Jorge González und "Kinky Boots" "Sei lieb zu Menschen - dann wird vieles gut"
25.10.2025, 17:57 Uhr Artikel anhören
Jorge González liegt das Thema des Musicals sehr am Herzen, denn es geht um weit mehr als nur "Kinky Boots".
(Foto: Rich Lakos)
Mit "Kinky Boots" geht in Deutschland bald ein Musical auf Tour, das die ungewöhnliche Geschichte einer britischen Schuhfabrik erzählt und eng mit der LGBTQ-Community in Verbindung steht. Als deutscher Botschafter fungiert Jorge González und verrät im Interview, warum das so hervorragend passt.
Bereits 2012 feierte das Musical "Kinky Boots" in Chicago Premiere, ehe es 2015 auch endlich nach London kam. Es kehrte damit zurück an den Ort, an dem die reale Geschichte dahinter einst spielte. "Kinky Boots" basiert zwar auf der gleichnamigen US-Tragikomödie von 2005, doch die wiederum bezieht sich auf die BBC-Doku-Reihe "Trouble at the Top". In der Folge "The Kinky Boots Factory" wurde 1999 nämlich die Schuhfabrik von Steve Pateman (im Musical: Charlie Price) aus Northampton porträtiert. Der hatte aus einer Not heraus entschieden, sich auf die Herstellung von Schuhen für Fetisch-Fans, Drag Queens, Crossdresser und trans Frauen zu spezialisieren und das - zumindest für eine Weile - mit großem Erfolg.
Nun kommt das mehrfach prämierte Musical, zu dem 80er-Ikone Cindy Lauper die Musik schrieb, auf Tour nach Deutschland. Mit Jorge González hätten die Verantwortlichen wohl keinen besseren Botschafter finden können, denn die Geschichte von Hauptfigur Simon alias Lola weist so manche Parallele zu seinem eigenen Leben auf, wie der "Let's Dance"-Juror ntv.de im Interview in London erklärte.
ntv.de: Erinnerst du dich an das erste Mal, als du den Film "Kinky Boots" gesehen hast und was das damals mit dir gemacht hat?
Jorge González: Ja, natürlich. Ich kannte zunächst den Inhalt, habe mich über den Film informiert. Als ich ihn dann gesehen habe, hat es mich richtig getroffen - wie ein Flashback in mein eigenes Leben. In der ersten Szene ist die spätere Drag Queen Lola als Kind in High Heels und dann sieht der Vater das und ruft:" Nein, zieh das aus!" Genau so etwas habe ich mit dreieinhalb Jahren erlebt. Ich habe die Schuhe meiner Großmutter angezogen, mein Vater hat mich erwischt und gesagt: "Das machen Männer nicht." Danach hat er versucht, mich in andere Richtungen zu drücken: Fahrradfahren, Sportarten wie Baseball, Basketball, Judo. Ich wollte aber Balletttänzer werden und in die Ballettschule.
Also tatsächlich wie in "Kinky Boots" ...
Der "echte" Charlie Price alias Steve Pateman und Musicaldarsteller Dan Patridge (v.l.).
(Foto: Rich Lakos)
Ja. Bei dem Film habe ich mich dann auch noch in vielen weiteren Lebensphasen wiedererkannt. Vor allem die Szene, in der Charlie Lola hilft, ohne zu urteilen, hat mich sehr berührt. Er hilft einem Menschen - nicht mehr, nicht weniger. So etwas hat mich auch in der Slowakei gerettet. Freunde haben mich unterstützt, als ich untergetaucht war, um mich vor dem kubanischen Geheimdienst zu verstecken. Es ist wichtig, dass jemand für dich da ist in solchen Momenten.
Wenn wie jetzt konservative und rechte Kräfte erstarken und Stimmung gegen Lebensformen machen, die nicht in ihre Agenda passen, ist es also besonders wichtig, solche Themen - ohne erhobenen Zeigefinger - aufzubereiten …
Absolut, das ist wie Brot und Butter. Wir sehen weltweit, was einige Männer für Macht und Geld tun - und wie viele darunter leiden. Es geht nicht nur um LGBTQ+, das betrifft auch Frauen. Ein paar Leute nutzen diese Themen. Sie sind dagegen - aus Macht und Geldgier, ohne irgendeine Überzeugung. Sie instrumentalisieren Menschen, ob kulturell oder religiös, um Hass zu schüren. Dabei zählt doch nur: Was für ein Mensch bist du? Ich diskutiere oft mit sehr religiösen Leuten: Wenn Gott Liebe ist, wie kannst du jemanden hassen, der dir nichts getan hat? Für mich gibt es eine Menschheit, das ist die "Rasse" - der Rest ist Pigment. Das Problem ist oft mangelnde Bildung: sozial, emotional, intellektuell. Wer gebildet ist, schaut meistens eher auf den Menschen, auf sein Verhalten - und nicht auf Hautfarbe oder Identität.
