Krieg belastet Ukrainer Wenn Kinder Tausende Stunden unter der Erde verbringen


Luftschutzräume sind für viele ukrainische Kinder ganz alltägliche Orte geworden.
(Foto: IMAGO/SNA)
Seit Kriegsbeginn haben ukrainische Kinder Tausende Stunden in Schutzkellern verbracht. Einige kommen zusammengerechnet auf bis zu sieben Monate unter der Erde. Gerade in solchen Situationen bräuchten junge Menschen Perspektiven, sagt UNICEF-Chef Schneider. Die 16-jährige Mariia gibt ihm recht.
Wer etwa sieben Stunden pro Nacht schläft, hat in den vergangenen zwei Jahren etwa 5000 Stunden im Bett verbracht. Genauso lang mussten manche ukrainischen Kinder und Jugendliche im selben Zeitraum wegen der russischen Angriffe in Luftschutzräumen ausharren, hat das Kinderhilfswerk UNICEF berechnet. Die Kinder spielen, lernen und schlafen unter der Erde, weil über ihnen Granaten und Bomben einzuschlagen drohen.
Besonders in Frontnähe findet derzeit ein großer Teil des Lebens junger Menschen in der Ukraine in Schutzkellern, Bunkern und U-Bahn-Stationen statt. Laut UNICEF saßen sie seit Russlands Überfall 3000 bis 5000 Stunden unter der Erde fest, was vier bis sieben Monaten entspricht.
Einer dieser jungen Menschen ist Mariia aus Krywyj Rih. Sie erzählt am Rande einer Pressekonferenz vom Kriegsbeginn: Für zwei Tage ging sie wieder normal zur Schule, der pandemiebedingte Fernunterricht war eben erst beendet, dann griff die russische Armee an. Wieder war Mariia in die Isolation verbannt. Nur, dass dieses Mal auch noch Bomben fielen.
Ein Freundeskreis über Europa zerstreut
Am einen Tag habe sie mit Freunden abgehangen, geraucht, über den anstehenden Mathetest geredet. Am nächsten Tag heulen die Sirenen, Raketen schlagen überall in der Ukraine ein, Menschen flüchten in die Luftschutzräume. Den Mathetest musste sie nicht schreiben, erzählt Mariia und lacht verstohlen.
Sie musste dafür in den folgenden Monaten erleben, wie nach und nach ihr gesamter Freundeskreis aus Krywyj Rih floh. Die Menschen, an denen sich gerade Jugendliche so stark orientieren, von denen sie Bestätigung suchen, mit denen sie so viele Erfahrungen machen - sie sind jetzt über Europa verteilt.
Mariia scheint die physische Abwesenheit weniger zu belasten. Sie gibt sich pragmatisch: Es sei doch mittlerweile recht einfach, Kontakt zu halten. Dennoch hätte sie die Situation anfangs oft traurig gemacht, sagt sie und streicht eine ihrer braunen Locken zur Seite: Die Gespräche mit ihren Freundinnen und Freunden kreisten plötzlich um Themen, zu denen Mariia keinen Zugang mehr hatte. Sie erzählten, wie schwer es ist, Spanisch zu lernen, wie anders das slowenische Schulsystem sei, wie das Essen in Deutschland schmeckt. Mariia sagt, sie habe das Gefühl gehabt, im Leben der anderen geschehe unheimlich viel, während sie in der Ukraine festsitze, wo die Straßen immer verlassener wurden.
"Die Ukraine braucht mehr als nur Waffen"
Aber Mariia erzählt auch von neuen Freundschaften, die sie geschlossen hat. Im Rahmen des UNICEF-Programms "Upshift" konnte sie ein eigenes Projekt starten und Gleichaltrigen helfen, die psychische Belastung zu meistern, die der Krieg bedeutet. "Die Menschen, die ich so kennengelernt habe, hätte ich ohne den Krieg nie getroffen", sagt sie.

In den sogenannten Spilno-Zentren können Kinder spielen - und werden psychologisch betreut.
(Foto: picture alliance / Photoshot)
Das "Upshift"-Programm erreiche in der Ukraine mehr als 10.000 Jugendliche, sagt der deutsche UNICEF-Chef Christian Schneider. "Upshift" erlaube ihnen auch in umkämpften Städten, eigene Projekte zu verwirklichen. Die Jugendlichen bekämen Trainings, etwa im Projektmanagement, und eine kleine Anschubfinanzierung. "Das hilft dann der Community, aber auch den Jugendlichen", sagt Schneider. Für viele sei es eine wichtige Erfahrung, zu sehen, "was sie alles auf die Straße bringen können."
"Damit die Ukraine stark bleiben kann, braucht sie mehr als nur Waffen", sagt Bundesentwicklungsministerin Svenja Schulze. Ihr Ministerium habe der UNICEF deshalb seit Ausbruch des Krieges in der Ukraine 130 Millionen Euro bereitgestellt. Schulze argumentiert, indem man Kindern und Jugendlichen helfe, stärke Deutschland die Widerstandskraft der Ukraine, mache das Land bereit für die Zeit nach dem Krieg: "Denn es ist diese Generation, die nach Schule und Ausbildung die Ukraine wiederaufbauen wird, als freies, europäisches Land." Die Ukrainerinnen und Ukrainer könnten sich auch hier auf Deutschlands Unterstützung verlassen, solange das nötig sei.
Raketenalarm ist für ukrainische Kinder "ganz normal"
Schulze erzählt vom Besuch in einem der sogenannten Spilno-Zentren der UNICEF: In einer ehemaligen Einkaufsstraße sei eine Art Spielplatz eingerichtet gewesen. Kinder, Eltern und Betreuer hätten dort friedlich ein Stück Alltag genossen. Ihr sei ein Konzept mit psychologischer Beratung angekündigt gewesen, weshalb sie nach Fachpersonal Ausschau gehalten habe, erinnert sich Schulze.
Die Betreuung aber fand vor ihren Augen statt, ohne Rezept und weißen Kittel. Niedrigschwellig und gewissermaßen nebenbei bauen die Mitarbeiter in den Spilno-Zentren Vertrauen auf und organisieren gegebenenfalls weitergehende Angebote.
Die scheinen dringend nötig zu sein. Auf die Frage, ob manche Kinder sich nicht wehren würden gegen den wiederkehrenden Abstieg in die Luftschutzräume, kann Mariia nur müde lächeln: "Für die Kinder in der Ukraine ist das ganz normal", sagt sie. Seit zehn Jahren befinde man sich im Krieg, seit zehn Jahren gebe es Übungen, bei denen Kinder lernten, mit Alarmsignalen umzugehen. "Ich kann mich noch daran erinnern, dass ich in der Grundschule solche Übungen hatte", sagt die 16-Jährige. Kinder gewöhnten sich einfach an alles. Auch sie müsse sich manchmal klarmachen, dass es eine Zeit vor dem Krieg gab.
Quelle: ntv.de