Politik

Weißer Staat vs. Putins Imperium "An der Front treffen Russlands Neonazis aufeinander"

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Im "Russischen Freiwilligenkorps" kämpfen ultrarechte Russen gegen Putins Truppen.

Im "Russischen Freiwilligenkorps" kämpfen ultrarechte Russen gegen Putins Truppen.

(Foto: picture alliance/dpa/AP)

15 Monate nach der Invasion russischer Truppen in der Ukraine ist der Krieg inzwischen in Russland angekommen. Die Region Belgorod steht unter Beschuss, pro-ukrainischen Kämpfern gelingt es immer wieder, die Grenze zu durchbrechen und auf das russische Gebiet vorzudringen. Der Historiker und Journalist Nikolay Mitrokhin sieht hinter den Aktionen eindeutig die ukrainische Armee. Die Angriffe sollen in Vorbereitung der ukrainischen Gegenoffensive eine große Rolle spielen. Die politische Bedeutung der auf Kiews Seite kämpfenden russischen Gruppen hält er jedoch für übertrieben. Nach seiner Einschätzung bestehen die Gruppierungen, die die Angriffe für sich beanspruchen und als "Befreier Russlands" dargestellt werden, aus einigen wenigen russischen Neonazis. In der Ukraine kämpften diese zum Teil gegen ihre ehemaligen Mitstreiter, sagt Mitrokhin im ntv.de-Interview.

ntv.de: Die aus russischen Kämpfern bestehende Legion "Freiheit Russlands" und das "Russische Freiwilligenkorps" (RDK) greifen immer wieder Ziele in der Region Belgorod an. Was sind das für Gruppen?

Nikolay Mitrokhin: Nun, aus meiner Sicht gibt es kein RDK und keine "Freiheit Russlands". Es gibt Einheiten der ukrainischen Armee. Das sind Strukturen, die sich zwar für russisch erklären, aber das sind Soldaten der ukrainischen Streitkräfte. Die Waffen, die Unterstützung etc. werden von der Ukraine bereitgestellt. Es ist also nicht möglich, über die Aktivitäten irgendwelcher unabhängigen Strukturen zu sprechen.

Nikolai Mitrochin ist Historiker und Journalist sowie assoziierter Wissenschaftler an der Forschungsstelle Osteuropa der Universität Bremen. Von 1999 bis 2005 arbeitete Mitrochin für das russische Menschenrechtszentrum Memorial.

Nikolai Mitrochin ist Historiker und Journalist sowie assoziierter Wissenschaftler an der Forschungsstelle Osteuropa der Universität Bremen. Von 1999 bis 2005 arbeitete Mitrochin für das russische Menschenrechtszentrum Memorial.

(Foto: privat)

Was ist das Ziel der Angriffe auf das russische Staatsgebiet?

Das Hauptziel dieser Aktionen besteht darin, Russland zu zwingen, die Reserven, die es an der Front hat, in die praktisch ungeschützten russischen Regionen an der Grenze zur Ukraine zu verschieben. Die Angriffe zeigen, dass die Grenze recht löchrig ist. So reichte eine kleine Gruppe mit zwei Panzern, zwölf gepanzerten Fahrzeugen und ebenso vielen Pick-ups aus, um den befestigten Grenzposten zu passieren, drei Dörfer zu besetzen und nach acht Kilometern Graiworon, das Verwaltungszentrum des Bezirks, zu erreichen. Wäre die Truppe größer gewesen, hätte sie auch die Stadt einnehmen können.

Und wenn die Lage so ist, dann muss Russland natürlich eine große Zahl von Truppen, die es vor allem an der Nordflanke der Front in der Region Luhansk in Reserve hatte, in die Grenzgebiete verlegen, um die Grenze vor weiteren Angriffen zu schützen. Die Aktionen haben eine große militärische Bedeutung. Die politische Bedeutung wird dagegen von der ukrainischen Seite bewusst übertrieben. Ich meine die Darstellung des RDK und der Legion "Freiheit Russlands" als Befreier Russland.

Wer sind diese Russen, die auf der Seite der Ukraine kämpfen?