Die Show hat mit Don eine solche Figur. Er hat anfangs große Probleme mit Akzeptanz, was er im Laufe des Stücks überwindet.
Genau, und das ist sehr wichtig - gerade heute, weltweit und auch bei uns in Deutschland. Die Botschaft ist klar: Wir sind verschieden, aber wir können alle unter einem Dach leben. Was wir brauchen, ist etwas mehr Respekt, mehr Menschlichkeit, mehr Miteinander. Das heißt nicht, dass mir alles gefallen muss, was der oder die andere denkt oder sagt. Aber wir sollten die Meinung anderer respektieren. Diese Botschaft macht das Musical deutlich - und sie ist wichtig für die junge Generation. Egal, ob blond oder dunkelhaarig, ob hetero-, bi-, trans- oder homosexuell: Wir sind Menschen, wir kommen gleich auf die Welt und wir sollten versuchen, zusammenzuhalten und tolerant zu sein. Schön an "Kinky Boots" ist: Da sind zwei Kinder aus unterschiedlichen Welten, die sich begegnen. Und du weißt nie, wer dir die Hand reicht. Mir ist das auch schon so passiert. Darum sage ich: Sei lieb zu Menschen - dann wird vieles gut.
Die Frage nach deiner Lieblingsfigur in "Kinky Boots" erübrigt sich wohl?!
Lola. Sie ist die Hauptfigur. Für mich ist Lola die Botschaft, Lola ist das Musical - Lola sind die High Heels. Ohne Lola wäre es eine andere Geschichte. Diese Brücke zwischen Lola und den anderen macht das Musical aus. Alle denken zuerst an Kostüme, an Glitzer - das ist Drag. Aber das ist nur die Hülle. Was fühlt der Mensch darunter? Lola will frei sein. Ganz einfach. In meinem Fall war es als Kind ähnlich: Ich wollte Tänzer werden, mein Vater wollte das nicht. Als Kind verstehst du das nicht und fragst dich: "Was mache ich falsch? Warum darf ich nicht tun, was ich liebe?" Wie Lola. Sie ist ein starker Charakter mit vielen Emotionen und sie zeigt: Ich bin ein Mensch wie alle anderen. Ein Kostüm ist nur ein Kostüm. Wenn Lola nackt ist, ist sie Simon. Und genau das ist für manche schwer zu verstehen: die Figur versus der Mensch dahinter.
Hast du Angst, dass sich die Situation in den kommenden Jahren diesbezüglich weiter verschärft, wenn man jetzt nicht gegensteuert?
Auf jeden Fall. Ich habe vor längerer Zeit ein Interview gegeben, die Headline war sinngemäß: "Ich bin alles, was die AfD hasst". Ich bin Ausländer, schwul, erfolgreich. Manche reduzieren einen auf Begriffe, auf Feindbilder. Für mich ist klar: Jemanden abzuwerten, nur weil seine Pigmentierung anders ist - das ist ein No-Go. Ich habe in Ostdeutschland gelebt, schon in den 80ern. Es fällt mir schwer, zu verstehen, dass manche, die ich damals kannte, heute vielleicht dieser einen Partei nahestehen.
Viele dort fühlen sich seit der Wende wahrscheinlich übervorteilt und noch immer irgendwie … überrannt. Die Unzufriedenheit ist groß.
Und ich verstehe die Unzufriedenheit. Auch in Deutschland gibt es Armut und echte Probleme. Aber das rechtfertigt nicht Parolen wie "Ausländer raus". Wir sind ebenfalls Menschen, wir kommen hierher, arbeiten, leisten viel. Problematische Haltungen gibt es nicht nur bei Zugewanderten - einige, die hier geboren sind, wollen zum Beispiel auch nicht arbeiten. Man darf nicht pauschalisieren.
In Filmen und Serien findet heute mehr Diversität statt, aber immer noch werden queere Figuren klischiert oder gar nicht gezeigt. Wie blickst du darauf?
Viele Verantwortliche haben Angst. Zum Glück nicht alle - Musik, Film, Kunst öffnen auch Räume. Ich selbst habe viele Projekte vorgeschlagen, in denen ich als Drag Queen auftrete - Serie, Film. Oft fehlte der Mut. Das ist ein deutsches Problem: Viele Kreative werden runtergezogen, man soll "medial" sein statt wirklich kreativ. Aber echte Kunst braucht Freiheit und Haltung.
Was erhoffst du dir für die "Kinky Boots"-Gastspiele in Deutschland?
