Der Kriegstag im Überblick Cherson-Besatzer fliehen vor ukrainischem Angriff – Putin verhängt Kriegsrecht
19.10.2022, 22:05 Uhr
Hält die Stellung: ukrainische Panzerbesatzung im Einsatz.
(Foto: picture alliance / AA)
Ungewöhnlich lautstark alarmieren die russischen Besatzer die Einwohner Chersons vor einem möglicherweise bevorstehenden ukrainischen Angriff. Während Kiews Armee dazu schweigt, nutzt Kremlchef Putin die angespannte Lage der Kreml-Truppen, um das Kriegsrecht zu verhängen. Belarus beginnt mit Musterungen seiner wehrfähigen Bürger. Der 238. Kriegstag im Überblick.
Putin verhängt Kriegsrecht in besetzten Gebieten
Russlands Präsident Wladimir Putin hat in den von Moskau annektierten Gebieten in der Ukraine das Kriegsrecht verhängt. "Ich habe ein Dekret zur Einführung des Kriegsrechts in diesen vier Teilen der Russischen Föderation unterzeichnet", sagte Putin während einer im Fernsehen übertragenen Sitzung des russischen Sicherheitsrats. Das russische Kriegsrecht ermöglicht unter anderem eine Verstärkung der Streitkräfte, Ausgangssperren, Bewegungseinschränkungen, Zensur und die Internierung ausländischer Staatsbürger.
Das Dekret gibt zudem den Behörden in den russischen Grenzregionen und auf der 2014 annektierten Krim mehr Machtbefugnisse. Putins Ankündigung erfolgte vor dem Hintergrund des Vorrückens der ukrainischen Truppen in von Moskau kontrollierten Gebieten der Ukraine - unter anderem in der Region Cherson.
Kiew: Lizenz zu Plünderungen
Die ukrainische Regierung reagierte gelassen auf die jüngsten Schritte Putins. Präsidentenberater Mychailo Podoljak erklärte: "Das von Russland verhängte Kriegsrecht in besetzten Gebieten bedeutet nichts weiter als eine Pseudo-Legitimierung für die Plünderung ukrainischen Eigentums." Für die Ukraine ändere dies nichts. "Wir werden mit der Befreiung und Beendigung der Besetzung weitermachen", sagte Podoljak.
Besatzer "evakuieren" Bewohner von Cherson
Zeitgleich mit Putins Ansprache begann die pro-russische Verwaltung angesichts der vorrückenden ukrainischen Truppen mit ihrem Rückzug aus der südukrainischen Stadt Cherson sowie mit der Evakuierung von Zivilisten. Der pro-russische Verwaltungschef der Region Cherson, Wladimir Saldo, sagte dem russischen Sender Rossija 24: "Ab heute werden alle Regierungsstrukturen der Stadt, die zivile und militärische Verwaltung, alle Ministerien, an das linke Flussufer des Dnipro verlegt."
Die Stadt Cherson mit ihren einstmals 280.000 Einwohnern liegt in der Nähe der von Moskau annektierten Halbinsel Krim und war die erste größere ukrainische Stadt, die nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs am 24. Februar von russischen Streitkräften besetzt wurde. Ende September annektierte Moskau das Gebiet im Süden der Ukraine. Seit einigen Wochen ist es Ziel einer Gegenoffensive der ukrainischen Armee, die immer weiter vorrücken konnte. Örtliche pro-russische Behörden gaben an, über einen Zeitraum von sechs Tagen bis zu 60.000 Zivilisten aus Cherson evakuieren zu wollen. Nach Berichten der russischen Nachrichtenagentur RIA Nowosti erhielten örtliche Bewohner SMS, in denen sie dazu aufgefordert wurden, die Stadt zu verlassen, "bevor die ukrainische Armee mit der Bombardierung beginnt".
