
Im Mai 2022 erstrahlte dass Brandenburger Tor in blau-gelb, den Farben der Ukraine.
(Foto: picture alliance / Geisler-Fotopress)
Kurz nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine prägte Kanzler Scholz das Wort von der Zeitenwende. Die betrifft weit mehr als das Sondervermögen für die Bundeswehr. Es geht um das Ende eines Lebensgefühls.
Wer heute, Ende Februar 2023, auf die vergangenen Jahre zurückblickt, könnte fast nostalgisch werden. Gut, da denkt man natürlich gleich an die Pandemie, und selbstverständlich sind wir alle froh, dass sie ausgestanden ist. Aber selbst diese globale Mega-Krise barg ein Moment der Hoffnung in sich. Immerhin stand die Menschheit nicht gegeneinander, sondern (weitgehend) zusammen. Natürlich lief nicht alles gut, aber es wurde nie Dagewesenes vollbracht. In weniger als einem Jahr wurden Impfstoffe entwickelt, die noch Schlimmeres verhinderten. Und zumindest am Anfang freuten sich viele Deutsche über die unaufgeregte Art Angela Merkels, das Land durch diese schwierige Zeit zu führen.
In den 16 Merkel-Jahren lebten die Deutschen in einer heute fast kurios anmutenden Welt voller Kuschel-Illusionen. Im Rückblick sticht dabei der Glaube daran hervor, dass man Russlands Präsidenten Wladimir Putin nur die Hand reichen müsse, dass er mit Zugeständnissen zu beschwichtigen sei. Dass die Pipeline Nord Stream 2 auch nach der Annexion der Krim den meisten als gute Idee erschien. Dass die Europäer östlich der Oder übertrieben, wenn sie ein ums andere Mal vor dem Mann im Kreml warnten. Vor dem Revanchismus eines Mannes, der den Untergang der Sowjetunion als die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts bezeichnet hatte. Und die Amerikaner, diese Cowboys, die immer gleich Waffen liefern wollten? Härte einforderten? Die verstanden doch Europa gar nicht. Dachte man.
Abhängigkeit von Putin? Bloß nicht den Teufel an die Wand malen. Selbst die Sowjetunion habe immer pünktlich das Gas geliefert, hieß es aus der Wirtschaft, aus der SPD, von fast überall. Putin brauche uns doch auch, hieß es. Der brauche doch die Einnahmen. Dass der Fall eintreten könnte, dass wir kein russisches Öl und Gas mehr haben wollen, schien jenseits der Vorstellungskraft. Günstige Rohstoffe, das war es doch, was der Wirtschaftsstandort brauchte. Das sicherte Arbeitsplätze bei uns, es ging hier schließlich um Wettbewerbsfähigkeit. Die Chinesen schlafen ja nicht.
Was ist, wenn sie Taiwan angreifen?
Das Prinzip "Wandel durch Handel" verstaubt mittlerweile in der Schublade und dürfte dort erstmal bleiben. Dieses Wochenende reist Kanzler Olaf Scholz nach Indien, um die deutsche Abhängigkeit von China zu verringern, wo Volkswagen, BASF und die anderen Schwergewichte aus Deutschland so massiv investiert haben, dass einem schwindelig werden könnte. In Japan war er auch schon, die Bande in andere fernöstliche Länder sollen wieder stärker werden. Vor allem mit jenen, die auch demokratisch sind. Das ist jetzt wieder wichtiger, in dieser neuen Welt.
Denn mittlerweile hat die Bundesregierung festgestellt, dass China mehr ist als ein Paradies für deutsche Exporte. Das Land betreibt selbst harte Interessenpolitik. Was ist, wenn die Chinesen Taiwan angreifen sollten? Rational wäre das zwar nicht. Aber ist Rationalität noch das Maß aller Dinge? Vor allem bei einem chinesischen Staatsoberhaupt, das unumschränkte Macht genießt, erst vor kurzem einen seiner Vorgänger vor der Weltpresse aus dem Parteitagssaal entfernen ließ?
Was für Putin gilt, scheint auch für Xi zu gelten. Wohl niemand aus seiner Entourage vermag ihn aufzuhalten. Sind wir von China nicht fast genauso abhängig wie einst von Russland? Bei den Schutzmasken während der Pandemie hat es jeder gesehen. Aber es geht um viel mehr, um Elektronik, Mikrochips, Medikamente. Jetzt heißt es erstmal Daumen drücken, dass Xi es bei einer wohlwollenden Neutralität (zugunsten Russlands) belässt. Und keine Waffen liefert.
