Politik

"Blut an seinen Händen"? Biden handelte entschieden, aber zu spät

Entscheidungen getroffen, sich dabei aber auf die falschen Ansichten verlassen: US-Präsident Joe Biden

Entscheidungen getroffen, sich dabei aber auf die falschen Ansichten verlassen: US-Präsident Joe Biden

(Foto: AP)

Das Enddatum der Rettungsmission am Kabuler Flughafen steht. Wohl nicht alle, die potenziell im Visier der Taliban sind, können aus Afghanistan ausgeflogen werden. Welche Verantwortung trägt US-Präsident Biden?

Die internationale Rettungsaktion am Flughafen von Kabul ist bald zu Ende: Bis zum 31. August garantieren die US-Truppen die Evakuierung von ausländischen Staatsbürgern und afghanischen Ortskräften, danach ist Schluss. Die Taliban haben das Datum als rote Linie definiert, die Verhandlungen mit den neuen alten Machthabern am Hindukusch haben nichts gebracht. Auch die Entsendung des CIA-Chefs, der mit den Taliban gesprochen haben soll, blieb fruchtlos. US-Präsident Joe Biden konnte beim G7-Gipfel Bundeskanzlerin Angela Merkel und den anderen Staats- und Regierungschefs praktisch nur noch den Status quo mitteilen.

Bleibt es dabei, müssen auch Deutschland und die anderen Länder ihre Evakuierungsmission beenden. So gut wie sicher wird es unmöglich sein, bis Ende des Monats alle Menschen auszufliegen, die dazu berechtigt wären, zumal der Abzug der eigenen Truppen und Gerätschaften bis dahin ebenfalls beendet sein muss. In den Vereinigten Staaten sind parteiübergreifend mindestens vier Fünftel der Bevölkerung dafür, die Ortskräfte aus Afghanistan wegzubringen. Entsprechend negativ bewerten die US-Amerikaner das Chaos, das sie derzeit aus der Ferne beobachten können - und damit auch Biden. Für den Demokraten ist es die erste außenpolitische Feuerprobe im Amt.

Spätestens seit die Taliban Kabul erobert haben wird darüber diskutiert, wer nun eigentlich verantwortlich ist für die Art und Weise des militärischen Abzugs. Biden? Dessen Berater? Die Geheimdienste? Oder vielleicht doch Ex-Präsident Donald Trump? Die Antwort wird sich wohl irgendwann darauf einpendeln, dass viele ihren Anteil haben. Biden aber traf die finalen Entscheidungen und dürfte deshalb hauptverantwortlich sein. Das sagt der Präsident sogar selbst. Wird er damit "Blut an seinen Händen" haben, wie es ein Abgeordneter der oppositionellen Republikaner ausdrückte?

Ausreisende besteigen auf dem Flugfeld von Kabul eine der Transportmaschinen.

Ausreisende besteigen auf dem Flugfeld von Kabul eine der Transportmaschinen.

(Foto: via REUTERS)

Ein kleiner Rückblick: Im Januar 2020 hatten die Taliban und Trumps Unterhändler sich in Katar über den Abzug der USA geeinigt, bis zum 1. Mai 2021 sollte er abgeschlossen sein. Als Biden ins Amt kam, befanden sich laut Regierungsangaben noch 2500 US-Soldaten in Afghanistan. Der Präsident verlängerte die Frist um vier Monate und kündigte an, die Truppen sollten vor dem 20. Jahrestag des Kriegsgrundes heimgekehrt sein, vor dem 11. September 2021. Anfang Juli legte Biden den 31. August als Stichtag fest. Ihm zufolge konnten die USA nicht mehr tun, um Afghanistan in eine stabile Demokratie zu verwandeln. Das Kriegsziel sei erfüllt worden, Afghanistan keine Basis des internationalen Terrorismus mehr.

Die US-Regierung hatte also mindestens ein halbes Jahr Zeit, um einen Abzug zu organisieren. Das gilt sowohl für das eigene Personal als auch die vielen Tausend einheimischen Helfer. Biden und andere Regierungsmitglieder erklärten mehrfach, es habe sich eben alles schneller entwickelt als vorhergesehen. "Höchst unwahrscheinlich" sei es, dass die Taliban das Land komplett übernehmen würden, hatte Biden noch Anfang Juli prognostiziert. Die afghanische Führung sei "eindeutig fähig, die Regierung fortzusetzen". Inzwischen sagt der US-Präsident, der frühere afghanische Amtskollege Präsident Aschraf Ghani habe seine Ratschläge über Verhandlungen mit den Taliban ebenfalls im Juli in den Wind geschlagen und sich auf sein Militär verlassen.

Was wusste Biden?

Sind der Präsident und sein Beraterstab mit den Warnungen ihrer eigenen Geheimdienste ähnlich umgegangen, haben sie sie bewusst ignoriert? Mit den vorliegenden Informationen der US-Regierung ist das nicht so einfach zu beantworten. Entsprechende Hinweise gab es in den ersten Monaten von Bidens Präsidentschaft. Ein Rückzug der US-Truppen könnte irgendwann einen totalen Zusammenbruch der afghanischen Armee nach sich ziehen, so die Warnungen. Aber die überwältigende Mehrheit der Experten sei eben der Ansicht gewesen, dass dies nicht schnell geschehe, heißt es. Angesichts der andauernden Kritik versuchte Biden noch am Sonntag zu beschwichtigen: "Die Evakuierung Tausender Menschen (...) ist hart und schmerzhaft, wann immer sie auch begonnen hätte (...), vor einem Monat oder in einem Monat", sagte er.

