Neue Welle in Norddeutschland EHEC-Komplikationen steigen rapide
01.06.2011, 14:20 Uhr
Für die Blutwäsche wird Blutplasma benötigt.
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Während Experten nach der Quelle für den gefährlichen EHEC-Darmkeim "HUSEC041" suchen, steigen die lebensbedrohlichen HUS-Fälle sprunghaft an. Auch im Norden werden nach einem leichten Rückgang der Infektionen wieder mehr Kranke mit EHEC-Verdacht in die Kliniken eingeliefert. Die EU erwartet rasche Aufklärung aus Deutschland, hält aber Reisewarnungen für wenig angemessen.

Der Erreger auf einem Nährboden.
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Die Zahl der lebensgefährlichen Durchfallerkrankungen durch den EHEC-Erreger HUSEC041 (O104:H4) ist sprunghaft angestiegen. Das Robert-Koch-Institut (RKI) meldete am Mittwoch insgesamt 470 Fälle, bei denen sich die EHEC-Infektion zum Hämolytisch-Urämischen-Syndrom (HUS) erweitert hatte. Das sind knapp hundert HUS-Fälle mehr als die noch am Dienstag registrierten 373 Erkrankungen.
Die Erkrankten leiden unter blutigem Durchfall, Blutarmut und versagenden Nieren und müssen auf Intensivstationen behandelt werden. Drei Viertel dieser schweren gesundheitlichen Komplikationen sind in Schleswig-Holstein (97), Hamburg (97), Nordrhein-Westfalen (75) und Niedersachsen (51) aufgetreten. Bundesweit starben bislang nach Angaben der Landes-Gesundheitsbehörden mindestens 15 Patienten nach einer Infektion mit dem Erreger. Das RKI nannte am Mittwoch offiziell erst neun Todesfälle.
Auch im Norden, wo sich in den vergangenen Tagen die Infektionswelle leicht abgeflacht hatte, steigen die EHEC-Erkrankungen und -Verdachtsfälle wieder rapide an. In Niedersachsen lag die Zahl der bestätigten Erkrankungen und der Verdachtsfälle am Mittwoch bei 344. Das sind 80 Menschen mehr als am Vortag. Bei 250 Fällen gebe es schon eine definitive Bestätigung durch Laboruntersuchungen, sagte der Sprecher des Gesundheitsministeriums, Thomas Spieker, in Hannover.
"Wir verzeichnen wieder einen deutlichen Anstieg der Erkrankungsfälle durch EHEC und HUS", sagte auch Hamburgs Gesundheitssenatorin Cornelia Prüfer-Storcks (SPD). Dort gebe es 668 EHEC-Fälle oder Verdachtsfälle, 119 mehr als am Vortag. Bundesweit haben sich mit dem EHEC-Erreger nach RKI-Angaben bislang 1064 Menschen angesteckt. Nur bei einem geringeren Teil ist es bislang zu Komplikationen durch HUS gekommen.
Krankenkassen bitten um Blutspenden
Angesichts des hohen Bedarfs an Blutkonserven und Blutplasma wegen der zahlreichen EHEC-Erkrankungen haben erste Krankenkassen zum Blutspenden aufgerufen. "Wir haben zwar eine gut organisierte, länderübergreifende Versorgung mit Blutkonserven, aber wir sollten nicht vergessen, dass die Urlaubssaison unmittelbar bevorsteht, in der erfahrungsgemäß durch ein erhöhtes Unfallgeschehen auch wieder mehr Blutkonserven benötigt werden", erklärte der Sprecher des Landesverbandes der Ersatzkassen in Mecklenburg-Vorpommern, Bernd Grübler. Bei den lebensbedrohlichen HUS-Fällen muss wegen des Nierenversagens Blutwäsche eingesetzt werden.
Auch Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz und Gesundheitssenatorin Cornelia Prüfer-Storcks haben zum Blutspenden aufgerufen - und gleich selbst gespendet.