Wir haben eine große Musical-Community, und "Kinky Boots" ist ein Familienmusical - jede und jeder kann dort etwas lernen. Es macht Spaß, hat Humor, es gibt tolle Musik und Kostüme, aber auch eine starke Botschaft. Man geht gut gelaunt nach Hause - und nimmt etwas zum Nachdenken mit.
Du bist als Testimonial oder auch Botschafter für "Kinky Boots" dabei, was wie die sprichwörtliche Faust aufs Auge passt.
Es gibt tatsächlich viele Parallelen zu meinem eigenen Leben. Ich bin in Kuba in eine Umgebung hineingeboren, in der Homosexualität tabu war. Meine Familie wusste lange nichts. Ich habe mein ganzes Leben dafür gekämpft, so sein zu können, wie ich bin. Als ich aus der Slowakei nach Deutschland kam, verging erst mal viel Zeit und ich konnte nicht nach Hause, weil ich hätte verhaftet werden können. Irgendwann konnte und wollte ich wieder für einen Besuch nach Kuba zurückkehren und rief meine Mutter an: "Mama, ich komme nach Hause. Und ich komme nicht allein, ich komme mit meinem Freund." Meine Mutter war glücklich. Und mein Vater - ein echter Macho - war es auch. Einfach, weil er nach neun Jahren seinen Sohn wiedersehen konnte. Er hat verstanden, dass sein Sohn kommt - und dass dessen Freund dazugehört.
Das hat das Verhältnis zwischen euch nachhaltig geprägt ...
Nach dem Tod meiner Mutter hat mein Vater acht Jahre lang für einige Monate im Jahr bei mir in Deutschland gelebt. Das war die beste Zeit meines Lebens. Er war stolz auf mich - egal, ob ich High Heels trug oder nicht. Genau deshalb bedeutet mir dieses Musical so viel. Es gibt so viele Parallelen. Und es gibt viele "Lolas" auf der Welt, viele junge Menschen und viele Familien, die ähnliche Wege gehen müssen, um einander zu verstehen. Das Musical zeigt, wie man Mut findet, wie Familien Brücken bauen können und wie Akzeptanz beginnt.
Wie kam denn die Kooperation zustande?
Die Anfrage ging an mein Management. Für mich war sofort klar: Ja. Ich liebe den Film - und ich finde es wichtig, dass gerade jetzt dieses Musical nach Deutschland kommt. Wir brauchen das, wir müssen laut sein. Es sollte überall Diskussionen auslösen.
Der Grund für die Anfrage war neben deiner Nähe zum Thema sicher auch deine Vorliebe für High Heels und Fashion ganz allgemein. "Mode" in Deutschland bedeutet auch Funktionskleidung und Übergangsjacken. Würdest du dir da Mut von den Leuten wünschen?
Absolut. Das Straßenbild ist oft trist. Mode ist Ausdruck, Spaß, ein Statement. Bei den Jüngeren sehe ich Veränderung - Social Media macht mutiger, individueller. Wichtig ist nicht, blind Trends aus Paris zu kopieren, sondern den eigenen Stil zu finden. In Deutschland bremst oft schon die Erziehung: "Sei nicht so laut, nicht so viel Make-up, fall nicht auf." Das wirkt wie eine Uniform. Entweder man explodiert später und wird sehr expressiv - oder man bleibt grau. Ich hoffe, die nächste Generation macht es anders - freier, mutiger.
Aber High Heels gehören für dich unbedingt dazu?
Für mich sind auch sie Ausdruck von Leben und Mut. Es geht darum, zu sagen: "Ich zeige mich so, wie ich bin!" Und zu hoffen, dass die Leute das akzeptieren und tolerieren. High Heels sind eines der schönsten Accessoires - nicht nur für Frauen und Chicas. Historisch gesehen vergessen viele: Zuerst haben Männer High Heels getragen im Mittelalter. In den 1970ern kamen die Plateauschuhe. Die hatten richtige Kerle an, wie John Travolta in diesen legendären Szenen in "Saturday Night Fever". Der Blick darauf hat sich dann verändert, aber die strikte Trennung lockert sich zum Glück wieder. Heute wird mehr gemixt, Menschen werden nicht auf Schuhe reduziert, sondern als Persönlichkeit gesehen. Das ist mir wichtig: Ich will Spaß mit Mode, aber die Leute sollen in meine Seele schauen - nicht nur auf meine High Heels.
Mit Jorge González sprach Nicole Ankelmann
Das Musical "Kinky Boots" ist zunächst in München (28. Oktober bis 9. November) zu sehen, ehe es danach Station in Wien (11. bis 23. November), Berlin (17. Dezember bis 17. Januar) und Oberhausen (20. Januar bis 1. Februar) macht. Alle Informationen dazu sowie Tickets gibt hier.
Quelle: ntv.de