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Schwierige Frage vor Gericht Will oder kann sich KZ-Wachmann nicht erinnern?

Der Angeklagte Josef S. will während des Zweiten Weltkrieges in der Landwirtschaft tätig gewesen sein.

Der Angeklagte Josef S. will während des Zweiten Weltkrieges in der Landwirtschaft tätig gewesen sein.

(Foto: picture alliance/dpa)

Dreieinhalb Jahre soll er als Wachmann im Konzentrationslager Sachsenhausen gearbeitet und dabei Beihilfe zum Mord in 3518 Fällen geleistet haben: Josef S., 101 Jahre alt, wohnhaft in Brandenburg an der Havel. Ob das stimmt, kann das Landgericht Neuruppin bislang nicht klären. Denn der Angeklagte hat andere Erinnerungen. Oder nicht?

"Ich weiß ja gar nicht: Was ist die Frage?", fistelt Josef S. aufgeregt und lässt seinen normalerweise fest vor den Lippen - wie beim Schuldbekenntnis in der Kirche - verschränkten Händen freien Lauf. Der 101-Jährige gestikuliert wild umher, geradezu hilflos, so scheint es. Eine plötzliche Regung des Angeklagten, die Abwehr, Nervosität, Panik signalisiert: Ich bin doch unschuldig, was soll das, bitte tut mir nichts!

Dabei hatte der Vorsitzende Richter, Udo Lechtermann, Josef S. bloß gefragt, ob er noch eine Frage an den vernommenen Holocaust-Überlebenden Arie Waxman habe, bevor man diesen aus dem Zeugenstand entlasse. Josef S., der ansonsten recht fit wirkt und Gericht und Zuhörer mit einem klangvollen "Guten Morgen allerseits!" begrüßt hat, gibt vor, nicht zu verstehen.

Richter versucht direkte Ansprache

Bekommt oft keine Antwort von Josef S.: Vorsitzender Richter Udo Lechtermann.

Bekommt oft keine Antwort von Josef S.: Vorsitzender Richter Udo Lechtermann.

(Foto: picture alliance/dpa)

Also probiert es Lechtermann erneut: "Ich hatte Sie gefragt, Herr S., ob Sie noch eine Frage an den Herrn Waxman haben?" Wieder bekommt der Richter kein Ja oder Nein. Josef S. bestätigt zwar, dass er Lechtermann über seinen Kopfhörer hören kann, doch eine Antwort auf die gestellte Frage gibt er ihm nicht. Schließlich antwortet sein Verteidiger für ihn; Herr S. habe keine Frage mehr an Herrn Waxman.

Es sind Szenen wie diese in der öffentlichen Hauptverhandlung des Landgerichts Neuruppin, bei denen sich der Zuschauer fragt: Ist das echt oder ist das gespielt? Versteht Josef S. tatsächlich nicht oder tut er nur so? Und vor allem: Kann er sich wirklich nicht erinnern? Oder will er das nur nicht?

"Erinnerungen an eine falsche Situation passieren, im Alltag treten diese häufiger auf. Von außen ist es aber schwer zu sehen, ob eine solche falsche Erinnerung der Fall ist", sagt Bernd Meißnest. Ihn hat das Gericht als psychiatrischen Sachverständigen zum "Themenkreis Erinnerung/Verdrängung etc." geladen. Aber genau das will das Gericht klären: Kann Josef S. sich an seine dreieinhalbjährige Wachmanntätigkeit im Konzentrationslager Sachsenhausen in der Zeit des 23. Oktober 1941 bis zum 18. Februar 1945 erinnern?

Nebenkläger vermutet "bewusste Lüge"

Wenn ja, hätte der Angeklagte bislang vor Gericht "bewusst gelogen", wie es ein Vertreter der Nebenklage ausdrückt. Angeklagte dürften das, sie könnten straflos vor Gericht lügen, das wisse auch Herr S., so die Einlassung des Rechtsanwalts auf der Nebenklagebank. Seine Anwaltskollegen dort nicken und schauen erwartungsvoll zum Sachverständigen Meißnest - was dieser wohl dazu sagt?

Bernd Meißnest, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie am Klinikum Gütersloh, sagt nicht, ob Josef S. bewusst oder unbewusst lüge. Allerdings gibt er zu bedenken: "Das habe ich so noch nicht erlebt und auch in der Literatur nicht gesehen, dass ein so langer Zeitraum zur falschen Erinnerung wurde." Was nichts anderes heißt, als: Aus medizinischer Sicht ist es unerklärlich, dass sich Josef S. nicht daran erinnern kann, dreieinhalb Jahre Wachdienst in dem KZ nördlich von Berlin geleistet zu haben.

