Demontage einer Kultband The Sisters of Mercy brechen Berlin-Show ab
06.10.2023, 14:11 Uhr Artikel anhören
Schatten seiner selbst: The-Sisters-of-Mercy-Sänger Andrew Eldritch (bei einem Auftritt am 2. Oktober in Hannover).
(Foto: IMAGO/Future Image)
Es beginnt vielversprechend, läuft katastrophal und endet im totalen Desaster: Die britische Kultband The Sisters of Mercy bricht ein ausverkauftes Konzert vor mehreren Tausend Fans in Berlin ab. Offenbar ein Fiasko mit Ansage. Was ist da los?
Konzerte von The Sisters of Mercy - oder dessen, was sich so nennt - waren noch nie gut. Zumindest in den letzten drei Jahrzehnten nicht. Davon dürften so ziemlich alle ein Lied singen können, die in dieser Zeit mal eine Show der Anfang der 80er-Jahre im britischen Leeds gegründeten Gruppe besucht haben. Jede Menge Playback-Sound, miese Abmischung und bei aller Liebe zum düsteren Ambiente auch einfach immer viel zu viel an Bühnennebel, hinter dem die Band mitunter während ihres gesamten Auftritts vollständig verschwand - das alles war stets nur allzu typisch für eine Show der "Sisters", wie Fans die Band trotz allem liebevoll abkürzen.
Kaum vorstellbar, dass diese Mankos seiner Live-Konzerte einem gewieften und gebildeten Mann wie Sänger Andrew Eldritch, der einmal Literaturwissenschaften studierte und allein über ein halbes Dutzend Sprachen sprechen soll, nicht bewusst waren. Beinahe mutete es an, als treibe er mutwillig ein zerstörerisches Spiel mit der Kultmarke, die er sich vor knapp 40 Jahren ebenso geistesgegenwärtig wie rücksichtslos gesichert hatte.
Als die Formation, die 1985 mit "First and Last and Always" das erste vollständige Sisters-Studioalbum und damit einen Meilenstein des Gothic-Genres eingespielt hatte, bereits kurz nach der Produktion zerbrach, erstritt Eldritch für sich allein die weitere Verwendung des Bandnamens. Seine einstigen Mitstreiter flüchteten sich derweil in neue Bands namens Ghost Dance oder The Mission.
Letztes Album 1990
Unter dem The-Sisters-of-Mercy-Label spielte Eldritch danach noch zwei Longplayer in komplett unterschiedlicher Besetzung ein, zuletzt 1990 das Album "Vision Thing". Dass er nun über 30 Jahre lang keinen neuen Tonträger mehr veröffentlicht hat, kultiviert er seither mit geradezu trotzigem Stolz gegenüber der Musikindustrie.
Nicht minder trotzig torpedierte er alsbald das Etikett, das ihm seit seinen musikalischen Anfangstagen anhaftet. Obwohl er dereinst so etwas wie der Posterboy der in den 80er-Jahren aufblühenden Gothic-Szene war, wehrte er sich mit Händen und Füßen gegen dieses Image. Dafür streifte er sich schon auch mal ein Neon-Shirt über oder rasierte sich bereits vor langer Zeit die schwarze Mähne komplett vom Schädel - wobei dies wohl auch dem dünner werdenden Haupthaar geschuldet war.
Anstatt mal wieder in ein Aufnahmestudio zu gehen, begnügte sich Eldritch damit, ab und an auch neue Songs neben Band-Klassikern wie "Temple of Love", "Alice" oder "Marian" auf seinen Konzerten zu Gehör zu bringen. Denn die gab er weiterhin. Mal eher sporadisch, mal im Rahmen ausgedehnter Tourneen.
Begleitet wurde der mittlerweile 64-Jährige dabei regelmäßig nicht nur von dem notorischen und stumpfen Drumcomputer namens "Doktor Avalanche", sondern an den Saiteninstrumenten auch von Musikern, die vermutlich noch nicht einmal geboren waren, als The Sisters of Mercy aus der Taufe gehoben wurden. Während Eldritchs mal mehr, mal weniger hagere Gestalt und seine tiefe Stimme irgendwo aus dem Nebel heraus hervorlugten, oblag es ihnen, in den lichten Bühnenmomenten die Show zu machen. Eine Show, die mit plumpen Rockstar-Posen jedoch nicht selten wie aus der Zeit gefallen anmutete. Und die mit dem quirligen Gehopse der im Gegensatz zum betagter werdenden Sänger noch taufrischen Mitmusiker oftmals so gar nicht zum altehrwürdigen Sisters-Repertoire passen wollte.
