Weihnachten an der FrontWenn der Grinch keine Märchenfigur ist

Weihnachten mit dem bitteren Beigeschmack von Krieg: Wie ukrainische Marinesoldaten, die im Kampfgebiet Horden russischer Truppen aufhalten, Weihnachten feiern, beschreibt Sergey Panashchuk für uns, die im Westen mit ihren Familien ein Leben in Frieden führen können.
Ich bin ukrainischer Soldat des 3. Marine-Rekrutierungszentrums der Streitkräfte der Ukraine und Frontjournalist. In dieser Eigenschaft verbrachte ich einige Zeit mit Marinesoldaten der 36. Brigade an der Front, um darüber zu berichten, wie Weihnachten für Soldaten im Kampfeinsatz aussieht. Dieses Weihnachten hat einen bitteren Beigeschmack, schon wieder, den Beigeschmack von Krieg. Der Grinch ist keine Figur aus einem Märchen, sondern real. Er trägt das Gesicht Hunderttausender russischer Soldaten, hat diesen Menschen, die nun fernab ihrer Familien sind und nur wenige Augenblicke Zeit haben, sich vom Kampf abzulenken, und Millionen von Ukrainern, die ihre Angehörigen und ihre Heimat verloren haben, das Weihnachtsfest gestohlen.
Überreste eines menschlichen Lebens
Die Straße zur Front ist mit Drohnenabwehrnetzen bedeckt, die Fischernetzen ähneln. Alle paar Meter stehen Stützpfähle. Hier und da sind die Netze zerrissen. Man sieht ausgebrannte Fahrzeuge, Drohnenfragmente und die Überreste eines menschlichen Lebens. "Das ist ein frischer FPV-Angriff. Und das ist eine Lancet", sagt unser Fahrer Volodymyr. Er ist Mitte zwanzig, trat 2022 der Marine bei und hat seitdem viele Kampfeinsätze erlebt. Er weiß, wie man die Zeichen und Spuren des Krieges liest.
Die Kampfbedingungen haben sich seit 2022 stark verändert: Anstelle einer klaren Frontlinie existiert nun eine Todeszone. Ein von Kampfdrohnen kontrolliertes Gebiet erstreckt sich etwa zehn Kilometer in beide Richtungen, sowohl in das von ukrainischen Streitkräften geschützte Gebiet als auch in das von Russland besetzte Territorium. Jede einzelne Bewegung wird aus der Luft überwacht, was Logistik und Personalrotation nahezu unmöglich macht.
Die Regeln des Krieges
Doch trotz aller extremen Bedingungen halten die ukrainischen Marinesoldaten weiterhin stand. Ihre wenige Freizeit während ihrer Rotation nutzen sie zur Erholung und zum Training, um sich an die ständig ändernden Regeln dieses Krieges anzupassen. In ihren Ruhephasen leben sie vorübergehend in Städten und Dörfern in der Nähe des Kampfgebietes.
Ich war bei Marinesoldaten des 1. Bataillons der 36. Marinebrigade des 30. Marinekorps in einem ihrer Quartiere. Ein alter, aber solider Ofen spendet Wärme im Haus, dessen Wände mit Militärtaschen, Schutzwesten, Uniformen und den Flaggen des Bataillons und der Brigade geschmückt sind.
Kein gewöhnliches Mahl
Am Kopfende des Tisches sitzt, gemäß ukrainischer Weihnachtstradition, die älteste Person. Hier ist es der Hauptfeldwebel des Ersten Zuges des Ersten Bataillons, Mykhaylo Stelmah, 59 Jahre alt. Sein Rufname ist "Großvater", und hätte er einen Bart, sähe er aus wie der Weihnachtsmann. "Der Herr ist geboren! Lasst uns ihn preisen!", sagt er mit autoritärer Stimme.
Und weiter: "Danke, meine Kameraden, dass ihr euch hier versammelt habt. Ich lade euch ein, Kutia zu probieren und Weihnachten mit mir zu feiern." Kutia ist ein traditionelles ukrainisches Weihnachtsgericht, das einem süßen Weizen-Beeren-Pudding ähnelt und traditionell als erstes am Heiligabend gegessen wird. Doch dies ist kein gewöhnliches Familienessen voller Freude, Lachen und Smalltalk über Friseurbesuche, Rabatte, neue Automodelle oder Steuererhöhungen.
Während des Essens sprechen die Marines über Kampfeinsätze, die sie überlebt haben, über Kugeln, die lebenswichtige Organe nur um Haaresbreite verfehlten und die sie nur wegen ein paar Zentimetern links oder rechts überlebt haben.
Kein Alkohol, keine Geschenke
Die Geschichten, die dem normalen Leben an solchen Abenden am nächsten kommen, handeln von Wildtieren – Igeln, Kaninchen, Mäusen und Katzen – , die sich in den Wäldern in der Nähe der Stellungen der Marines versteckten und manchmal fälschlicherweise für feindliche Truppen gehalten werden. Spoiler: Kein Tier wurde verletzt, und die meisten wurden vom Bataillon aufgenommen.
Die Frontköche arbeiteten hart, um ukrainischen Borschtsch, Pampuschki (traditionelles Knoblauchbrot), mit Kartoffeln gefüllte Teigtaschen, geschmorten Kohl und Salo auf den Weihnachtstisch zu bringen.
