"Sie haben das Land verkauft" Chiles Jugend begehrt auf
01.01.2012, 09:54 Uhr
In Valparaiso wird ein Student festgenommen.
(Foto: REUTERS)
Schon unter Diktator Pinochet galt Chile als Musterbeispiel für die positive Kraft der Privatisierung. Auch in den letzten Jahren wächst das Bruttoinlandsprodukt stetig. Doch viele Chilenen haben von dem Aufschwung nur wenig, nirgendwo auf der Welt ist Bildung teurer. In Santiago liefern sich die Unzufriedenen Scharmützel mit der Polizei.
Ein Pfiff ertönt, Santiago beginnt zu beben. Universidad de Chile hat gerade die "Copa Sudamericana" gewonnen, den südamerikanischen Fußballwettbewerb für Vereinsmannschaften, vergleichbar mit der Uefa Europa League. Fans von "La U" ziehen durch die Straßen, Autokorsos fahren durch das Zentrum und die Bezirke Bellavista und Providencia. Auch auf dem zentralen Plaza Italia versammeln sich die Anhänger. Ein junger Mann schreit in eine Kamera: "Grande la U, chúpalo Piñera!", eine unflätige Beleidigung für den Präsidenten im Moment der Emotionen. Fox News wird die Szene später in seinen Nachrichten zeigen. Ein Fauxpas, denn inhaltlich steht der US-Fernsehsender dem konservativen, marktliberalen Staatschef Sebastián Piñera nahe.
Auch im größten Jubel über den ersten Copa-Sudamericana-Titel einer chilenischen Mannschaft überhaupt vergessen die Anhänger eines nicht: Gemessen am durchschnittlichen Jahreseinkommen leben sie zwar im wohlhabendsten Land Südamerikas, aber die Schere zwischen Arm und Reich klafft weit auseinander. Viña del Mar etwa ist ein Urlaubsort für Bürger mit Geld, für Touristen, mit teuren Restaurants und Hotels. Doch auf dem Weg von Santiago an die Pazifikküste stehen zusammengezimmerte Hütten mit Wellblech, Pappe und allem, was billig ist und eine schützende Funktion erfüllen könnte.
Chile ist reich an Bodenschätzen, landschaftlich vielfältig, modernisiert. Trotzdem plagt die Regierung des Staates seit vielen Monaten ein Problem: Die junge Generation begehrt auf gegen das Prinzip des liberalen Marktes, der sämtliche Bereiche umfasst und für sie und ihre Eltern besonders die Finanzierung der Ausbildung zum Balanceakt macht. Oder schlicht zur Unmöglichkeit.
Kupfer als Exportschlager
Wer sich kein Studium leisten kann, aber Geld verdienen will, kann auch in die Atacamawüste im Norden des Landes gehen. Dort arbeiten die Menschen in den Minen so hart, dass sich das soziale Leben in die dunkle Tageszeit verschoben hat. Schlimmer noch: "Die Männer schreien, laufen betrunken auf der Straße herum. Hier wird nicht geschlafen", sagt Victoria, die in Copiapó gelebt hat. An ihrem ersten Tag in der Stadt am Rande der Wüste drang jemand in ihr Haus ein und wollte sie und ihr Baby töten. Der Einbrecher war auf der Suche nach Kokain. Heimisch wurde sie nie, auch nicht nach Jahren. Irgendwann verließ sie ihren Mann und zog nach Santiago.
Chile ist eine Exportwirtschaft, im Jahr 2010 waren rund 40 Prozent des Ausfuhrwertes Kupfer, oder Produkte daraus. Insgesamt machen die Bodenschätze gar über 60 Prozent der Außenbilanz aus. Trotz des immensen Arbeitspensums profitiert Chile aber nicht in dem Maße von seinen Bodenschätzen wie es könnte, sagen kritische Bürger. Viele Schürfrechte lägen bei ausländischen Firmen, die Verarbeitung der Rohstoffe finde außerhalb der Andenrepublik statt.
"Pinochet und die Chicago Boys haben Chile verkauft", sagt Juan, der zur letzten Generation gehört, die unter dem Diktator aufgewachsen ist. Die "Chicago Boys" privatisierten Ende der 1970er bis in die 1980er Jahre hinein das Land. Juans Heimat ist Valparaíso, wo auch Augusto Pinochet, der den Sozialisten Salvador Allende per Putsch 1973 stürzte, geboren wurde.
