
Bei Altardecken, hier das "Tuch des Vergebens" in Sankt Joseph, handelt es sich um drei aufeinandergelegte Tücher.
(Foto: Reggio Ricama)
Ihre Leidenschaft fürs Sticken brachte eine Gruppe von Frauen in Reggio Ricama zusammen. Dass sie es in Zeitungen und ins Fernsehen schaffen würden, kann sich damals keine von ihnen vorstellen. Doch dann machen sie sich daran, ein Geschenk für den Papst zu sticken.
Was vor vielen Jahren eine Leidenschaft war, ist im Laufe der Zeit eine himmlische Aufgabe geworden. Besonders für Menschen, die gläubig sind, muss es sich einmalig anfühlen, etwas für den Papst anzufertigen, das noch dazu auf einem der Altäre des Petersdoms zu sehen ist. Wie zum Beispiel das Altartuch der Sankt-Johann-Kapelle. Es trägt den Namen "Das Tuch des Vergebens" und wurde in feinster "Ars canusina matildica"-Sticktechnik angefertigt.
Es ist eine ganz besondere Geschichte, die hier erzählt wird, weil sie zeigt, dass das Leben immer wieder neue Pfade einschlagen kann, wenn man es nur lässt. Aber der Reihe nach: Zu Beginn waren die Protagonistinnen noch junge Mütter, heute sind die meisten von ihnen schon Großmütter. "Alles hat ganz normal begonnen. Wir waren eine Gruppe Frauen, die die Leidenschaft fürs Sticken teilten, und so tauschten wir immer Erfahrungen und Ratschläge aus", erzählt Sandra Cosmi, Leiterin der Schule Reggio Ricama ntv.de, während sie durch die Ausstellung von Stickarbeiten im Bankinstitut Credem in Reggio Emilia führt.
"Das Sticken war für mich immer eine Art Kamillentee", sagt Cosmi. Sie waren damals fast alle Hausfrauen und wenn dann die Familie versorgt war, entspannten sie sich bei der Stickarbeit. Keine hätte sich vorstellen können, eines Tages deswegen in die Zeitungen und ins Fernsehen zu kommen. Und damals hätten sie sich auch nicht vorstellen können, die Kühnheit zu besitzen, für den Papst sticken zu wollen. Die hatten sie aber, daher das Interesse der Medien. Denn mittlerweile haben sie drei Altartücher angefertigt. Und jetzt geht es bald an die Anfertigung des nächsten für das Jubiläumsjahr 2025, das Papst Franziskus zum Heiligen Jahr erklärt hat.
Sticktradition in psychiatrischer Anstalt
Bis es aber so weit war, verstrichen mehrere Jahre und es gab lehrreiche Zwischenstationen. Zum Beispiel eine Recherche in ganz Italien nach typischen Stickmethoden. "Da jede von uns andere Stickpunkte kannte, machten wir uns auf die Suche nach lokalen Traditionen und Techniken", erzählt Sandra Cosmi weiter. Und so stellten sie sich irgendwann auch die Frage: Was ist für Reggio Emilia typisch? Zwar sei die Region Emilia Romagna reich an Sticktechniken, doch eine aus Reggio Emilia schien niemand zu kennen.
Kein Wunder, dass sie am Anfang keine große Hoffnung hegten, fündig zu werden. Damit aber lagen sie falsch. "Ich muss da zeitlich etwas zurückgreifen", sagt Cosmi. "In den 1930er-Jahren gab es etwas außerhalb von Reggio Emilia eine psychiatrische Anstalt, die eine gewisse Bekanntheit erlangt hatte, weil sie von Maria Bertolani Del Rio geführt wurde, das war die erste Psychiaterin und auch erste Direktorin einer Nervenklinik in Italien." Die Ärztin hatte bemerkt, dass manuell beschäftigte Patienten viel ruhiger wurden. Deswegen beschloss sie 1931, als die apulische Stadt Bari einen nationalen Wettbewerb lancierte, der typische lokale Handarbeiten von Frauen im Fokus hatte, mit ihren Patientinnen teilzunehmen.
Über einen damaligen Kunstexperten stießen sie auf eine von Blumen geprägte lokale Dekorationstradition, die noch auf die Zeit der hier sehr verehrten Mathilde von Canossa (um 1046-1115) zurückging. Das Institut gewann den ersten Preis und die Psychiaterin setzte den therapeutischen Ansatz fort. Aus einem Codex aus der Zeit der Mathilde von Canossa wurden Muster und Zierleisten kopiert und den Patientinnen als Vorlagen fürs Sticken, Malen und andere kunsthandwerkliche Beschäftigungen gegeben.
Ein Geschenk für den Papst
Sandra Cosmi und ihren Freundinnen gelang es noch, eine der Stickerinnen auszumachen, die an dem Institut einst halfen. "Die Frau war schon sehr alt, aber noch sehr klar im Kopf und sie hat uns die 'Ars canusina matildica'-Stickerei beigebracht." Aus dem einstigen Erfahrungsaustausch war 1990 auch die Stickschule Reggio Ricama entstanden. Auch wenn sie sich Schule nennt, es handelt sich nicht um eine Berufsausbildung, sondern es bleibt weiter bei der Leidenschaft. Wobei sich auch diese Ziele setzen kann.
Und so geschah es, dass im Laufe der Jahre die angesammelte Erfahrung und das Selbstvertrauen den Wunsch aufkommen ließ, Papst Franziskus ein Geschenk zu sticken. Unter anderem ein Altartuch für die Kapelle von Santa Marta, dem Gästehaus des Vatikans, in dem der Papst wohnt.
Und der Wunsch wurde in die Tat umgesetzt. Auf einem weißen Leinen wurden 2665 Blumen mit der Wickelstichtechnik gestickt. "Man spricht immer von einem Altartuch, das ist aber falsch", sagt Frau Cosmi. Bei den Altardecken handele es sich immer um drei aufeinandergelegte Tücher. Alle drei sind bestickt. Das Altartuch für Santa Marta nannten sie "Paradiestuch" und übergaben es persönlich dem Papst. Später folgten das Tuch des Fischers und das der Vergebung. Letzteres, im "Ars Canusina"-Stil dekoriert, schmückt jetzt den Altar von Sankt Joseph im Petersdom.
Straffer Arbeitsplan
Doch wie viel Arbeit steckt eigentlich in so einem Tuch? "Sehr viel", lautet die Antwort. Deshalb braucht es auch viele Mitarbeiterinnen. Und so muss man sich die Arbeitseinteilung und den Arbeitsvorgang vorstellen: Als Erstes wird ein Arbeitsplan erstellt, auf dem Tag für Tag, Woche für Woche steht, wer an dem Tuch arbeitet - von der Zeichnung und der Vorbereitung des Stoffes ("Was der schwerste Teil der Arbeit ist", wie die Frauen es sagen) bis zu dem eigentlichen Sticken. Wenn jemand aus persönlichen Gründen unerwartet ausfällt, wird die Aufgabe an eine Frau übergeben, die einspringen kann. Es kommt auch vor, dass mehrere Stickerinnen gleichzeitig an dem Tuch arbeiten.
Jetzt warten alle gespannt auf das Jubiläumsaltartuch. Das Muster und die Dekorationen werden durch eine Ausschreibung bestimmen. Die Stickarbeit werden dann die Frauen von Reggio Ricama übernehmen.
Quelle: ntv.de