Roma hausen in "Bidonvilles" Fahrende werden sesshaft
14.09.2008, 12:10 UhrDas Schicksal der Roma in Italien macht europaweit Schlagzeilen. Doch auch Frankreich geht verschärft gegen ungebetene Gäste aus Rumänien und Bulgarien vor. Zwei Wochen vor der EU-Roma-Konferenz in Brüssel am 16. September ließen sie das größte Elendsviertel Frankreichs im Pariser Vorort Saint-Ouen mit Planierraupen abreißen. 663 Roma hatten das Gelände zuvor geräumt.
Doch es gibt weitere derartige "bidonvilles". Nach Rechnungen von Flüchtlingsorganisationen campieren rund um die französische Hauptstadt 3000 bis 4000 Roma in ähnlichen Lagern. Fast 200 Roma hausen beispielsweise im Lager "Hanul" nur wenige Schritte hinter dem modernen Nationalstadion "Stade de France". Dass im fernen Brüssel Politiker und Roma-Funktionäre auch über ihre Lage debattieren wollen, davon wissen sie nichts.
Angespannte Situation
"Seit der EU-Erweiterung ist die Situation angespannt", erklärt France Mochel vom Einwanderungsministerium. Denn wie die selbst gebastelten Hausnummern im "Hanul" demonstrieren, streben die in Frankreich als "fahrendes Volk" bezeichneten Roma nach Sesshaftigkeit. Doch Präfekt Olivier Dubaut verteidigt den härteren Kurs der Behörden. "Unser Land kann und will nicht alle Roma aufnehmen", sagte er der Tageszeitung "Le Parisien".
In den aus Holz und Blech zusammengeschusterten Hütten von "Hanul" ist Anspannung zu spüren. Marius Stoiku aus Baracke 32 zieht Ausreisepapiere hervor. Der Rumäne will zeigen, dass sich seine Familie dank des Stempels der Grenzbeamten wieder drei Monate legal in Frankreich aufhält. So lang darf er sich als Neu-EU-Bürger seit 2007 frei in den Staaten der Union bewegen.
Stoikus siebenjähriger Sohn Moisa wurde im September bei Paris eingeschult. "Er muss gut lernen", sagt seine Mutter Melania. Eines Tages soll er ein Haus kaufen oder wenigstens einen Wohnwagen. "Damit Moisa zur Schule gehen kann, reisen wir alle drei Monate nach Rumänien", um einen neuen Einreisestempel zu erhalten, sagt Marius.
Einkaufswagen voller Kabel
Neben ihrer Baracke, die Platz für ein Bett und eine Kommode bietet, parkt ein Einkaufswagen voller Kabel. Marius sammelt Kupfer und Eisen, das er an vorbeifahrende Schrotthändler verkauft. Nur wenige im "Hanul" arbeiten als Reinigungskraft oder auf dem Bau, in einem der 150 Berufe, die Neu-EU-Bürgern in Frankreich offen stehen. Denn von potenziellen Arbeitgebern verlangt der Staat 893 Euro zusätzliche Abgaben.
Fast 30 Euro hat Marius mit dem gesammelten Schrott eingenommen. Ein guter Tag. Im Monat verdient er mehr als den rumänischen Durchschnittslohn von 194 Euro. Finanzielle Rückkehrhilfe vom Staat, 300 Euro für Erwachsene und 100 für Kinder, lehnt Marius ab: "Was sollten wir denn in Rumänien tun?" Coralie Guillot vom Verein "Parada" kennt Familien, die mehrmals Hilfen kassiert haben.
Eine "Zeitbombe"
Die Rückführpolitik des Einwanderungsministers Brice Hortefeux schöne die Statistik, lautet der Vorwurf von Hilfsorganisationen. 28.000 Ausländer ohne Aufenthaltsgenehmigung will Hortefeux 2008 des Landes verweisen. Der Verein Romeurope errechnete, dass mehr als ein Drittel der bisher Ausgewiesenen Roma aus neuen EU-Staaten waren. Eine "Zeitbombe" nennt das Saimir Mile, Vorsitzender der Organisation "La voix des roms". "Ich verstehe, wenn sich Franzosen über die Verschwendung von Steuergeldern beschweren."
Anwalt Mile reist als Vertreter der fast 500.000 Franzosen mit Roma-Wurzeln zur Brüsseler Roma-Konferenz. Seit Jahren kämpft Mile für die Anerkennung der Roma als europäisches Volk mit Dolmetschern und Kulturzentren. Dem Klischee des elenden Barackenbewohners entspreche schließlich nur ein Prozent der Roma in Frankreich.
Sarah Brock, dpa
Quelle: ntv.de