Chef-Nazijäger im Interview "Machen einfach unsere Arbeit"
19.03.2022, 17:48 Uhr
		                      Er leitet die "Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen" im baden-württembergischen Ludwigsburg: Oberstaatsanwalt Thomas Will.
(Foto: picture alliance/dpa)
Die Zentrale Stelle Ludwigsburg spürt die Mörder und tausendfachen Beihelfer zum Mord während der Nazizeit auf und stellt sie vor Gericht. Auch noch mit 100 Jahren, wie aktuell im Falle des Josef S., dem mutmaßlichen KZ-Wachmann in Sachsenhausen. Behördenleiter Thomas Will berichtet von der Jagd nach den Alt-Nazis. Es ist eine Jagd, bei der die Jäger selbst Gejagte sind.
ntv.de: Herr Oberstaatsanwalt, im Rahmen einer Dienstreise nach Moskau konnte Ihre Behörde im dortigen Militärarchiv den derzeit vor dem Landgericht Neuruppin angeklagten Josef S. ausfindig machen. Wie sind Sie dabei vorgegangen?
Thomas Will: In den letzten Jahren haben wir in Russland unsere Suche nach Personal von Konzentrationslagern stark intensiviert, auch weil sich dort im Militärarchiv beispielsweise sogenannte Beuteunterlagen befinden. Ein Wort, das mir nicht gefällt, aber so wurden die Dokumente früher bezeichnet, Unterlagen, die die Rote Armee mit in die Sowjetunion genommen hat. In der Herangehensweise haben wir nicht nach bestimmten Personen gesucht, sondern nach Personen, die in Konzentrationslagern eingesetzt waren. Zu denen hat der jetzt Angeklagte gehört.
Aber konnten Sie denn sicher sein, dass es sich um die richtige Person handelt?
Zum Angeklagten kann ich Ihnen wegen des laufenden Strafverfahrens nichts sagen. Bei personenbezogenen Hinweisen kommt es generell darauf an, ob wir Geburtsdaten haben. Falls ja, beispielsweise einen Geburtsort in Deutschland, wenden wir uns zunächst an das dortige Standesamt und stellen fest, ob diejenige oder derjenige noch lebt. Ist dies der Fall, stellen wir weitere Ermittlungen an, zum Beispiel bei den Abteilungen des Bundesarchivs in Berlin. Wir schauen auch nach Hinweisen auf spätere Wohnorte. Das sind so typische Ermittlungsansätze, bis wir jemanden festgestellt haben.
Ist es ein Problem, wenn die Leute schon in den 1920er-Jahren geboren sind, weil dann auch die entsprechenden Daten in den Standesämtern oftmals lückenhaft sind?
Wenn alles so läuft, wie es soll, verfügt das Geburtsstandesamt über weitere Informationen, wie zu einer Eheschließung oder zur Geburt eines Kindes. Da ist vermerkt, beim Geburtsstandesamt Wuppertal beispielsweise: "geheiratet in Bremen am soundsovielten". Das gäbe dann einen Hinweis zu einem etwaigen Wohnort. Oder es ist ein Sterbevermerk eingetragen, auch wenn die Person dort vielleicht nicht mehr gelebt hat. Das ist eine sehr langwierige und komplexe Suche. Wir haben auch sehr viele Personen in unseren Konzentrationslager-Ermittlungen trotz vieler Bemühungen bislang nicht ausfindig machen können.
- besteht seit 1. Dezember 1958
 - insgesamt 7694 Vorermittlungen geführt (Stand 1. Januar 2022)
 - 2021 acht Verfahren eingeleitet - in 2022 bislang zwei
 - neun abgegebene Verfahren bei den Staatsanwaltschaften, fünf zu Konzentrations- und vier zu Kriegsgefangenlagern
 - zwei Verhandlungen vor Gerichten: der "Stutthof-Prozess" gegen die KZ-Sekretärin Irmgard F. in Itzehoe und der "Sachsenhausen-Prozess" gegen den mutmaßlichen KZ-Wachmann Josef S. in Brandenburg an der Havel
 - drei erreichte Verurteilungen ehemaliger SS-Wachmänner in Konzentrationslagern vor deutschen Schwurgerichten seit 2015, zuletzt 2020 in Hamburg
 - mehr als 1,75 Millionen Karteikarten in ihrer Zentralkartei, darauf die Namen von über 700000 Beschuldigten oder Zeugen und fast 28000 Tatorten vom Atlantik bis zum Kaukasus
 
Das glaube ich Ihnen sofort. Da ist wahrscheinlich noch viel Arbeit …
Ja, auch mit Ergebnissen, die nicht befriedigend sind, weil wir manche eben, wenn sie vielleicht ausgewandert sind, nicht mehr finden können.
