Regierung für Normalisierung Kann Spanien Corona jetzt locker nehmen?
13.01.2022, 20:08 Uhr
Spaniens Impfquote ist hoch, aber kein Grund, leichtsinnig zu sein.
(Foto: picture alliance/dpa/EUROPA PRESS)
Die spanische Regierung möchte aus dem Pandemie-Modus und mit Covid-19 wie mit der Grippe umgehen. Tatsächlich ist die Impfquote des Landes hoch und Omikron "milder" als Delta, aber kann es sich das Land deshalb erlauben, jetzt schon in den Normalzustand zurückzukehren?
Ein Radio-Interview des spanischen Ministerpräsidenten Pedro Sánchez hat großen Wirbel verursacht, weil der Regierungschef darin forderte, zum Normalzustand zurückzukehren und Covid-19 künftig wie eine Grippe zu behandeln. Man müsse berücksichtigen, dass Covid-19 sich von einer Pandemie zu einer endemischen Krankheit entwickle, sagte er. Zwar will Sánchez keinen Alleingang seines Landes, sondern eine Diskussion in der EU anschieben. Doch die Frage stellt sich schon, ob Spanien seine Situation nicht zu optimistisch einschätzt.
Mit einer 7-Tage-Inzidenz von aktuell knapp 1800 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner mag die Einstellung der Regierung in Madrid aus deutscher Sicht zunächst etwas kurios erscheinen. Doch ganz unberechtigt ist der lockere Blick in die nahe Zukunft nicht, denn Spanien hat eine der höchsten Impfquoten der Welt.
Hohe Impfquote
81 Prozent der Bevölkerung sind den offiziellen Angaben nach "vollständig" geimpft, 86 Prozent haben wenigstens eine Dosis erhalten. Besonders hoch sind die Quoten bei der vulnerablen älteren Bevölkerung, die über 60-Jährigen sind praktisch zu 100 Prozent doppelt geimpft.
Insgesamt haben 90 Prozent der über 12-Jährigen zwei Dosen im Oberarm und immerhin schon 37 Prozent der unter 12-Jährigen sind einmal geimpft. Auch bei den Auffrischungen legt das Land ein ordentliches Tempo vor, 82,5 Prozent der 60- bis 69-Jährigen sind geboostert, bei den über 70-Jährigen haben bereits 90 Prozent die dritte Dosis im Oberarm.
Deutlich mehr Covid-19-Patienten im Krankenhaus
Doch Sars-CoV-2 hat bereits bewiesen, dass es selbst kleine Impflücken bestraft. Das sieht man vor allem an der starken Zunahme von Krankenhauseinweisungen in Spanien. Anfang November wurden wöchentlich rund 1500 Covid-19-Patienten hospitalisiert, einen Monat später waren es schon doppelt so viele. Jetzt sind es rund 13.500.
Viele von ihnen sind vermutlich nicht aufgrund einer Corona-Infektion im Krankenhaus, sondern sie wurden dort erst bei der Aufnahme positiv getestet. Ein Indiz dafür ist, dass ein Großteil der registrierten Fälle asymptomatisch verläuft. Für viele unerkannte Ansteckungen spricht auch die hohe Test-Positivrate von 39 Prozent.
Laut den jüngsten Zahlen der britischen Statistikbehörde könnte dies bei bis zu 50 Prozent der Fall sein. Omikron war in Spanien schon vor Weihnachten für 51 Prozent der Neuinfektionen verantwortlich, inzwischen dürften wie im Vereinigten Königreich dort nahezu alle Fälle auf die Virus-Variante zurückzuführen sein. Die Situation ist also durchaus vergleichbar.
Intensivstationen erneut unter Druck
Die große Masse führt aber trotzdem dazu, dass viele Infizierte auf den Intensivstationen landen. Anfang November kamen wöchentlich etwa 150 Corona-Patienten hinzu, vier Wochen später 500. Inzwischen kommen in Spanien mit rund 1300 Neuaufnahmen mehr Covid-19-Fälle pro Woche in die Intensivbehandlung als in Deutschland. Pro 1 Million Einwohner gibt es in der Bundesrepublik derzeit etwa 36 Corona-Intensivfälle, in Spanien 48.
Das Land zählt damit jetzt mehr Neuaufnahmen als zu den Höhepunkten der dritten und vierten Wellen im Frühjahr und Sommer 2021. Vor einem Jahr mussten die Intensivstationen des Landes mit fast 2400 neuen Covid-19-Patienten allerdings noch deutlich mehr verkraften.