Kiew spricht von "Deportation" und "Propaganda-Show"
Kiew warf Russland vor, die Evakuierung komme einer "Deportation" gleich. Es sei Moskaus Absicht, "eine Art Panik in Cherson" zu schüren und eine "Propaganda-Show" zu kreieren, sagte Serhij Chlan, Berater des Regionalgouverneurs von Cherson, auf einer Pressekonferenz. Der ukrainische Präsidentenberater Andrij Jermak erklärte im Onlinedienst Telegram, ukrainische Kräfte "feuern nicht auf ukrainische Städte".
Von ukrainischer Seite gab es zum Frontgeschehen in Cherson keine Angaben. Militärexperten in London, Paris und Washington erwarten jedoch neue ukrainische Vorstöße. Womöglich, heißt es von den Geheimdiensten seit Tagen, bereitet Russland den Rückzug der eigenen militärischen Kräfte aus dem Raum Cherson vor. Die Aufgabe der russisch kontrollierten Gebiete westlich des Dnipro wäre ein weiterer spektakulärer Sieg der Ukrainer.
Sorge in Russland vor Grenzschließungen, Kreml wiegelt ab
Mit Blick auf den genauen Text des von Putin verhängten Kriegsrechts wiesen russische Experten darauf hin, dass davon im Grunde theoretisch alle Regionen Russlands in der einen oder anderen Weise betroffen sein könnten. Kremlsprecher Dmitri Peskow trat sogleich Befürchtungen entgegen, Russland werde jetzt seine Grenzen für die eigenen Bürger schließen. Das sei nicht geplant, sagte er der staatlichen Nachrichtenagentur Ria Nowosti. Auch Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin betonte, das Kriegsrecht in den vier annektierten Gebieten werde das Alltagsleben der Hauptstädter "derzeit" nicht beeinflussen.
Wagner-Söldner befestigen Front in Luhansk
In der ostukrainischen Region Luhansk arbeitet die russische Söldnergruppe Wagner eigenen Angaben zufolge an einer befestigten Verteidigungslinie. "Eine Befestigungsanlage wird entlang der Kontaktlinie gebaut", erklärte der Kreml-nahe Gründer der Gruppe, Geschäftsmann Jewgeni Prigoschin auf den Online-Kanälen seiner Firma Concord. Es handele sich um eine "mehrstufige und geschichtete Verteidigung", fügte er hinzu, ohne Details zu nennen.
Die russische Armee hatte am Dienstag zudem eigene Vorstöße gemeldet. Demnach haben die Streitkräfte in der Region Charkiw die Ortschaft Gorobiwka unweit der russischen Grenze zurückerobert. Es wäre die erste Eroberung einer Ortschaft seit der erfolgreichen Gegenoffensive der Ukraine in dem Gebiet.
Neue Drohnenangriffe auf Kiew: Steinmeier sagt Reise ab
Unterdessen versuchte Russland ukrainischen Angaben zufolge erneut, das Zentrum der Hauptstadt Kiew mit Raketen anzugreifen. Ukrainische Flugabwehrbatterien hätten "mehrere russische Raketen" über Kiew abgeschossen, erklärte Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko auf Telegram. Der Luftalarm sei noch nicht vorbei, die Luftabwehr sei "immer noch in Aktion", schrieb Klitschko. Aus Sicherheitsgründen verschob Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier kurzfristig eine Reise nach Kiew.
Seit Mitte September zählte die Ukraine den Abschuss von mehr als 200 iranischen Drohnen. Seit dem "ersten Abschuss einer Kamikaze-Drohne vom Typ Schahed 136 aus iranischer Produktion über ukrainischem Territorium am 13. September in Kupjansk" habe die Luftabwehr "223 Drohnen dieses Typs zerstört", teilte die ukrainische Armee bei Telegram mit.
Belarus beginnt mit Musterungen
Belarus hat nach eigenen Angaben begonnen, die militärische Tauglichkeit der Bürger zu prüfen. Obwohl Bürger zur Musterung vorgeladen worden seien, plane das mit Russland verbündete Land allerdings keine Mobilmachung, teilte das Verteidigungsministerium mit. "Die militärischen Registrierungs- und Einberufungsaktivitäten sind reine Routine und werden voraussichtlich bis Ende des Jahres abgeschlossen sein."
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Quelle: ntv.de, mau/AFP