Aus der Schmoll-EckeZeit für Urlaub in einem brasilianischen Slum
Aus der Schmoll-Ecke
Politiker sollen ehrlich sein, nicht immer nur taktieren und schönreden. Sagen sie, was sie denken, passt es auch wieder nicht. Die Brasilianer sind da wie wir, wie gerade zu beobachten ist: Sie verstehen keinen Spaß, wenn man die Realität beschreibt. Dann kommen sie mit Nazi-Vergleichen.
Es war einmal ein wunderbares Land, in dem Königin Angela die Unfehlbare herrschte. Eines Tages erzählte sie von Menschen, die aus der arabischen Welt zu uns kamen und damals noch "Flüchtlinge" hießen, ehe Progressive den Begriff "Geflüchtete" erfanden, damit das wunderbare Land noch wunderbarer werde: "Ich habe sie gefragt. Wer von euch würde denn gerne hierbleiben? Da haben alle die Hand gehoben. Die waren alle froh, dass sie vor allem aus diesem Ort, wo sie da waren, in unser wunderbares Land gekommen sind."
Das Volk jubelte. Die Königin versprach, "wir schaffen das", sagte aber nie, wer "wir" sind, weil sie davon ausging, dass sie – "wir sind das Volk" – für alle sprach. Das störte niemanden. Sie erhielt Doktorehrenwürden in aller Welt, blendete tapfer die Folgen ihrer Politik aus, schrieb ein Buch und ließ sich erneut feiern. Und weil sie nicht gestorben ist, würden viele Untertanen sie gerne wieder zur Königin machen. Denn sie ist eine Garantin dafür, dass sich nichts ändern muss, auch wenn sich die Welt um das wunderbare Land herum rasant verändert. Wir schaffen das auch so. Ohne Atomkraft. Nur mit russischem Gas.
Doch das ist ein bekanntes Märchen. Die Realität sieht anders aus. Schuld ist der neue König. Friedrich der große ... Plauderer. Auch "Kanzler" oder "Merz" genannt. Er war zu Gast in der brasilianischen Amazonasstadt Belém, in der mal wieder eine Konferenz beriet, wie die Welt vor dem Untergang bewahrt werden kann, was umso seltsamer wirkt, weil jeder spürt, dass da nichts mehr zu machen ist mit all den irren Greisen an der Macht, die keinen Respekt vor der Schöpfung und ihren Kreaturen haben.
Oh Schreck, Weltuntergang!
Aber das ist egal. Denn auf der Weltklimakonferenz ist viel Schlimmeres passiert. Der Merz sagte nach seiner Rückkehr in der Hauptstadt des wunderbaren Landes: "Ich habe einige Journalisten, die mit mir in Brasilien waren, letzte Woche gefragt: Wer von euch würde denn gerne hierbleiben? Da hat keiner die Hand gehoben. Die waren alle froh, dass wir vor allem aus diesem Ort, wo wir da waren, wieder ins wunderbare Land zurückgekehrt sind."
Oh Schreck. Weltuntergang! Noch vor dem Klimakollaps. Ausgelöst vom Kanzler. Statt alle Brasilianer für ihre neue umweltgerechte Autobahn durch den Dschungel, ihre Schonung der Regenwälder, ihren ökologisch sanften Goldabbau und die Verbrechensbekämpfung in den Slums zu loben, tadelt der Merz das Stadtbild von Belém mit seinen fröhlichen Favelas und fantastischen öffentlichen Verkehrsmitteln. Na gut, er gibt dem Fonds zum Schutz des Regenwalds eine Milliarde Euro an Steuergeldern aus dem wunderbaren Land. Da freuen wir uns alle. Die Kohle ist gut angelegt. Brasilien steht laut dem Korruptionsindex von Transparency International auf Platz 107 von 180 Ländern und lässt damit souverän Staaten wie die Türkei, Russland, Afghanistan und Nordkorea hinter sich.
Was wirklich wichtig ist
Brasiliens Staatschef Luiz Inácio Lula da Silva ist erfreut. Der ist Linkspopulist und Putin-Fan. Linkspopulisten fallen im wunderbaren Land nicht unangenehm auf, die medialen Augen sind auf die Rechtspopulisten gerichtet, weil die den Klimawandel leugnen. Das bekommt der Merz zu spüren. Den halten Progressive gleichermaßen für einen Rechtspopulisten, obwohl er den Klimawandel nicht leugnet. Neulich haben rund drei Dutzend Progressive einen Saal verlassen, weil der Kanzler reden wollte. Wahrscheinlich hatten sie Angst, dass er wieder was sagt, was die Medien tagelang beschäftigt – sie wollten nicht Zeuge dieses Rummels werden. Das kann ich verstehen. Es gibt wichtigere Dinge zu erledigen. Ich zum Beispiel muss diese Kolumne beenden und dann zum Supermarkt.