Eine echte Kultband
Der ist Kult, das ist Kult, die ist Kult - mit dem Begriff wird gerne inflationär um sich geschmissen. Auf The Sisters of Mercy trifft er aber tatsächlich zu. Denn all dem Gesagten zum Trotz halten überraschend viele Fans der von Eldritch besetzten Marke unbeirrt die Treue. Auch und gerade viele Fans der noch immer nicht ausgestorbenen Gothic-Szene, die natürlich nach wie vor ganz in Schwarz die Sisters-Konzerte bevölkern. Aber nicht nur sie: Auch viele, die längst grau meliert Ledermantel und Docs gegen Sweatshirt und Turnschuhe eingetauscht haben, schwelgen bei der Band weiter gern in nostalgischen Erinnerungen. Mal ganz abgesehen davon, dass sogar immer noch einige Jüngere Zugang zu den düster-melancholischen Songs der Gruppe aus dem letzten Jahrtausend finden.

Die Wurzeln der Sisters liegen in den 80er-Jahren - damals noch als echte Band.
(Foto: imago images/Future Image)
Welche Sogwirkung vom Kultstatus der Sisters auch heute noch ausgeht, sollte nicht zuletzt das Berlin-Konzert beweisen, das am Donnerstagabend angesetzt war. Die Columbiahalle - ein Ort, an dem demnächst zum Beispiel auch ein Rapstar wie Bausa, Deutschpopper Mark Forster oder die Schweden-Rocker Mando Diao auftreten - war mit rund 3500 Zuschauerinnen und Zuschauern mal eben ausverkauft. Keine Monster-Arena, versteht sich. Aber für eine Band, die seit drei Jahrzehnten keine Platte mehr veröffentlicht hat, der ein zweifelhafter Live-Ruf vorauseilt und die sich auch sonst nicht gerade viel um so etwas wie Fanbindung schert, dann doch bemerkenswert.
Und der Abend fing durchaus vielversprechend an - mit dem Vorband-Duo namens The Virginmarys. Sänger Ally Dickaty mit seiner Gitarre und der wie ein Derwisch trommelnde Schlagzeuger Danny Dolan reichten vollkommen aus, um die Stimmung in der Halle zum Kochen zu bringen. Als die beiden ihr Set beendet hatten, ließen bedrohlich anmutende Instrumentalklänge und die komplett schwarz verhangene Bühne die Vorfreude auf den Hauptact des Abends bei vielen dann doch wieder steigen. Mögen der Sound auch mies und der Nebel undurchdringlich sein - Hauptsache noch einmal in die Sisters-Klassiker abtauchen, mitgrölen und vielleicht sogar ein bisschen pogen.
Wie verloren und krächzend
Doch was dann folgte, übertraf sogar die allerschlimmsten Befürchtungen. Zwar war der Sound für die Band-Verhältnisse überraschend klar - kein Wunder, denn außer Eldritchs Stimme, dem Begleitgesang von Gitarrist Ben Christo und den Tönen, die er aus seinem Instrument herausholte, kam der Rest der Musik aus dem Computer. Und sogar die Nebelmaschine rödelte nach Sisters-Maßstäben ungewöhnlich dezent. Man hätte sich diesmal aber am liebsten gewünscht, der Nebel hätte wirklich alles verschluckt - nicht nur Eldritchs Anblick, sondern auch und vor allem die Laute, die er von sich gab.
Egal, zu welchem Song der Sänger auch ansetzte, darunter etwa "Alice", "Marian" oder "Ribbons" - außer einem schaurigen Krächzen kam Eldritch nichts über die Lippen. Es fällt schwer, denen, die es nicht erlebt haben, das Fiasko nachvollziehbar zu beschreiben. Stellen Sie sich vor, Sie seien am Morgen ohne Stimme mit einer Mandelentzündung aufgewacht und würden nun versuchen, rund eineinhalb Stunden zu singen. Oder Sie hätten gerade eine Stimmband-OP hinter sich. Oder Ihnen wäre der Mund zugeklebt worden und Sie würden nun trotzdem versuchen, sich zu artikulieren. Einige auf Youtube veröffentlichte Videos lassen das Ausmaß des Desasters erahnen.