"Ineffektive Version der Vereinigten Staaten"
Fast alle staatlichen Unternehmen gingen unter Pinochets Herrschaft in Privatbesitz über. In Europa galt der General als Despot, in den Vereinigten Staaten als Sicherheit gegen die "Rote Gefahr". Es ist Ironie der Geschichte, dass der Milliardär Sebastián Piñera im Jahr 2009 der erste konservative Präsident Chiles seit Pinochets Sturz 1989 wurde. Sebastián ist Bruder von José Piñera, einer der von den Studenten verhassten "Chicago Boys". Die beiden studierten in den 1970er Jahren gemeinsam in Harvard. Danach privatisierte José als Arbeitsminister Pinochets erst das Rentensystem, später als Ressortchef für Bergbau die Förderung der Rohstoffreserven im Land. Inzwischen ist auch der Großteil der Schul- und Hochschulbildung privatisiert.
In den Supermärkten ist für Normalbürger zugleich vieles nicht erschwinglich. Auch das Benzin sei teurer geworden, sagt Juan. Ein Liter kostet derzeit umgerechnet etwa 1,25 Euro. In den 1980er Jahren hob die Militärregierung die Mineralölsteuer an, um das Verkehrsnetz zu modernisieren, erzählt er. Inzwischen sind die Autobahnen verkauft. Die Eigentümer sitzen in Spanien, Autobesitzer müssen Maut zahlen. Die Steuer ist geblieben. Die 100 Kilometer zwischen Santiago und Valparaíso kosten in Spitzenzeiten derzeit rund 5000 Pesos, umgerechnet acht Euro. Zur Einordnung: Das Durchschnittseinkommen der Chilenen lag im Jahr 2010 bei 750 Euro pro Monat.
Seit Jahren wächst das Bruttoinlandsprodukt, bei geringer Neuverschuldung des Staates und einer Inflation von unter zwei Prozent. Doch auch von dem gesamtwirtschaftlichen Aufschwung bekommen nach Meinung der Kritiker zu wenige Bevölkerungsschichten etwas mit. "Wir sind wie eine kleinere, ineffektivere Version der Vereinigten Staaten", sagt Antonio. Auch deshalb ist in der Millionenmetropole der politische Widerstand zum Alltag geworden. Antonio ist Dozent an einer privaten Universität, im südamerikanischen Sommer hat er nun drei Monate frei. Doch die Proteste gehen weiter.
"Kampf der ganzen Gesellschaft"
Am Gebäude der Universidad de Chile, an der Ost-West-Verkehrsachse der Hauptstadt, hängt ein riesiges Spruchband. Es mahnt die Vorbeifahrenden: "Der Kampf wird von der ganzen Gesellschaft geführt. Alles für eine unentgeltliche Bildung." In keinem Industrieland auf der Welt ist der Weg zum Abschluss in Relation zum Durchschnittseinkommen teurer. Studiengebühren sind normal, private Hochschulen werben auf riesigen elektronischen Tafeln um neue "Kunden".

Karikatur des Wettlaufs um Bildung. Wer zuerst auf dem Baum ist, hat gewonnen. Doch die Voraussetzungen sind unterschiedlich.
(Foto: Carsten Siebke)
An vielen anderen Bildungseinrichtungen der Hauptstadt haben Schüler aus Protest ihre Stühle aus den Lehrräumen geholt und über die Zäune gehängt. Während der Verkehr lärmt, liefern sich Schüler, Studenten und Wütende in den Seitenstraßen Scharmützel mit der Polizei. Vorbeifahrende drehen die Autoscheiben hoch. "Das Tränengas", erklärt Antonio. Die vermummten Protestierenden attackieren die gepanzerten Fahrzeuge der Polizei mit Steinen. Die Sicherheitskräfte reagieren - und treiben die Gruppe unter Einsatz eines Wasserwerfers auseinander.
Doch nicht nur in Santiago ist der Unmut ersichtlich. In Puerto Montt, einem touristischen Fixpunkt im Süden des Landes, solidarisieren sich die Lehrenden mit den Lernwilligen. "Keine Diskriminierung öffentlicher Bildung mehr!", fordert ein Spruchband am Gebäude einer Professorenvereinigung. Das Gebäude abseits des Hafens hat schon bessere Tage gesehen. Die Farbe ist abgeblättert, das Holz grau und verzogen.
Näher am Wasser, gegenüber des zentralen Busbahnhofs, steht eine städtische Schule. Der Wind pfeift durch die Lücken herausgefallener Fensterscheiben. Bis Anfang März findet hier kein Unterricht statt, aber bereits jetzt ist der Seewind kühl. Nebenan drängeln sich die Kunden und Straßenhändler vor der Filiale der bekannten Supermarktkette "Bigger". Die meisten von ihnen laufen nach ihrem Einkauf an der Schule vorbei - und damit auch den chilenischen Nationalflaggen, die von innen in noch intakte Scheiben geklebt sind. Das Rot darin ist komplett verblasst. Nicht aber das vom großen "U", das auf den Trikots von Universidad de Chile prangt. Dieses Rot ist dieser Tage überall zu sehen.
Quelle: ntv.de