier Stück verloren. In jener Zeit wurde meine Grimasse mit dem vorgeschobenen Kinn geboren, weil mir meine Zähne unheimlich peinlich waren.
Ihr Vater wurde für seine Tätigkeit bei der Royal Navy mit dem MBE, dem Master Of The British Empire, ausgezeichnet. War er nicht enttäuscht, dass Sie nicht in seine Fußstapfen getreten sind?
Klar! Er nahm mich immer mit auf die großen Schiffe. Aber die Disziplin und das ständige "Yes, Sir" an Bord waren nicht meine Welt. Ich habe dadurch eine gesunde Nichtachtung gegenüber Autorität entwickelt. Mein Vater war auch zu Hause immer sehr streng. So erklärt sich wohl auch meine rebellische Attitüde.
Immerhin Sie waren ein guter Schüler, wie die Notizen Ihrer Lehrer beweisen.
Ich ging in Mauritius auf eine Schule des englischen Militärs. Dort bekam man eine akademische Ausbildung, Disziplin und gute Manieren beigebracht. Aber zurück im englischen Portsmouth machte genau das nur Probleme: Ich war der stark gebräunte Junge von dem exotischen Ort. Ich war anders und mir wurde ständig Prügel angedroht. Das veränderte mich: Um Teil des Teams zu werden, musste ich wie sie sein. Ich musste lernen, gegen die toughen Typen zu kämpfen. Ich verlor also das Interesse, der Beste in der Klasse zu sein. Es war wie in einem Hooligan-Film.
So schlimm?
Schon. Ich habe mal 50 Cent getroffen. Der ist eigentlich ein echt eloquenter Redner und Businessmann. Aber seine Reputation ist eine völlig andere. Als ich ihn darauf ansprach, erklärte er mir: "Wenn du im Ghetto irgendwelche Emotionen zeigst, wird dir das als Schwäche ausgelegt und du wirst zusammengeschlagen oder erschossen." Und ein bisschen fühlte es sich damals auch für mich so an.
Irgendwann kam es dann zur Audition bei MTV Europe in London.
Ich stand in Brüssel vor der Kamera. Ein leitender Angestellter von MTV USA, das bereits einige Jahre auf Sendung war, hatte mich dort im Fernsehen gesehen und lud mich zum Mittagessen ein. Mir war klar, dass das eine riesige Chance war: Das war MTV – das war Amerika! Ich hatte seinerzeit ein sehr billiges Auto, bei dem nicht mal der Rückwärtsgang funktionierte. Als wir nach dem Lunch zum Parkplatz gingen, musste ich ihn bitten, mich aus der Parklücke rauszuschieben. Dass ich nicht versucht hatte, ihn zu beeindrucken, sondern meinen womöglich zukünftigen Boss lieber für mich arbeiten ließ, hat ihn überzeugt, mich zum Casting einzuladen.
Und da haben Sie gleich überzeugt?
Nein! Ich habe nur gestottert und hatte richtig Schiss. Ich wollte schon hinschmeißen, weil ich es für Zeitverschwendung hielt. Da standen nur gutaussehende Leute um die 20 rum. Ich war bereits 27, trug ein Jeans-Outfit und ziemlich uncoole Stiefel. Aber der Rebell kam irgendwann bei mir durch. Eine der Aufgaben war, ein fiktives Interview mit den Eurythmics zu improvisieren. Statt abzuwarten, bis ich an der Reihe war, bin ich einfach in die Maske gegangen, habe den Entscheidungsträgern das Mikrofon unter die Nasen gehalten und so getan, als wären wir im Backstagebereich bei den Eurythmics. Das hat ihnen gefallen. Aber ich hatte trotzdem das Gefühl, versagt zu haben. Beim Rausgehen traf ich dann den Typen wieder, der mich zum Essen ausgeführt hatte. Und er sagte: "See you soon!" Das machte mir Hoffnung! Als nach zwei Wochen des Zitterns endlich der Anruf kam, war es wie in Hollywood. Die Chefin von MTV sagte: "Wir freuen uns, dich einzuladen, in London zu leben und für uns zu arbeiten."
Durch die Sendung "Most Wanted" wurden Sie dann zum Gesicht von MTV Europe.