Kanaren besonders betroffen
Trotzdem ist die Belastung von Spaniens Krankenhäusern wieder sehr hoch. Laut "El País" belegen Corona-Fälle in 26 von 50 Provinzen zu mehr als 25 Prozent die Intensivkapazitäten. Das bedeutet, dort herrscht die höchste Alarmstufe. Besonders betroffen sind die Kanarischen Inseln sowie die Provinzen Baskenland, Aragonien und Katalonien. In einigen Regionen lägen sogar mehr Covid-19-Fälle auf den Intensivstationen als vor einem Jahr, schreibt "El País". Allerdings hätten sich davon viele noch mit der Delta-Variante infiziert.
Obwohl Omikron seltener zu schweren Verläufen führt, füllen sich die Intensivstationen weiter, solange Spaniens Fallzahlen so hoch wie aktuell sind. Man stehe mit jedem Tag unter höherem Druck und hoffe, dass die Neueinweisungen nicht weiter steigen, sagte ein Klinik-Chef aus Barcelona der Zeitung.
Impfungen machen den Unterschied
Den Unterschied machen die Impfungen aus. Laut katalanischen Daten kommen etwa viermal mehr Ungeimpfte als Geimpfte ins Krankenhaus, etwa siebenmal mehr auf Intensivstationen. Zu Beginn der Pandemie machten über 70-Jährige die Hälfte der Hospitalisierungen aus, nachdem diese Altersgruppe durchgeimpft war, sank der Anteil auf 15 Prozent. Delta erhöhte ihn wieder auf 50 Prozent, durch die Booster-Impfungen sinkt er wieder.
Eine doch deutlich steigende Zahl der Corona-Toten konnten die Auffrischungen bisher nicht verhindern. Am 1. Dezember zählte Spanien im 7-Tage-Schnitt 55 Opfer, jetzt sind es knapp 100. Allerdings ist es hier sehr wahrscheinlich, dass noch viele Fälle auf das Konto von Delta gehen. Vor einem Jahr waren die Todeszahlen des Landes dreimal so hoch.
Ähnliche Entwicklung in Portugal
Dass hohe Impfquoten das beste Mittel für ein Land sind, um die Omikron-Welle möglichst glimpflich zu überstehen, sieht man noch besser im Nachbarland Portugal, wo bereits 90 Prozent der Bevölkerung zwei Dosen erhalten haben. Alle über 60-Jährigen sind durchgeimpft und zu 83 Prozent geboostert.
In Portugal ist die Zahl der Covid-19-Patienten seit dem 1. November gerade mal von 60 auf 160 gestiegen, obwohl das Land mit 2300 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner eine noch höhere 7-Tage-Inzidenz als Spanien aufweist. Auch in Portugal steigt die Zahl der Todesopfer, allerdings deutlich langsamer. Aktuell sind es pro Woche im Schnitt 21, am 1. Dezember waren es rund 13. Am 1. Februar 2021 registrierte Portugal 300 Corona-Tote.
Wahrscheinlich wird Spanien die Omikron-Welle wie Portugal und andere Länder mit hohen Impfquoten überstehen, ohne neue Höchststände bei den Todes- und Intensivfällen zu erreichen. Das Gesundheitssystem steht aber trotzdem unter enormem Druck und zahlreiche Personalausfälle durch Infektionen und Quarantäne belasten die Wirtschaft und vor allem das Schulsystem stark. Mit kaum mehr als einer Masken- und Abstandspflicht hat das Land jetzt schon nahezu keine Einschränkungen, weitere Lockerungen scheinen angesichts der angespannten Situation nicht ratsam zu sein.
Endemie alles andere als gewiss
Man kann, wie von Sánchez gewünscht, über eine endemische Zukunft diskutieren. Aber ob sie sich bereits aus der Omikron-Welle durch eine Kombination von Impfungen und überstandenen Infektionen ergibt, ist alles andere als sicher. Der texanische Impfstoff-Forscher Peter Hotez bringt es in einem Tweet auf den Punkt: Omikron werde wie die Coronaviren der oberen Atemwege zu keiner dauerhaften Immunität führen, schreibt er.
"Unter der Annahme, dass diese Welle im Februar nachlässt, könnten wir Glück haben und einen ereignislosen Frühling erleben. Aber dann wird eine neue Variante aus ungeimpften Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen auftauchen und im Sommer über den amerikanischen Süden fegen. Es sei denn, die Staats- und Regierungschefs der G7 erwachen aus dem Koma und verpflichten sich, weltweit zu impfen, dann haben wir möglicherweise eine Chance, die Pandemie zu beenden."
Auch die WHO warnt dringend davor, die Situation zu unterschätzen. Je stärker sich die Variante ausbreite und vermehre, "desto wahrscheinlicher ist es, dass es eine neue Variante hervorbringt", zitiert das "Ärzteblatt" die WHO-Notfallexpertin Catherine Smallwood. "Wir befinden uns in einer sehr gefährlichen Phase. Wir beobachten sehr stark steigende Infektionsraten in Westeuropa, deren Auswirkungen noch nicht ganz klar sind."
Quelle: ntv.de