Traditioneller Pragmatismus "Belgier werden sich durchwurschteln"
14.06.2010, 16:06 UhrDer Politologe und Belgien-Experte Chardon hat auch nach der Wahl viel Vertrauen in die Belgier. Flamen und Wallonen sind seiner Meinung nach die Meister des kompliziertes Kompromisses. Zudem sind die Szenarien für ein Danach alles andere als schlüssig.
n-tv.de: Das Wahlergebnis in Belgien könnte in letzter Konsequenz dazu führen, dass der Staat Belgien aufhört zu existieren. Wie ernst muss man diese Ideen der N-VA nehmen?
Matthias Chardon: Das ist ganz klar das politische Programm von Bart De Wever. Die Entwicklung der letzten Jahre hat gezeigt, dass diese Ideen immer Platz im politischen Raum einnehmen. Aber er kann sie nicht ohne die Hilfe anderer Parteien umsetzen. Deshalb ist die entscheidende Frage, ob er dafür Verbündete findet.
Warum ist das politische System in Belgien so kompliziert, anderswo funktionieren föderale Strukturen ja auch?
Auf den ersten Blick ist das ein Sprachenstreit, aber im Hintergrund liegt ein starker sozio-ökonomischer Konflikt. In der Vergangenheit war Wallonien wesentlich wohlhabender als der flämische Norden. Die Konstellation hat sich in ihr Gegenteil verkehrt, Flandern ist immer wohlhabender geworden, Wallonien hat inzwischen eine doppelt so hohe Arbeitslosigkeit wie in Flandern. Diese makroökonomischen Daten sind ein Punkt. Belgien hat zudem das Problem, dass alle Konflikte - arm-reich, die Sprachen, die Religion, ländlich-städtisch - immer entlang der gleichen Grenze verlaufen. Dazu kommt, dass De Wever eine Strömung in Flandern repräsentiert, die sagt, in Flandern hat sich im Lauf der Jahrzehnte eine eigene Nation gebildet. Für diese Leute, die sich als eigenes Volk begreifen, fühlt sich Belgien nur noch als Zwangsjacke an. Es gibt große finanzielle Transfers, man kann politisch nichts durchsetzen, deshalb will diese Bewegung die Selbständigkeit.
Ist De Wever ein Nationalist?
Einerseits ja, andererseits ist er ein sehr auf Europa bezogener Politiker. Er spricht davon, dass sich Belgien zwischen Flandern und Europa in Luft auflösen müsse. Dann wäre Flandern wunderbar eingebettet in die europäischen Zusammenhänge. Insofern ist er kein dumpfer Nationalist, wie das vielleicht "Vlaams Belang" wäre, sondern er ist jemand, für den Europa ein wichtiger Baustein ist.
Aber er will schon Flandern als einen eigenen Nationalstaat?
Ja.
Können Sie sich das vorstellen?
Die Belgier haben immer Kompromisse gefunden, die zum Teil extrem kompliziert waren. Schon an der Staatsstruktur sieht man, wie kompliziert Belgien eigentlich ist. Ich habe erstmals 2007 gehört, dass sich die Belgier in einer ernsthaften Staatskrise fühlen. Aber die Belgier sind sehr pragmatisch. Sie werden versuchen, für die drängenden Probleme Lösungen zu finden, vor allem für den Wahlkreis Brüssel-Halle-Vilforde. Das ist ein wichtiger Punkt, der gelöst werden muss. Dazu kommt das Problem Brüssel, die Stadt liegt in Flandern, ist aber zu 85 Prozent frankophon. Die Brüsseler fühlen sich nicht als Flamen, die Wallonen empfinden Brüssel mindestens genauso als ihre Hauptstadt wie die Flamen, und für die Flamen ist Brüssel die historische Hauptstadt. Darauf hat noch keiner eine Antwort. Deshalb glaube ich, das Durchwurschteln wird weitergehen. Eigentlich bleibt allen nichts anderes übrig, als über die Gräben zu springen.
Wenn nicht, wird Flandern eigenständig und Wallonien kommt zu Frankreich.
Das stellt man sich so einfach vor. Flandern möchte bestimmt eigenständig werden, aber ob alle Wallonen zu Frankreich wollen, bezweifle ich. Die Frage ist auch, ob die Franzosen wollen, dass die Wallonen kommen. Die Wallonen sind in Frankreich zum Teil auch nicht so beliebt. Außerdem ist Wallonien ein Armenhaus, das von Finanztransfers abhängig wäre. Dann gibt es noch die Frage, was passiert mit den deutschsprachigen Belgiern?
Die dürfen wählen, Deutschland oder Frankreich.
Wenn die sich nach Deutschland eingliedern, werden sie ein Landkreis in Nordrhein-Westfalen, da haben sie nichts davon. Derzeit haben sie eine eigene Regierung und können Politik machen. Aber sie sind schon stark an Wallonien angeschlossen, ich glaube, da hat keiner Pläne in der Schublade.
König Albert II. muss ja einen Politiker mit der Regierungsbildung beauftragen. Wie nimmt das Land die Rolle des belgischen Königshauses wahr?
Geteilt, wie eigentlich alles. Im Süden ist die Unterstützung für das Königshaus sehr viel größer als im Norden. Diejenigen, die ein unabhängiges Flandern wollen, sehen im Königshaus ein Symbol für diese Zwangsjacke. Die hätten kein Problem damit, die Monarchie abzuschaffen, im Gegensatz zu vielen Wallonen. Grundsätzlich hat der König eine wichtige, aber sehr diskrete Rolle. Er äußert sich normalerweise nicht zu politischen Fragen. Aber er ist eine wichtige Schaltstelle. Er spricht nach einer Wahl mit allen wichtigen Politikern, idealerweise hat er danach den Überblick und kann beurteilen, wer am erfolgversprechendsten eine Regierung bilden kann.
Warum hat das 2007 und 2009 nicht mehr funktioniert?
Eine ganz wichtige Voraussetzung für diese Gespräche geht mehr und mehr verloren, die Diskretion. Inzwischen kommen Gesprächsinhalte in die Medien, das war vor 20 Jahren noch undenkbar. Da bröckelt der Respekt vor dem Königshaus. König Baudouin war sehr beliebt, sein Bruder Albert sollte eigentlich nicht König werden. Und Alberts Sohn, Philipp, wird recht unverhohlen die Fähigkeit abgesprochen, dass er ein guter König werden könnte. Das trägt zur Erosion des Ansehens des Königshauses bei.
Am 1. Juli übernimmt Belgien die EU-Ratspräsidentschaft, eine neue Regierung wird bis dahin kaum stehen. Könnte das ein Problem werden?
Ich glaube, die Präsidentschaft wird trotzdem klappen. Auf der Arbeitsebene sorgen die Regionen und Gemeinschaften, die sehr viele Kompetenzen haben, dafür, dass alles funktioniert. Die haben viel mehr zu sagen, als die deutschen Bundesländer, auch was die Auswärtigen Kontakte angeht. Da ist aufgeteilt, wer welches Thema für welchen Rat bearbeitet. Nur dort, wo die Kompetenz bei der Bundesregierung liegt, könnte es ein Problem geben. Aber dafür gibt es eine geschäftsführende Regierung unter Ministerpräsident Leterme.
Mit Matthias Chardon sprach Solveig Bach
Quelle: ntv.de