Wir lebten wie in einer Blase, haben so viel gearbeitet – in London bekam man das anfangs gar nicht mit. Aber als ich dann meine erste Live-Sendung von der Popkomm in Köln moderierte, war der Zuspruch des Publikums überwältigend. Da hat man es dann kapiert. Es kamen Säcke an Post im Büro für uns an. Schulklassen wollten nicht mehr den Tower Of London sehen, sondern die MTV Studios in Camden.
Und wie war das mit dem Sex, Drugs & Rock’n’Roll?
Natürlich hatte am Anfang bei MTV jeder mit jedem Sex. Aber ich war fast die ganze Zeit hindurch verheiratet. Ich habe meinen Job nie dafür missbraucht. Ich bin auch kein suchtgefährdeter Typ. Aber die Neunziger waren natürlich die Zeit von Ravemusik und Ecstasy. Das habe ich auch mal probiert. Die Partys waren opulent, ausschweifend, da standen schon mal Schüsseln mit Kokain auf dem Tisch, wo sich Willige mit einem Löffel selbst bedienten. Es ist nicht schön, wenn man von Junkies umgeben ist, von denen es damals viele in der Musikindustrie gab. Es ist auch nicht schön, sie zu interviewen, man macht sich auch Sorgen. Ich habe eher die guten Partys genossen, auf denen es weniger wild zuging.
Was lief denn da mit Ihnen und Kylie Minogue?
Alle Jungs liebten Kylie. Sie hat mit mir geflirtet und war immer süß zu mir. Da sprühten schon ein bisschen die Funken, aber wie gesagt: Ich war verheiratet.
1996 kam es dann zu Tumulten bei Ihrer Live-Sendung aus Hamburg. Wussten Sie, dass das das Ende für Sie auf MTV bedeuten wurde?
Ja. Die Toten Hosen waren als Live-Band angekündigt, wurden aber nur als Videoaufzeichnung zugespielt. Wir hatten neun Jahre lang nur Liebe erfahren vom Publikum und plötzlich war da nichts als Zorn. Meine Assistentin Nina bekam eine Flasche an den Kopf. Und bei mir kam wieder der Rebell durch, der für fünf Minuten die Kontrolle verlor. In der Nacht haben mein Team und ich überhaupt nicht geschlafen. Draußen vorm Hotel standen Leute mit "We love you, Ray"-Plakaten und weinten. Sogar der Bürgermeister drückte am nächsten Morgen sein Bedauern über den Zwischenfall im Radio aus. Und in London lief unser Faxgerät über: East 17, die Eurythmics, Duran Duran – alle schickten Faxe der Unterstützung. Ich reiste wütend nach London zurück, weil die MTV-Verantwortlichen mich ins offene Messer hatten laufen lassen und mir im Nachhinein die Schuld für die missratene Sendung gaben. An der Sache hatte ich echt lange zu knabbern, ich bekam Depressionen. Hamburg hat mir viel Schaden zugefügt.
Hatten Sie es danach schwer, im TV Fuß zu fassen?
Selbst Simon Cowell kam auf einer Party mal zu mir und fragte mich: "Warum bist du nicht im britischen Fernsehen zu sehen?" Ich hatte zwar Gespräche mit Sendern wie BBC und Channel 4, aber der Mitschnitt besagter Live-Sendung machte damals auch in London die Runde. Ich war der Typ, der sich nicht unter Kontrolle hatte. Ich wurde auf diese paar Minuten meiner neunjährigen Fernsehkarriere reduziert. Aber das ist Vergangenheit. Heute geht’s mir wieder prima: Ich moderiere in Belgien eine Biersendung und sitze in der "Belgium’s Got Talent"-Jury. Hamburg und die Show, die ich seit vielen Jahren im Rahmen des Reeperbahn-Festivals moderiere, haben mir mein Selbstbewusstsein zurückgegeben.
Sind Ihnen viele Künstler-Kontakte von damals geblieben?
Nicht wirklich. Mit Robert Smith von The Cure bin ich immer noch eng – er hat damals auch auf meiner Hochzeit gespielt. Manchmal begegne ich Damon Albarn, dann quatschen wir schon mal die ganze Nacht. Wenn ich in einen Backstage-Bereich komme, kennen mich immer noch die meisten. Und selbst wenn mich die Band nicht kennt, dann kennt mich ihr Manager.
Mit Ray Cokes sprach Katja Schwemmers
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Ray Cokes Lesung:
Hamburg, Imperial Theater: 7. Dezember 2014, 20 Uhr
Quelle: ntv.de