Merkel nicht an allem Schuld
Es erscheint heute fast kurios, mit welch hohem Ansehen Angela Merkel aus dem Amt schied. Es ist nicht so, dass sie nicht alle Hände voll zu tun gehabt hätte, eine Krise nach der anderen zu lösen. Finanzkrise, Eurokrise, Flüchtlingskrise und zahllose kleine Katastrophen, die wir schon wieder verdrängt haben. Sowieso ist es leicht, mit dem Wissen von heute Urteile zu fällen. Wer die Kanzlerin kritisiert, muss nicht nur große Teile der Parteienlandschaft und ja, auch der Medien, einschließen, sondern auch große Teile der Gesellschaft. Wer wäre denn 2014, nach der illegalen Annexion der Krim, bereit gewesen, mit solchen Brutal-Sanktionen zu antworten, wie sie seit Ende Februar 2022 gelten? Und doch ist Merkels Ukraine-Politik gescheitert, steht sie unter Rechtfertigungsdruck.
Das Gleiche gilt für das ständige Hofieren Chinas. Natürlich war das der wichtigste neue Absatzmarkt. Dort lockte das, worauf die Unternehmer und Manager wild sind: Wachstum. Aber es wäre genauso billig, der Wirtschaft den Schwarzen Peter zuzuschieben. Zu sagen, dass sie sich zu sehr auf das Reich der Mitte gestürzt habe. Denn Wachstum, das ist die Basis des Wohlstandes. Wachstum bedeutet Arbeitsplätze, Steuereinnahmen und damit Schwimmbäder und Büchereien in der eigenen Nachbarschaft.
Was wir uns da für eine Weltsicht leisten konnten - auch mit Blick auf die Bundeswehr. Dass die in miesem Zustand war, wussten alle. Aber Wahlen konnte man mit dem Thema nicht gewinnen. Kam die Sprache auf seine Soldatinnen und Soldaten, zuckte das Land fast geschlossen mit den Schultern. Dass man die Truppe noch für etwas anderes als Auslandseinsätze in Afghanistan oder in anderen fernen Ländern brauchen würde, lag außerhalb der Vorstellungskraft. Mit Krieg hatte sie jedenfalls nichts zu tun. Vielleicht mal mit kriegsähnlichen Zuständen. Aber sonst? Nennen wir es doch lieber Friedenssicherung.
Die Ukrainer kannten diese Welt bereits
Und wir hatten ja die Amerikaner, die erledigten das mit der Verteidigung ja schon. Überdies konnte man auf sie herabblicken, zuletzt wegen des fatalen Irak-Kriegs, der kein Problem löste, aber viele Leben kostete. Aber die taten ihren Dienst auch in Deutschland, boten uns Schutz unter dem atomaren Abwehrschirm. Aber wenn sie forderten, je nach Präsident in wechselnder Tonlage, Deutschland möge sich bitte an die NATO-Abmachung halten und zwei Prozent seiner Wirtschaftskraft für Verteidigung ausgeben, klang das so nach Kaltem Krieg. Die Bundeswehr, das waren doch Entwicklungshelfer in Uniform. Panzerschlachten in der norddeutschen Tiefebene? Come on! Die 80er-Jahre sind vorbei. Genießen wir die Friedensdividende. Putin ist doch nicht dumm, der spricht doch so gut Deutsch, der würde doch niemals…
Am 24. Februar wachten wir in einer anderen Welt auf, sagte Außenministerin Annalena Baerbock später. Man könnte auch sagen, in der Welt, in der die Ukraine bereits seit 2014 lebt(e). Die Bundesregierung steckte wenige Monate nach ihrem Antritt in einer Jahrhundertkrise und musste entscheiden, wie viel sie bereit war für die die hehren Werte zu geben, von denen an Sonntagen viel geredet wird - für Freiheit, Menschenrechte, Souveränität von Staaten. Dass es eine Menge ist, hat sie unter Beweis gestellt - und mit ihr die Menschen in diesem Land, von denen nur wenige protestieren und von denen die meisten diesen Weg an der Seite der Ukraine mitgehen.
Die Ukraine, die Europäer und fast die ganze Welt tasten sich im Nebel des Krieges voran. Der Kompass sind Freiheit, Demokratie, Menschenrechte. Ein Impfstoff wird uns diesmal nicht reichen. Aber vielleicht hilft ausgerechnet das, was Merkel immer gemacht hat: die Dinge vom Ende her denken. Vielleicht blicken wir irgendwann zurück und sehen, dass all dieser Einsatz sich gelohnt hat. Dass sich in der Ukraine das Gute durchgesetzt hat. Dass alle gelernt haben, wieder besser zu verstehen, was sie an Freiheit und Frieden haben. Vielleicht sogar, dass bald der Punkt kam, an dem sich auch in Russland etwas änderte. Damit es in der Rückschau nicht vollends sinnlos war, dass so viele in diesem Krieg starben.
Quelle: ntv.de