Der Verteidiger von Josef S., Stefan Waterkamp, fragt daraufhin, ob sich ein so langer Zeitraum falscher Erinnerung dadurch erklären lasse, dass Herr S. unmittelbar nach der die das Gericht interessierenden Zeit ein Jahr lang in sowjetischer Kriegsgefangenschaft war. Er nimmt damit Bezug auf eine frühere Ausführung des psychiatrischen Gutachters, wonach "negativer Stress" dazu führe, dass sich die falsche Erinnerung verfestigt.

Nach bisherigem Erkenntnisstand ist Josef S. sozusagen von einem Lager direkt in das andere Lager gekommen. Die Erfahrungen im Konzentrationslager Sachsenhausen hätten dadurch vom Angeklagten gar nicht richtig verarbeitet werden können.

Das Verarbeiten von Erinnerungen heißt bei Meißnest "konsolidieren". Und, in der Tat, je nachdem in welchem "Milieu" jemand sich befindet, würden "bestimmte Dinge verändert abgerufen werden - bis zur Unkenntlichkeit", sagt der Sachverständige.

Erklärung in der Biografie des Angeklagten?

Bei Josef S. komme hinzu, führt Verteidiger Waterkamp weiter aus, dass sein Mandant nach der sowjetischen Kriegsgefangenschaft in der DDR lebte und arbeitete. Einem Staat, indem Josef S. permanent eingeredet wurde: Wir waren doch alle Antifaschisten, überzeugte Nazi-Gegner.

Die Verhandlung findet in einer Turnhalle statt. Auf der Bank neben dem Angeklagten sitzen ein Ersatzrichter und zwei Ersatzschöffinnen.

Die Verhandlung findet in einer Turnhalle statt. Auf der Bank neben dem Angeklagten sitzen ein Ersatzrichter und zwei Ersatzschöffinnen.

(Foto: Stahl)

Das hieße, dass Josef S. von Juni 1946 an - als er von den Sowjets freigelassen wurde - über Jahrzehnte hinweg seine echten Erinnerungen nicht mehr abruft und sich dadurch die falschen Erinnerungen bei ihm immer mehr verfestigen konnten.

"Eine gute Ehe, Kinder, Erfolg im Beruf - das reicht aus, dass man sagen kann: 'War doch alles ganz in Ordnung'", erläutert Gerentopsychiater Meißnest, der für das Gericht auch Josef S. auf seine Verhandlungsfähigkeit untersucht und sie grundsätzlich bejaht hat. Meißnest betont allerdings, dass derlei Theorien "rein hypothetisch" sind.

Weil das alles so "hypothetisch" ist und ein Geständnis von Josef S. bisher nicht erfolgt, lädt das Gericht Sachverständigen um Sachverständigen vor. Vom Historiker Stefan Hördler, der Josef S. auf Basis überlieferter Mannschaftslisten die Mitgliedschaft bei der SS in Sachsenhausen nachwies, über die Anthropologin Katharina Funk - sie konnte via Gesichtsmerkmalsabgleich beweisen, dass ein Foto aus dem Jahr 1941 den heute 101-jährigen Angeklagten zeigt, - bis zum Psychiater Meißnest, der eben nicht bestätigen konnte, dass dreieinhalb Jahre Wachmanntätigkeit vergessen werden können.

In der Hoffnung, auf diese Weise ausreichend Beweismaterial anzusammeln, ein solides Fundament zu bauen, auf dem eine den Josef S. vorgeworfenen Taten angemessene Verurteilung erfolgen kann. Eine strafrechtliche Verurteilung für, entsprechend der Anklageschrift, Beihilfe zum Mord in 3518 Fällen.

Bedeutender Zeuge stirbt vier Tage vor Vernehmung

Jeder Experte kann auf seinem Fachgebiet ein bisschen etwas zur Belastung von Josef S. beitragen, doch ob das reicht, ist nicht hundertprozentig sicher. Auch, weil ein bedeutender (Zeit-)Zeuge nicht mehr aussagen hat können. Der ehemalige Sachsenhausen-Häftling Leon Schwarzbaum starb am Montag - vier Tage vor dem Termin seiner Zeugenvernehmung. Im Alter von 101 Jahren, genauso alt wie der Angeklagte.

"Ich appelliere an Sie, Ihre Leugnungen und Verdrängungen aufzugeben, noch ist der Prozess nicht zu Ende." Dies wären die Worte gewesen, mit denen Schwarzbaum Josef S. zu einem Geständnis hatte bringen wollen. Rechtsanwalt Thomas Walther, Schwarzbaums Zeugenstandbegleitung, verliest sie postum in der Verhandlung am Freitag.