Kein Scherz. Ich scherze nicht. Ich bin ein ernster Bewohner des wunderbaren Landes. Die Brasilianer sind wie wir, kein Wunder, dass beide Nationen Karneval feiern: Sie verstehen überhaupt keinen Spaß, wenn man die Realität beschreibt. Der Bürgermeister von Rio de Janeiro beschimpfte Merz als "Nazi" und "Hitlers Vagabunden-Sohn". Wer die Schönheit von Belém nicht preist, ist fähig, KZs einzurichten und Massenmord zu begehen – armes Brasilien, wenn es auch dort Politiker gibt, die dem Wahnsinn verfallen sind. Aber warum sollte das Land davon verschont sein? Es ist wie jedes andere. Nur krimineller als zum Beispiel das wunderbare Land.
Favela klingt netter als Slum
Die Sicherheitswarnungen des Auswärtigen Amtes für Brasilien sind fast so dick wie die Bibel. "Die Kriminalitätsrate und die Gefahr, Opfer eines Raubüberfalls oder eines anderen Gewaltverbrechens zu werden, sind in Brasilien hoch, besonders in den Großstädten wie Belém, Fortaleza, Maceio, Porto Alegre, Recife, Rio de Janeiro, Salvador, São Luiz und São Paulo." Die Anreihung ist nicht auf Befehl des Kanzlers erfolgt, sondern alphabetisch. "Die Favelas von Rio de Janeiro waren zuletzt immer wieder von Gewaltakten, z. T. mit Todesfolge betroffen", hieß es da. (Favelas klingt übrigens netter als Slums.) Oder auch: "Täter sind häufig bewaffnet und stehen oft unter Drogeneinfluss, sodass vor dem Gebrauch von Waffen, auch aus nichtigem Grund, nicht zurückgeschreckt wird." Und: "Zur Hauptverkehrszeit kommt es in überfüllten Bussen und Zügen häufiger zu Taschendiebstählen."
Davon sind der Görlitzer Park und sonstige Hotspots der Kriminalität im wunderbaren Land noch ein Stück entfernt. Trotzdem sollte der Kanzler - wie die meisten Brasilianer ein Katholik - zur Wiedergutmachung vom Flughafen in Rio auf allen vieren zur Christusstatue pilgern und Abbitte leisten sowie alle Brasilianer ins Sauerland zum gemeinsamen Gebet einladen und westfälischen Frieden schließen. Religion verbindet bekanntlich. Wir alle können was tun, Urlaub in den Favelas machen. So ein Slum-Besuch dient der Demut, sich vor Augen zu führen, wie wunderbar es im wunderbaren Land ist. (Besser nichts dazu öffentlich sagen, sonst kommen wieder Nazi- und Hitler-Vergleiche.)
Berlin - oder in den Slums von Belém
Schön wäre auch eine Städtepartnerschaft zwischen Belém und Berlin – zwei Orte, die mit B anfangen. Das eint. Sozialarbeiter aus Neukölln schauen sich um, was ihre Kollegen in den Slums von Belém tun, ob das nächtliche Stadtbild okay ist, und erklären, dass an den Favelas zwar die europäischen Kolonialisten Schuld haben, aber es die Portugiesen und Spanier waren, nicht wir Einwohner des wunderbaren Landes. Das kommt sicher an und heilt alle Wunden, die der Merz aufgerissen hat.
Umweltschützer aus Belém besuchen dafür Berlin und bestaunen, wie Wiederaufforstung geht. Die Zahl der Straßenbäume bis 2040 soll von momentan 440.000 in der Hauptstadt des wunderbaren Landes auf eine Million erhöht und damit mehr als verdoppelt werden. Kostet samt Erneuerung der Infrastruktur, um Regenwasser im Boden zu speichern, auch nur ein oder zwei Milliarden Euro. Alles kein Problem, wozu gibt es das Sondervermögen.
Gut, die Städtepartnerschaft führt zu erhöhtem Flugverkehr. Aber einen Tod müssen wir nun mal sterben. Das gilt leider auch für mich. Doch wenn schon, dann möchte ich im wunderbaren Land den letzten Atemzug genießen – so fantastisch Belém auch sein mag.