HUSEC041 in Tschechien
Auch im Ausland breitet sich der Keim weiter aus: In Tschechien gibt es einen ersten nachgewiesenen EHEC-Fall. Eine amerikanische Touristin sei definitiv an dem Erregertyp O104 erkrankt, teilte das nationale Referenzlabor in Prag mit. Die EU-Kommission nannte zudem folgende EHEC-Zahlen: Schweden 41 (davon 15 HUS), Dänemark 14 (davon 6 HUS), Frankreich 6 EHEC-Fälle, Großbritannien 3 Fälle (davon 2 HUS), Niederlande 7 (davon 3 HUS) und Österreich 2 EHEC-Fälle. In den meisten Fällen handele es sich um Menschen, die kurz zuvor in Deutschland gewesen seien.
Wo ist die Quelle?

Wenlan Zhang vom Institut für Hygiene der Universitätsklinik in Münster bestückt ein Realtime PCR-Gerät für einen molekular-biologischen Schnelltest für den Nachweis von EHEC-Bakterien.
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Nach wie vor ist der genaue Ursprung der Infektionen unbekannt. "Man kann derzeit gar nichts ausschließen", sagte Verbraucherministerin Ilse Aigner im ZDF. Die Lieferwege müssten zurückverfolgt, Lieferlisten ausgewertet werden. Die Verunreinigungen könnten nicht nur bei der Erzeugung, sondern auch bei Transport und Verpackung entstanden sein.
Eine Übertragung von Mensch zu Mensch sei sehr unwahrscheinlich, wenn man normale Hygieneregeln einhalte, erläuterte Gesundheitssenatorin Prüfer-Storcks. "Sehr viel wahrscheinlicher ist wirklich die Primärinfektion über ein Lebensmittel, das man zu sich nimmt." Die Behörden empfehlen nach wie vor, präventiv auf den Konsum von rohem Tomaten, Gurken und Blattsalaten zu verzichten – vor allem im Norden.

Der Direktor des Instituts für Hygiene des Universitätsklinikums Münster, Helge Karch, erläutert Zellschädigungen durch freigesetzte Giftstoffe des EHEC-Erreger HUSEC041.
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Nachdem sich die Verunreinigungen auf spanischen Gurken nicht als Verursacher der Erkrankungswelle erwiesen haben, suchen Experten weiter fieberhaft nach der Quelle der Erreger. "Es könnten Tiere infiziert sein. Es können aber auch Menschen als Überträger in Betracht kommen", sagte Prof. Helge Karch vom Universitätsklinikum Münster (UKM). Diese Möglichkeiten müssten nun überprüft werden. Karch sprach sich für rasche Sonderforschungsprogramme aus. Möglicherweise könnten Menschen den Keim in sich tragen, ohne dass es zum Ausbruch komme.
Es müsse auch der Frage nachgegangen werden, ob entlassene EHEC-Patienten den Keim noch weiter ausscheiden. Solche Menschen wären dann eine Gefahr für ihr Umfeld, warnte der Dekan der medizinischen Fakultät der Universität Münster, Prof. Wilhelm Schmitz. Eine Übertragung über Tiere war schon zu Anfang der Welle im Gespräch gewesen, weil EHEC-Darmkeime auch im Rinderdarm zu finden sind.
Laut Prüfer-Storcks werden im Hamburger Hygiene-Institut auch etliche andere Lebensmittel untersucht. Möglicherweise hilft dabei ein neuer Schnelltest aus Münster, den Karchs Team vorstellte. Er klärt innerhalb von vier Stunden, ob es sich um den EHEC-Erreger HUSEC041 (O104:H4) handelt. Dieser Stamm ist für den aktuellen Ausbruch verantwortlich.
"Der Test kann auch bei Lebensmitteln eingesetzt werden", so Karch. "Mit dem Schnelltestverfahren können wir den Ausbruchsstamm sicher identifizieren." Der Keimexperte betonte: "Das Testergebnis ist sehr sicher." Das UKM hat die Anleitung für den Test nicht patentiert, sondern ins Internet gestellt. "Jedes Labor kann dieses Rezept nachkochen", so Alexander Mellmann von Karchs Institut für Hygiene. Grundlage des Tests sind vier Gene, welche nur der Typ HUSEC041 besitzt. Über diese Gene lässt sich der EHEC-Erreger in jedem molekularbiologischen Labor identifizieren.