Von denen, die identifiziert werden konnten, sind die meisten rechtsextreme Russen, die ihre neonazistischen Ansichten in der Vergangenheit bereits mehrmals demonstriert haben. Denis Kapustin (Gründer des RDK - Anm. d. Red.) zum Beispiel ist ein in ganz Europa bekannter Neonazi. Oder auch Alexej Levkin, der an dem Angriff auf Graiworon beteiligt war: Er ist der Autor einer Reihe von Nazi-Texten und Gründer der größten Neonazi-Community auf VKontakte (Russisches Facebook-Pendant). Er war Mitglied einer Bande, die in den 2000er Jahren drei Menschen ermordet hat. Dem Gefängnis entkam er, indem er vor Gericht für geisteskrank erklärt und in die Psychiatrie eingewiesen wurde. 2018 wurde er wegen der Gründung einer extremistischen Gruppe angeklagt - in Abwesenheit, weil er sich bereits ins Ausland abgesetzt hatte. Kämpfer des RDK sind Leute, die vor den langen Strafen, die ihnen in Russland wegen schwerer Hassverbrechen drohten, in die Ukraine geflüchtet waren.

Der zweite Teil der gegen Putins Truppen kämpfenden Russen sind Menschen, die bereits vor dem Krieg aus nicht-politischen Gründen in der Ukraine lebten. Im Übrigen gibt es so gut wie gar keine Menschen, die nach der Invasion eigens aus Russland in die Ukraine gekommen sind, um dort an den Kampfhandlungen auf ukrainischer Seite teilzunehmen. Ich kenne nur ein einziges Beispiel.

Warum sind es so wenige?

Da gibt es organisatorische Schwierigkeiten. Für Russen, selbst für diejenigen, die in den Krieg ziehen wollen, ist es schwierig, überhaupt in die Länder des Schengen-Abkommens einzureisen. Und selbst wenn sie es schaffen, werden sie dann an der ukrainischen Grenze abgewiesen. Sie müssen eine Art Empfehlung vorlegen, sich zahlreichen Kontrollen unterziehen und so weiter. Es handelt sich um einen sehr komplizierten Prozess.

Kann man sagen, dass die politisch eher neutralen Russen, die bereits in der Ukraine gelebt haben, in der Legion "Freiheit Russlands" kämpfen, während die Ultrarechten im RDK sind?

Nein, das einzige Mitglied der Legion, dessen Identität geklärt ist, ist "Caesar", er ist der Anführer der Gruppe. Früher war er Ausbilder in einer ultranationalistisch-monarchistischen Organisation in St. Petersburg, die sich "Russische Reichsbewegung" nennt und einen militärischen Arm namens "Reichslegion" hat. "Caesar" hat diese "Reichslegion" im Grunde genommen als Legion "Freiheit Russlands" reproduziert. Die "Reichslegion" hatte in St. Petersburg ein offiziell registriertes Zentrum namens "Patriot", in dem in den 2010er Jahren Rechtsextremisten, darunter auch Dutzende Europäer, ausgebildet wurden. Und jetzt wird ein Mann mit einem solchen Hintergrund als Befreier Russlands dargestellt.

Die "Russische Reichsbewegung" kämpft doch auf der Seite Russlands, "Caesar" aber auf der der Ukraine. Warum?

Ja, sie kämpfen seit 2014 im Donbass. "Caesar" erklärte aber in einem Interview, er habe damals erkannt, dass seine ultrarechten Ansichten zu Russland im Widerspruch zu denen der "Reichsbewegung" stehen. Deshalb habe er angeblich das Land verlassen, um die Ukraine zu unterstützen. Aber das sind nur seine Worte. Was seine echte Motivation ist, wissen wir nicht. Die Erfahrung mit anderen Rechtsextremisten zeigt aber: Sie flohen in die Ukraine, wenn gegen sie ein Strafverfahren eingeleitet wurde oder sie kurz davor standen.

Die einen russischen Ultrarechten kämpfen für die Ukraine, die anderen für Putin. Was wollen sie denn überhaupt?

Nun, im Grunde genommen wollen die Rechtsextremen einen "weißen" Staat gründen. Das RDK hat diese Woche ein Manifest herausgegeben, in dem es heißt, es kämpfe für einen "russischen Nationalstaat", in dem das Land denen gehören würde, "die auf ihm geboren sind", und nur "Blut, Fähigkeiten und persönliche Leistungen" zählen würden. Das widerspricht dem russischen imperialen Projekt, das von Putin und der gesamten Staatsmaschinerie unterstützt wird: Dass nämlich Russland der stärkste Staat der Welt werden, aber eben multiethnisch bleiben soll.