Zeugenstandbegleitung und nicht Nebenklageanwalt deswegen, weil der Holocaust-Überlebende Schwarzbaum in dem Verfahren nicht als Nebenkläger zugelassen worden war. Denn: Wenige Wochen, bevor Schwarzbaum 1945 in das Lager Sachsenhausen kam, ist Josef S. laut Anklage an die Front versetzt worden. Soll heißen, die beiden waren nicht zur selben Zeit in dem KZ, Schwarzbaum und Josef S. sind sich damals nicht begegnet. Nun haben sich die beiden Überlebenden erneut verpasst.

"Manchmal dachten wir, dass er (Schwarzbaum) nur wegen dieser Aussage noch lebt", sagt Rechtsanwalt Walther dem Spiegel. Das klingt extrem tragisch. Wie auch sonst vieles in dieser Gerichtsverhandlung, die in einer Turnhalle in Brandenburg an der Havel stattfindet. Die Stadt ist der Wohnort des Angeklagten; die Verhandlung wurde dahin verlegt, damit es Josef S. leichter hat, teilzunehmen.

Das unermessliche Leid der Zeugen

Während der Angeklagte gelassen auf seinem Drehstuhl nach links und rechts schwenkt, berichten von großen Bildschirmen an der Turnhallendecke die Zeugen: der 91-jährige Arie Waxman, der beinahe-100-jährige Marcel Suillerot und die 93-jährige Rose-Marie Commentale, die am Beatmungsschlauch hängt. Wie sie Hundeessen aus Zwingern klauten, um nicht zu verhungern. Oder wie furchtbar die Ungewissheit war - nein, bis heute sei, nicht zu wissen, wo der eigene Vater beerdigt ist, und ob überhaupt.

Der Holocaust-Überlebende Arie Waxman wird per Videozuschaltung aus Israel vernommen.

Der Holocaust-Überlebende Arie Waxman wird per Videozuschaltung aus Israel vernommen.

(Foto: Stahl)

Vor diesem Hintergrund klingen Richter Udo Lechtermanns Fragen an die Zeugen mitunter derart absurd und von der Art 'Das-ist-jetzt-nicht-Ihr-Ernst!?', dass sie Grinsen oder gar Lacher bei den Vernommenen hervorrufen: "Gab es im Lager genug Essen oder hatten Sie Hunger?" "Sind da auch Leute erfroren?" "Wie waren die Zustände in Sachsenhausen, war es dort sauber?"

Die hochbetagten Zeugen antworten dem Richter unverblümt offen, manchmal fast zynisch: "Essen war wenig, wenn überhaupt." "Natürlich sind da auch welche erfroren." "Sauber war's da schon, wir mussten es ja saubermachen." - Mancher Dialog ist geradezu theaterstückreif:

Richter zum Holocaustüberlebenden: "Haben Sie selbst Misshandlungen erlebt?"

Holocaustüberlebender: "Misshandlung, was heißt das schon? Ist das keine Misshandlung, nachts nackt auf dem Feld übernachten zu müssen?"

Richter: "Ja, doch, das ist eine Misshandlung. Da haben Sie recht."

Rundumversorgung für den Angeklagten

Josef S. verfolgt all das weitgehend unbewegt. Zwei, maximal zweieinhalb Stunden pro Verhandlungstag muss er sich anhören, was die Menschen im "Saal" und auf den Bildschirmen aussagen. Länger gilt er gemäß des medizinischen Gutachtens von Bernd Meißnest nicht als verhandlungsfähig.

Danach bekommt Josef S. von einem der Sanitäter eine Maske aufgesetzt, den Rollator hingeschoben und man geleitet ihn nach draußen. Dort steht der Krankentransportwagen, mit dem Josef S. zurückgebracht wird in sein Haus in einer Eigenheimsiedlung, nicht weit weg vom Verhandlungsort.

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Die Turnhalle in Brandenburg an der Havel hat die Adresse Max-Josef-Metzger-Straße 41. Max Josef Metzger, das war einer von wenigen NS-Widerstandskämpfern. Er wurde 1943 zum Tode verurteilt und nach sechs Monaten hingerichtet. Etwa genauso lange steht Josef S. nun schon vor Gericht.

Dass Josef S. am Ende in das Gefängnis muss, ist unwahrscheinlich, wie das Beispiel Oskar Gröning zeigt, doch ist es theoretisch möglich. In dem Fall hätte der 101-Jährige es nicht weit - die JVA Brandenburg an der Havel läge gleich gegenüber, in der Anton Saefkow-Allee. Anton Saefkow war ebenfalls NS-Widerstandskämpfer: Todesurteil am 5. September 1944, hingerichtet am 18.

Quelle: ntv.de

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