"HUSEC041 ist eine Rarität"
Die Bakterien des Typs "HUSEC041" gehören den Angaben aus Münster zufolge zu den 42 EHEC-Typen, die seit 1996 in Deutschland bei Patienten mit dem hämolytisch-urämischen Syndrom (HUS) festgestellt wurden. Der Keim war bislang aber unauffällig.
Der EHEC-Stamm, der die aktuelle Erkrankungswelle ausgelöst hat, trat nach Angaben von Karch vor zehn Jahren bereits schon einmal in Deutschland auf. HUSEC041 sei im Jahr 2001 bei einem Geschwisterpaar in Köln festgestellt worden. Der Keim habe seither die Resistenz gegen Antibiotika ausgebaut. Und: "Der neue Stamm ist zwei- bis dreimal toxischer als der Ursprungsstamm von 2001." Karch, der als Koryphäe bei der Erforschung derartiger Keime gilt, hatte die Proben von 2001 in seinem Archiv verwahrt - als bundesweit einzigen Treffer. "HUSEC041 ist eine Rarität." Auch das Archiv für weltweite Funde solcher Erreger in Kopenhagen habe HUSEC041 nur einmal im Bestand verzeichnet. "Es ist nur ein Fall in Korea beschrieben."
Die Erreger scheiden das tödliche Gift "Shiga Toxin 2" aus. Es dringt in die menschlichen Zellen ein und hemmt dort die lebenswichtige Eiweißsynthese. Eine Folge davon ist das lebensgefährliche hämolytisch-urämischen Syndrom mit Nierenversagen und Verstopfung der Blutgefäße.
EU erwartet Aufklärung aus Deutschland
Die EU-Staaten erwarten bei der Suche nach dem Grund für die Infektionen rasche Aufklärung aus Deutschland. Dies geht aus einer Erklärung von Gesundheitsexperten aller 27 EU-Regierungen hervor, die am Dienstagabend nach einem Treffen in Brüssel veröffentlicht wurde. Darin heißt es: "Die EU-Staaten nehmen auch zur Kenntnis, dass der Ausbruch geografisch mit einer Gegend um die Stadt Hamburg verbunden ist."
EU-Gesundheitskommissar John Dalli nannte die Ausbreitung des EHEC-Darmkeims eine "ernste Krise". Dalli warnte aber vor Panik angesichts der zahlreichen Erkrankungen in Deutschland und anderen Ländern. "Die Öffentlichkeit sollte ruhig bleiben und grundlegende Hygiene-Regeln bei der Zubereitung von Essen beachten", sagte der EU-Kommissar. Auch wenn das "Epizentrum" der Krise im Raum Hamburg liege, seien Warnungen vor Reisen in die Region ebenso wenig angemessen wie das generelle Verbot bestimmter Lebensmittel.
Spanien erwägt rechtliche Mittel gegen Hamburg
Spanien, das sich von Deutschland zu Unrecht beschuldigt sieht, zieht rechtliche Maßnahmen gegen die Hamburger Gesundheitsbehörde wegen der EHEC-Warnung in Betracht. Er schließe das nicht aus, sagte Spaniens Vize-Ministerpräsident Alfredo Perez Rubalcaba dem Radiosender Cadena Ser. Hamburg habe die Qualität der spanischen Produkte in Zweifel gezogen.
Die spanischen Bauern haben nach eigenen Angaben bereits 200 Millionen Euro durch den Absatzeinbruch verloren. 70.000 Menschen könnten ihre Arbeit verlieren.
Aigner nahm die Hamburger erneut in Schutz. "Es wurden ja EHEC-Erreger auch auf spanischen Gurken gefunden. Und deshalb musste nach den europäischen Regularien dazu auch eine Schnellwarnung abgesetzt werden", sagte sie im ZDF. Die EHEC-Erreger auf den spanischen Gurken stammten von einem anderen Bakterien-Typ als die des aktuellen Ausbruchs in Deutschland.
Aigner will sich auf EU-Ebene für eine Entschädigungen der deutschen Landwirte für Einnahmeausfälle stark machen, denn auch sie haben immense Absatzprobleme durch EHEC. Sie werde umgehend mit EU-Agrarkommissar Ciolos sprechen, sagte Aigner vor einer Sondersitzung des Agrar- und Verbraucherschutzausschusses des Bundestags.
Quelle: ntv.de, hdr/dpa/rts/AFP