Es gibt weder Alkohol noch Geschenke. Die Männer brauchen einen klaren Kopf. Morgen geht es zurück an die Front, und an der Front gibt es keine Feiertage. Das Bataillon kämpft derzeit in der Region Donezk und verteidigt die Stadt Kostjantyniwka und die Zufahrtsstraßen. Das ist momentan einer der gefährlichsten Frontabschnitte. "Ehrlich gesagt bin ich nicht wirklich in Feierlaune", sagt der Bataillonskommandeur, Rufname "Prometej". Wer kann es ihm verübeln?
"Die Lage in unserem Sektor ist äußerst schwierig, und selbst in den Ruhepausen kreisen unsere Gedanken und Anstrengungen darum. Aber wir sind Elitetruppen – wir klagen nicht. Wir tun, was getan werden muss." Die 36. Brigade ist eine der bekanntesten Einheiten des ukrainischen Marinekorps. Sie verteidigte Mariupol zu Beginn der großangelegten Invasion heldenhaft und kämpfte an nahezu jedem wichtigen Frontabschnitt, darunter auch bei Operationen am linken Ufer des Cherson-Flusses und in Richtung Kursk.
Vergesst uns bitte nicht!
Yaroslav Dratovany, Unteroffizier der 1. Mörserbatterie des 1. Marineinfanteriebataillons, kämpft seit dem 25. Februar 2022. "Für mich gibt es keine Feiertage – zumindest nicht, solange die Kämpfe dauern. Wichtig ist, dass Weihnachten die Menschen daran erinnert, an uns und unseren Einsatz hier zu denken", sagt der 35-Jährige. Für diese Marines ist Weihnachten eine Gelegenheit, eine Verbindung zur Außenwelt zu spüren – und die Außenwelt, insbesondere den Westen, daran zu erinnern, dass sie hier sind und die Stellung halten, damit andere ein richtiges Weihnachtsfest feiern können.
Mykhailo Bodnar, 34, Oberleutnant der 1. Kompanie des 1. Bataillons, ergänzt: "Nun ja, jeder Feiertag ist ein kleiner Bonus – etwas Angenehmes in unserem Dienst. Aber er wird nicht wirklich gefeiert. Wir vermissen den Kontakt mit anderen, wir vermissen unsere Familien, wir vermissen die üblichen Weihnachtstraditionen. In Richtung Westen möchte ich Folgendes sagen: Weihnachten vereint. Es vereint Familien, Menschen und Länder. Staaten sollten sich angesichts der aktuellen Lage zusammenschließen, zusammenkommen, uns mehr vertrauen und uns in unserem gemeinsamen Anliegen stärker unterstützen."
Dieses Übel wird woanders ausbrechen
Dmytro Kolesnik, Rufname "Ford", 40 Jahre alt, verbrachte einen Monat während seiner Ausbildung in Großbritannien und hat schöne Erinnerungen an das Land. Er sagt: "Soweit ich das beurteilen kann, gibt es starke Unterstützung – wir sind nicht allein. Was ich insbesondere der Europäischen Union und Großbritannien sagen möchte, ist Folgendes: Russland hält sich nicht an die Regeln. Ich weiß nicht, worauf ich mich sonst stützen soll als auf die Geschichte. Blicken wir hundert Jahre zurück, dann sehen wir: Nichts hat sich geändert. Wenn dieses Übel nicht gestoppt wird, wird es sich weiter anhäufen und erneut ausbrechen – wenn nicht in der Ukraine, dann anderswo, wie in Georgien und Tschetschenien."
Krieg verändert sich ständig
Großbritannien ist natürlich weit weg. Und die schlechte Nachricht ist: Krieg verändert sich ständig. Alle sechs Monate sieht er anders aus. Der Krieg von 2022 war anders als der jetzt. Und der von 2023 war völlig anders. Wir passen uns schnell an – Drohnen, Robotersysteme, alles entwickelt sich rasant weiter. Länder, die sich nicht in diese Richtung entwickeln, riskieren, dass Russland seine Verteidigungskraft so weit ausbaut, bis sie sich nicht mehr verteidigen können.
Wir haben Russland viel beigebracht, weil wir einige Methoden als Erste angewendet haben. Wir sind gezwungen, innovativ zu sein, weil uns Russlands Ressourcen fehlen. Wir fragen uns ständig: Was können wir tun, wie können wir es tun, wie können wir gewinnen? Auch Russland lernt daraus.
Eine Rüstung aus Ruhe und Pflichtbewusstsein
Ich sitze mit den Marinesoldaten zusammen – Menschen, die ohne den Krieg ein normales Leben führen würden. Man spricht mit ihnen und erkennt, dass sie Dinge gesehen haben, die man sich nicht vorstellen kann. Und doch sind sie immer noch hier, bereit, morgen wieder in den Kampf zu ziehen – ohne Furcht oder Reue – wie moderne Ritter, gehüllt in eine Rüstung aus Ruhe und Pflichtbewusstsein.
Diese Horde von Orks
Unteroffizier Dratovany sagt: "Der Westen wird eine solche Katastrophe nicht allein bewältigen können. Wenn wir – das größte Land Europas – schon Mühe haben, diese Horde von Orks zurückzuhalten, dann wird kein einzelnes europäisches Land sie aufhalten können, wenn sie sich nicht verbünden." Auf dem Rückweg stoßen wir auf weitere zerrissene Drohnenabwehrnetze und frische Spuren der jüngsten Angriffe.
Eine kleine Hütte am Straßenrand mit einem handgeschriebenen Schild – "Hier gibt es Essen" steht darauf – erregt meine Aufmerksamkeit. Es gibt noch Leben nahe der Front – trotz aller Versuche, es auszulöschen. Und deswegen besteht Hoffnung.