Die RDK-Mitglieder sind Befürworter der "Rassentrennung". Das heißt, sie sind bereit, sich mit einem kleineren Staat zufriedenzugeben, Hauptsache dort würde eine hundertprozentig weiße russische Bevölkerung leben. Die Ukraine nutzt diese russischen Nazis aktiv für den Kampf gegen Russland aus und lässt ihnen dafür eine relative Handlungsfreiheit. Das heißt, sie haben dort Waffen, ihre eigenen Clubs, Einkünfte etc. Sie haben dort Freiheiten, die sie in Russland nicht haben. Einige der Kämpfer, die aus Russland fliehen mussten, fühlen sich also in der Ukraine wohl.

Aber es gibt auch diejenigen, die sich in einem kleineren Konflikt mit dem russischen Staat befinden. Diese kämpfen im Donbass auf Russlands Seite. Auch sie haben in Russland eine Menge verschiedener Verbrechen begangen, in Donezk und Luhansk drückt man jedoch meist ein Auge zu. Daher sind die sogenannten Volksrepubliken ein Objekt der Begierde für sie, dort können sie sich in Ruhe austoben. Und so treffen sich diese beiden Seiten an der Front im Donbass und kämpfen gegeneinander.

Es ist ja genau das Narrativ, das die russische Propaganda verbreitet: Man kämpfe in der Ukraine gegen die Nazis.

Nein, die russische Propaganda verbreitet die Idee, dass die gesamte Ukraine ein Nazi-Staat ist. Dass Selenskyj und seine Umgebung Nazis sind. Wir sprechen aber von der Tatsache, dass die Ukraine die Neonazis für ihre eigenen Zwecke einsetzt, unter anderem für die Verteidigung. Die Tatsache, dass der Sicherheitsdienst der Ukraine zum Beispiel aktiv lokale Neonazigruppen einsetzt, um gegen prorussische politische Gegner zu kämpfen, wird auch von niemandem verschwiegen. Das heißt aber nicht, dass die ukrainische politische Klasse das alles uneingeschränkt unterstützt.

Die Legion "Freiheit Russland" hat vor kurzem bekanntgegeben, dass sie Kämpfer für einen Angriff auf Moskau rekrutiert, der nach einem Sieg der Ukraine stattfinden soll. Nehmen wir nun an, die Ukraine hat gewonnen. Wie schätzen Sie die Chancen der rechtsradikalen Nationalisten ein, in Moskau an die Macht zu kommen?

Im Moment zählen die Legion und das RDK so wenige Kämpfer, dass sie alle an nur einem Tag sterben könnten. Daher haben sie natürlich keine Chance, etwas zu erreichen. Das Wichtigste für sie ist, die nächste Schlacht, den nächsten Einsatz zu überleben. Sie haben aber eine gut entwickelte PR-Strategie. Sie kennen sich sehr gut mit Medien aus und setzen sie effektiv ein, damit Journalisten ihre Geschichten aufgreifen. Sie haben, wie übrigens die russische politische Elite auch, erkannt, dass es ausreicht, krawallige Aussagen von sich zu geben, damit es weltweit die größten Medien aufgreifen. So wird der Anschein erweckt, dass die Bewegung als solche existiert. In der Praxis gibt es aber nur zwei sehr kleine Gruppen und ukrainische Strukturen, die hinter ihnen stehen.

Sie haben das Ziel erreicht: Seit zwei Wochen sprechen alle über sie. Obwohl man meines Erachtens eher über Auswirkungen dieser Aktionen auf das militärische Geschehen sprechen sollte. Um auf den Anfang unseres Gesprächs zurückzukommen: Wichtig ist hier, dass man die russische Verteidigung stark unter Druck setzt und zwingt, die Kräfte umzuverteilen. Dies wird die Gegenoffensive der ukrainischen Armee erleichtern. Das ist der Hauptgrund für diese Aktivitäten.

Mit Nikolay Mitrokhin sprach Uladzimir Zhyhachou

Quelle: ntv.de

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