In Russland generell - ist die Quellenlage da relativ gut, weil Materialien bis zur Öffnung der Archive im Zuge von Glasnost Anfang der 1990er-Jahre lange weggesperrt waren, oder ist es dort so wie in jedem anderen Land auch?
Das kommt darauf an. Man darf natürlich die Situation der letzten Jahre insoweit nicht mit der aktuell gegenwärtigen internationalen Krise vergleichen. Den Hinweis auf den heute zum Landgericht Neuruppin Angeklagten haben wir 2018 gefunden. Wir haben viele Dienstreisen unternommen, unter verschiedenen Gesichtspunkten, in verschiedene Archive. Es kommt immer darauf an, was man sucht. Es sind auch immer wieder Originaldokumente deutscher Herkunft auffindbar. Da kommt es dann auch auf den Fokus an. Die Zugänglichkeit im russischen Militärarchiv oder auch im Staatsarchiv war immer sehr gut.
Wenn es um solche KZ-Wachmannprozesse geht, was genau ist da Ihr Fokus?
Erst einmal haben wir die Personen namentlich festzustellen, die im Einsatz waren, speziell in Lagern. Dann folgt der nächste Schritt, möglichst viele Daten zu diesen zu bekommen, damit man sie überhaupt erst identifizieren und ihr Nachkriegsschicksal klären kann, ob sie verstorben sind oder noch leben. Wenn jemand noch lebt, versuchen wir, aus möglichst vielen Quellen Hinweise zu bekommen, wann beispielsweise ein Einsatz in einem Lager begonnen hat und wie lange der angedauert hat. Aufgrund dessen müssen wir dann feststellen, was in diesem Zeitraum, in dem der- oder diejenige Dienst geleistet, sich im Lager konkret an systematischen Morden ereignet hat.
Muss in den Archivalien die Person namentlich genannt sein, zu der recherchiert wird? Oder lassen sich auch generelle Schlüsse treffen, nach dem Motto: Wenn diese Person in dieser Wachmannschaft war, dann war sie auch an dem und dem Verbrechen beteiligt?
Ganz überwiegend haben wir dort keine konkreten Namen. Wir können uns jedoch über die Einsatzstrukturen den wichtigen Feststellungen nähern. So gab es kompanieweise rotierende Dienste. Wir wissen zum Beispiel, dass in Konzentrationslagern abwechselnde Schichten geleistet worden sind und auch, welche dies waren: sei es auf den Wachtürmen oder in den großen und kleinen Postenketten. Hieraus können wir allgemein schlussfolgern, aber eben nicht für einzelne konkrete Personen, das geht nicht.
Führen Sie auch Vernehmungen durch, wenn es noch Zeugen gibt? Also befragen Sie Menschen auch persönlich, wie man es aus der normalen kriminalpolizeilichen Arbeit kennt?
Wir sind als Vorermittlungsbehörde grundsätzlich nicht mit Vernehmungen, insbesondere nicht potenzieller Beschuldigter, befasst. Auch im Bereich der Zeugenvernehmungen ist dies grundsätzlich der zuständigen Staatsanwaltschaft überlassen.
Und das, was die Staatsanwaltschaft herausfindet, kommt dann in die Akte hinein, die der späteren Hauptverhandlung zugrunde liegt, richtig?
  Wills Behörde verfügt über ein umfangreiches Archiv zur Zeit des Nationalsozialismus.
