
Tichanowskaja mit ihren Unterstützern auf dem Pariser Platz.
(Foto: picture alliance/dpa)
Erstmals besucht die ins Exil verdrängte belarussische Oppositionsführerin Tichanowskaja die deutsche Hauptstadt. Auf einer Abendveranstaltung gewährt sie Einblicke in die Strategie der Opposition und erklärt, wie Deutschland und Europa im Kampf gegen Lukaschenko helfen können.
Berliner kennen das: Der auswärtige Besuch ruft einem mit seiner Begeisterung in Erinnerung, an welch besonderem Ort man zu leben gewohnt ist. Zwei Tage nach dem 30. Jahrestag der Wiedervereinigung beschert die belarussische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja mit ihrer allerersten Berlin-Visite den Deutschen ein ähnliches Ach-ja-Erlebnis: "Das Erste, was ich heute gemacht habe, war die Besichtigung des Ortes, an dem die Berliner Mauer stand", berichtet sie am Montagabend.
Zufällig habe sie ein Stück Mauer gesehen, das mit den Farben der belarussischen Oppositionsflagge bemalt war. "Das war so rührend und gleichzeitig so beflügelnd, ein Stück von Belarus zu sehen an der Berliner Mauer", sagt Tichanowskaja. Denn weder für sie und ihre Mitstreiter noch für das belarussische Volk ist selbstverständlich, wofür die Mauerreste heute stehen: Freiheit.
Die 38-Jährige lebt nach ihrer gescheiterten Spitzenkandidatur gegen den scheinbar ewigen Machthaber Alexander Lukaschenko im litauischen Exil. Sie kämpft aber weiter für ihr zentrales Wahlversprechen von freien Wahlen, das ihr Anfang August so großen Stimmenzuwachs beschert hatte, dass auch zuvor oppositionsferne Belarussen das offizielle Wahlergebnis als groben Unfug erkannten und seither gegen die dreiste Fälschung protestieren.
"Wir stehen auf dieser Mauer"
Die hinausgeworfene Tichanowskaja sammelt derweil Unterstützer im Ausland. Sie trifft an diesem Montag Exil-Belarussen vor dem Brandenburger Tor und tritt am Abend auf einer Podiumsdiskussion mit dem SPD-Außenpolitiker Nils Schmid auf. Die im Internet übertragene Debatte haben die Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde und der Thinktank Zentrum Liberale Moderne organisiert. Im Zentrum steht die Frage, wie Deutschland und die EU helfen können.
"Mehr als 26 Jahre lang leben wir unter dieser Diktatur, aber neulich sind wir aufgewacht", sagt Tichanowskaja und zieht eine Parallele zum Jahr der Deutschen Einheit. "Wir stehen auf dieser Mauer und warten, bis sie eingestürzt ist." Tichanowskaja lässt im weiteren Verlauf keinen Zweifel daran, dass es nur darum gehe, wann der Diktator fällt und nicht mehr darum, ob Lukaschenko überhaupt das Feld räumen muss.
Dem Regime sei nichts als das Mittel der Gewalt geblieben, mit dem es sich aber immer weiter unmöglich mache. Inzwischen kenne jeder im Land jemanden, der verhaftet oder misshandelt worden sei, sagt sie. Das treibe die Menschen auf die Straßen. "Sie werden diese Gewalt der Regierung nicht mehr verzeihen und nicht mehr vergessen", ist sie überzeugt.
Friedlicher Protest gegen gewaltsamen Staat
Das mag auch daran liegen, dass Tichanowskaja so ein Erlebnis unmittelbar teilt: Sie war selbst keine Politikerin, als ihr Mann und Vater ihrer Kinder verhaftet wurde. Der oppositionelle Blogger Sergej Tichanowski sitzt bis heute hinter Gittern und seine Frau nahm seinen Platz ein, mit einem ungeahnten Erfolg und einer schauderhaften Reaktion Lukaschenkos: Die Opposition zählt 13.000 Verhaftungen in den vergangenen Monaten, Hunderte von Sicherheitskräften misshandelte Demonstranten sowie fünf Todesopfer.
"Die ganze Gewalt während dieser Proteste geht nur von der Seite des Staates aus", erklärt Tichanowskaja. Es ist ihr wichtig, das im Ausland zu betonen: dass sich die Opposition auf strikte Gewaltfreiheit festgelegt hat, in der Hoffnung, den Staat zu einem Dialog bewegen zu können. Ebenso wichtig ist ihr, dass dieser Konflikt nichts mit den geopolitischen Überlegungen in Moskau und Brüssel zu tun hat: "Das ist keine pro-russische Revolution, das ist keine anti-russische Revolution", sagt Tichanowskaja. "Diese Revolution ist eine demokratische."
Der Nationale Koordinierungsrat, der alle Oppositionsbewegungen vertreten will, habe aber bisher "kein einziges Signal bekommen, dass der Staat bereit wäre, diesen Dialog mit den Belarussen aufzunehmen", räumt sie ein. Ohne Hilfe von außen werde es wohl nicht gehen. "Wir schlagen vor, als Plattform die OSZE zu nehmen." Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa kann am ehesten als neutraler Makler auftreten, wenn Minsk und Moskau die Proteste als westlich inszeniert zu diffamieren versuchen. Tichanowskaja sagt: "Wir verdienen es, unter normalen Bedingungen zu leben. Wir verdienen Respekt, wir verdienen Liebe."
Was Europa tun kann
Auffallend hält sie sich zurück mit Appellen an Russland, ohne dessen wirtschaftliche Hilfe und aktive Unterstützung bei der Repression des Protests Lukaschenko längst aus dem Amt wäre. An Deutschland und die EU hingegen richtet sie klare Forderungen: Noch mehr Unterstützer des Regimes sollten auf die EU-Sanktionsliste geschrieben werden. Wer sich dort wiederfindet, darf weder in die EU einreisen noch hat er Zugriff auf sein in der EU angelegtes Vermögen.
Zudem fordert Tichanowskaja bessere Fluchtmöglichkeiten für Oppositionelle durch Visa-Erleichterungen und Stipendien für Studenten, die wegen ihrer Teilnahme an Protesten ihre Studienplätze verlieren. Folteropfer und Traumatisierte bräuchten Behandlungen. Inhaftierte seien auf Prozesskostenhilfe angewiesen, wie sie die Bürgerrechtsorganisation Wjasna organisiert.
Zudem stimmt Tichanowskaja den Westen darauf ein, dass das am russischen Subventionstropf hängende Belarus nach einem Machtwechsel vor schweren wirtschaftlichen Problemen stehen werde. "Langfristig benötigen wir in erster Linie die finanzielle Hilfe", sagt sie.
Hoffen auf die Spaltung
Wann es so weit sein wird? Unklar. Noch sei keine Absetzbewegung unter den Eliten zu beobachten, die von Lukaschenko profitieren und ihn stützen. "Wir sehen jene Spaltung nicht, auf die wir gehofft haben." Der Apparat werde von "Angst" zusammengehalten. "Ich bin mir sicher, dass Lukaschenko einsam ist", sagt sie. "Er hat Angst vor dem Verrat aus den engsten Reihen."
Hoffnung machten ihr hingegen ausgerechnet die Sicherheitskräfte. Die seien zunehmend uneins über ihre Einsätze zur Niederschlagung der Proteste. "Wir sehen eine beginnende Spaltung", sagt Tichanowskaja. "Sobald die Sicherheitskräfte unsere Seite einnehmen, wird es ein hundertprozentiger Sieg sein."
Quelle: ntv.de