Dazu streunerte Eldritch wie verloren über die Bühne, als hätte er mit dem Geschehen dort eigentlich nichts zu tun. Dabei ist er die alleinige Hauptperson im Band-Kosmos, für die die Leute überhaupt kommen. Der Sänger stammelte die Songtexte alsbald nur noch in fragmentarischen Fetzen mal in Richtung Wand, mal gen Boden, mal irgendwohin. Betrunken, wie manche Konzertbesucherinnen und Konzertbesucher mit Entsetzen in ihren Gesichtern mutmaßten, wirkte er dabei tatsächlich nicht. Schon eher ernsthaft verwirrt, auch dann etwa, wenn er wie aus dem Nichts einen Security-Mitarbeiter vor der Bühne anherrschte, er solle sich doch bitte trollen. Außer rumstehen hatte der Mann nichts getan. Wieso auch? Der Großteil des Publikums verfolgte das bizarre Schauspiel schließlich wie versteinert.
Konzertabbruch nach knapp 40 Minuten
Es dauerte keine 40 Minuten, als Eldritch mitten im Song "More" zum Bühnenausgang taumelte und einem Techniker resigniert sein Mikro in die Hand drückte. Der versuchte noch, sich dem Sänger in den Weg zu stellen und ihn wortreich davon zu überzeugen, das Konzert nicht abzubrechen. Aber vergebens. Eldritch, der mit seinem Hang zur gesanglichen Perfektion seine Mitstreiter bei den Aufnahmen zu "First and Last and Always" einst zur Weißglut getrieben haben soll, zuckte nur mit den Achseln, um unbeeindruckt und mit gebeugtem Gang in den Backstage-Bereich zu entschwinden. Gitarrist Ben Christo sang unterdessen "More" noch bis zum vorzeitigen Stopp des Songs zu Ende.
Es vergingen weitere 15 Minuten, ehe ein Abgesandter des Veranstalters die Bühne betrat und die konsternierten Besucherinnen und Besucher aufklärte. Es gebe leider "ein kleines medizinisches Problem", weshalb die Show an diesem Abend nicht fortgesetzt werden könne. Man solle aber die Tickets behalten - ob eine Rückerstattung stattfinden oder ein Ersatzkonzert angesetzt werde, werde noch entschieden.
Keine Frage: Wäre die Show ein einmaliger Ausrutscher, für den es akute medizinische Gründe gibt, wäre das alles nur außerordentlich bedauerlich. Dann würde man an dieser Stelle weniger pikiert und deutlich verständnisvoller formulieren. Dann würde man Eldritch schlicht alles nur erdenklich Gute und ganz rasche Genesung wünschen. Dann würden sich Fans vielleicht auch weiterhin trotz der altbekannten Performance-Schwächen noch zu einem Konzert ihrer Idole schleppen.
Kein einmaliger Ausrutscher
Doch dem Anschein nach war der Auftritt in Berlin kein mit akuten Gesundheitsproblemen zu begründender Ausrutscher. Wer nach Konzert-Reviews zu The Sisters of Mercy aus den vergangenen Wochen und Monaten googelt, stößt reihenweise auf entsprechende Schilderungen: "Bestürzend schlechtes Konzert", schrieb etwa das "Hamburger Abendblatt" am Mittwoch zu einer vorangegangenen Show in der Hansestadt. Das Online-Magazin "Alles Münster" berichtete vor einigen Tagen über einen Auftritt der Gruppe in der Stadt, bei dem Eldritch sich durch die Songs "krächzte und nuschelte". Und das Portal "80s80s" fragte sich sogar bereits im Juni: "Ist das noch Gesang?"

(Foto: IMAGO/MediaPunch)
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Mit anderen Worten: Es handelt sich mitnichten um ein "kleines medizinisches Problem", sondern irgendwer oder irgendwas ist hier komplett am Ende. Entweder ist es mit 64 Jahren Eldritchs Stimme. Oder es ist der Sänger selbst, der nicht mehr überreißt, was er sich selbst, den Fans und dem Nimbus der Band da antut. Oder es ist ein kaputtes System, in dem ein Musiker selbst noch in einem untragbaren Zustand auf die Bühne gescheucht wird, um bestehende Tournee-Pläne nicht über den Haufen werfen zu müssen.
Bis Mitte November sind noch sieben weitere Konzerte von The Sisters of Mercy in Deutschland und Österreich angesetzt. Man kann nur hoffen, dass aufgeklärt wird, was hinter dem Absturz der Band und ihres Frontmanns wirklich steckt. Und dass die Konzerte bis auf Weiteres ausgesetzt werden. Eine derartige Demontage einer Kultband auf offener Bühne möchte jedenfalls niemand mitansehen.
Quelle: ntv.de