Die Taliban aber begannen schon ab Mai ihren offenen Eroberungsfeldzug. Die USA hielten sich aus den Kämpfen heraus, die von ihnen ausgerüstete und ausgebildete afghanische Armee allein sollte die Islamisten aufhalten. Bei ihren Kampfhandlungen hatten die Islamisten nicht nur das Militär, sondern auch deren zivile Mitarbeiter, Menschenrechtler, Journalisten und religiöse Anführer im Visier, wie die Vereinten Nationen Ende Juli berichteten. Dass dies geschah, muss den US-Geheimdiensten schon viel früher klar gewesen sein.

Bereits Anfang Juli gaben die US-Soldaten ihr Hauptquartier in Afghanistan auf. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion hoben sie von der Bagram Air Base rund 60 Kilometer nördlich von Kabul ab. Erst als die Taliban mehr als einen Monat später die Hauptstadt bereits eingekesselt hatte, wandte sich das US-Außenministerium mit einer Bitte an Hilfsorganisationen: Man brauche Listen mit Namen der Afghanen, die gerettet werden müssten. Das Weiße Haus drohte den Taliban zugleich mit einer militärischen Reaktion, sollten sie sich an US-Amerikanern im Land vergreifen. Der Flughafen, über den die Evakuierung läuft, werde mit Waffengewalt verteidigt.

Fast 6000 US-Soldaten sichern die Evakuierung.

Fast 6000 US-Soldaten sichern die Evakuierung.

(Foto: via REUTERS)

In letzter Minute handelte die US-Regierung also zwar entschieden, aber deutlich zu spät. Bezahlen dafür werden die Zurückgelassenen möglicherweise mit ihrem Leben, sollten die Berichte über Fahndungen der Taliban stimmen.

"Bekommen alle möglichen Ratschläge"

Ein Journalist hatte bereits am vergangenen Freitag eine der Schlüsselfragen gestellt: Bereits am 13. Juli, einen Monat vor der Machtübernahme, habe die US-Botschaft in Afghanistan in einer Nachricht an Washington vor dem rasanten Vormarsch der Taliban gewarnt. Warum sei nicht entschlossener gehandelt worden, um die Amerikaner aus dem Land zu holen? Biden antwortete: "Wir bekommen viele Nachrichten und alle möglichen Ratschläge. (...) Manche sagten, Kabul würde schneller fallen, andere, die Afghanen würden bis Ende des Jahres durchhalten." In der Mitteilung des Außenministeriums waren auch schnellere Evakuierungen empfohlen worden. Hilfsorganisationen hatten bereits seit Monaten darauf gedrängt.

Laut Biden und seiner Regierung kam die Blitzeroberung des zentralasiatischen Landes also für alle überraschend, traf die USA aber auch nicht völlig unvorbereitet. Mitarbeiter präsentieren dem US-Präsidenten in solchen außenpolitischen Situationen verschiedene Szenarien und geben auf Basis von Geheimdienstinformationen und der Ministerien eine Einschätzung ab, wie wahrscheinlich sie sind. Laut US-Regierung ein Beleg dafür, dass intern die aktuelle Situation dazu gehörte, waren die Tausenden US-Soldaten, die in der Region in Bereitschaft waren und derzeit zur Sicherung des Flughafens eingesetzt sind.

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Auch wenn die derzeitige Situation chaotisch ist und Biden unter Druck steht: Er macht es anders als sein Amtsvorgänger. Während Trump bei fast jeder Krise Mitarbeiter austauschte, stellt sich der Demokrat öffentlich vor sie. Mehrfach betonte er, die Art des Abzugs sei allein seine Entscheidung gewesen. Die Schuld schiebt seine Regierung dennoch ein Stück weit von sich, indem sie die Afghanen indirekt der Feigheit bezichtigt. Die afghanischen Sicherheitskräfte hätten schlussendlich entschieden, "nicht für Kabul und nicht für das Land zu kämpfen", sagte der Nationale Sicherheitsberater des Weißen Hauses, Jake Sullivan.

Entsprechend schlägt die Situation in Afghanistan auf Bidens Umfragewerte durch. Noch nie seit dessen Amtsantritt im Januar sagten so wenige US-Amerikaner, sie seien insgesamt mit der Arbeit ihres Präsidenten zufrieden: nur 47,6 Prozent. Unzufrieden zeigten sich 47 Prozent, praktisch genauso viele. Das ist der schlechteste Wert, den Biden in seiner Amtszeit bislang hatte. Noch wird die Zustimmung von Bidens Vorgehensweise in der Pandemie gestützt, damit sind nach einer Umfrage der Tageszeitung "USA Today" zufolge rund die Hälfte der Befragten einverstanden. Mit dem Abzug aus Afghanistan sind dies aber nur ein Viertel. Die Umfrage wurde am Wochenende durchgeführt, als die Taliban in Kabul einmarschierten und das Drama seinen Anfang nahm. Es ist noch nicht zu Ende.

Quelle: ntv.de

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