(Foto: picture alliance/dpa)
Was wir zusammentragen, geht erst einmal an die Staatsanwaltschaft und ist Ausgangspunkt der Ermittlungsakte. Was dann dort noch dazukommt, seien es Vernehmungen, Durchsuchungsunterlagen, Material zu sonstigen Ermittlungsschritten oder auch gutachterlichen Feststellungen, etwa zur Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten, das kommt dann in die Ermittlungsakte, die mit der Anklage dem Gericht vorgelegt wird.
In der aktuellen Hauptverhandlung in der Strafsache Josef S. hat der Richter aus der von Ihnen angesprochenen "Verhandlungsakte" zitiert, als sich der vernommene Zeuge nicht mehr erinnern konnte.
Das nennt man einen Vorhalt aus der Akte, um die Erinnerung aufzufrischen, und ist nicht ungewöhnlich, gerade bei weiter oder sehr weit zurückliegenden Geschehnissen wie bei NS-Verbrechen. Dann sind das natürlich schon Erinnerungshilfen.
Stichwort Zeuge: Haben Sie einen Überblick, wie viele Zeugen es noch gäbe, aus dem Lager Sachsenhausen zum Beispiel?
Das kann ich Ihnen nicht sagen, dazu haben wir keine Daten, und das lässt sich ja kaum feststellen. Nebenkläger oder Zeugen ergeben sich auch im Rahmen des staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens. Insoweit gibt es auch Verbände und Interessenvertretungen, die Kontakte vermitteln.
Sind Sie an der Zeugensuche auch beteiligt?
Natürlich haben wir im Vorfeld auch einen Anteil, weil wir in unserem Archiv auch zahlreiche Informationen zu Opfern und sonstigen Zeugen haben. Wir fügen gegebenenfalls Vernehmungen, wenn wir sie für wichtig halten, den Vorermittlungen bei. Unsere Abgaben umfassen ja nicht nur ein paar Blatt, sondern schon 70, 80 oder noch mehr Seiten, mit Anlagen. Dann können noch Zeugen im weiteren Verlauf von der Verteidigung oder der Anklage benannt werden.
Wenn Sie Ihre Arbeit zusammenfassend betrachten - ist diese in etwa vergleichbar mit der von ZERV, also der Sonderermittlungsbehörde, die in den 1990ern die DDR-Verbrechen juristisch aufarbeitete?
Das kann ich Ihnen so direkt nicht bestätigen. Wir haben zunächst schon einmal einen wesentlich größeren Zeitabstand zwischen den Taten und der jetzigen Strafverfolgung, als es bei ZERV der Fall war. Wir beschäftigen uns seit Jahrzehnten ausschließlich mit Mord, während die ZERV auch zu vielen anderen strafrechtlichen Tatbeständen zu ermitteln hatte, wie Untreue, Betrug und Körperverletzungen.
Aber Sie stehen ja schon vor den gleichen Problemen: Identitätswechsel, Verjährung …
Das ja, denn Verjährung ist bei uns natürlich ein Thema. Da geht es oft um die Unterscheidung zwischen unverjährbarem Mord und Totschlag, der verjährt ist. Und auch zahlreiche Personen haben zum Ende des Krieges hin und danach eine andere Identität angenommen und haben unter ihren Aliasidentitäten auch teilweise das Land verlassen. Das waren häufig ältere Jahrgänge, die heute nicht mehr leben und die aufgrund ihrer Dienstränge oder Funktionen im Vernichtungsgeschehen unter größerem Verfolgungsdruck standen als die Gehilfen, die heute vor Gericht stehen.
Was würden Sie sich wünschen, damit Sie noch so viele NS-Täter wie möglich vor deren Wegsterben einer Strafe zuführen könnten?
Wünschen würde ich mir, dass die Ermittlungsmöglichkeiten in Russland sich wieder öffnen, wobei wir dort andererseits in den letzten Jahren schon sehr viel recherchiert haben. Wünschen würde ich mir auch, dass bislang nicht bekannte Dokumente, zum Beispiel aus Nachlässen, wo auch immer, an die Öffentlichkeit kommen. Ansonsten machen wir einfach unsere Arbeit.
Mit Thomas Will sprach Michael Stahl
Quelle: ntv.de